Bei Kassel müssen sie tanken.
––„Soll ich mal fahren?“, fragt Mark.
––„Kennen Sie den Wagen?“, fragt Gregor zurück.
––„Ja, so ziemlich.“
––Gregor lächelt skeptisch. „Was heißt das? Sie haben ihn schon mal an der Kreuzung vorbeifahren gesehen?“
––„Ich versteh’ ’ne ganze Menge von Autos“, sagt Mark ungerührt.
––„Pass auf!“, erklärt Gregor. „Erster, zweiter, dritter, vierter Gang. Rückwärts. Hier sind die Scheibenwischer. Licht. Und das ist die Lichthupe.“
––„O. K.“, sagt Mark und steigt aus.
––Gregor steigt auch aus.
––Sie strecken die Beine und dehnen die Arme.
––Mark sieht Gregor zum ersten Mal im Stehen. „Ganz ordentlich für einen Kaufmann“, denkt er. „Sogar die Hose sitzt.“
––Gregor bekommt eine Quittung und geht rein, um zu zahlen.
––Der Tankwart wischt die Scheibe.
––„Dass das ja sauber wird!“, sagt Mark und setzt sich hinters Steuer.
––„Sieh zu, dass du nicht in ’n Dreck fährst“, brummt der Mann.
––„Sind Sie Hesse?“, fragt Mark. Er rückt sich den Rückspiegel zurecht.
––Der Tankwart antwortet nicht.
––Gregor kommt zurück und steckt ihm ein Trinkgeld zu.
––„Gib ihm nichts!“, ruft Mark. „Er hat gepöbelt.“
––Gregor lächelt entschuldigend.
––„Der Kleine ist so aufgeregt“, sagt er zu dem Mann. „Er darf zum ersten Mal in die Berge.“
––Der Tankwart streicht das Geld wortlos ein und geht zum nächsten Wagen.
––Gregor steigt ein. Sie lachen sich an.
––„Na, Bäcker!“, sagt Mark lauernd.
––„Na, Anhalter“, Gregor ist auch schnell. „Nun mal los!“
––Mark lässt den Wagen an. Vorsichtig geht er in den ersten Gang und gibt Gas. Aber er wechselt zu hastig in den zweiten. Ein grässliches Schnarren ist die Folge.
––„Mensch!“, brüllt Gregor, „pass doch auf!“
––Mark zuckt die Achseln. „Die Kupplung ist im Eimer“, sagt er. „Aber lass mal, das bring’ ich dir schon wieder in Ordnung.“
––Gregor ist sprachlos.
––Mark hält kurz, schießt auf die Autobahn und gibt Zunder.
––Der Lastwagen, der eben noch in bedrohliche Nähe gerückt ist, wird kleiner.
––„Bisschen knapp, was?“, fragt Gregor.
––„Entschuldigung“, sagt Mark. Er wechselt die Spur und geht auf 160.
––„Eigentlich wollt’ ich erst zum Mittagessen in der Schweiz sein“, bemerkt Gregor.
––Mark dämpft die Geschwindigkeit etwas. „Haben Sie Angst mit mir?“, fragt er stolz.
––Gregor zuckt die Achseln.
––„Weißt du, das ist eine Frage der Gewohnheit“, sagt er. „Ich habe eben dem Tod noch nie so nahe ins Auge gesehen.“
––Mark lacht und geht noch mehr runter mit dem Tempo.
––„So, nun kannst du dich erholen“, sagt er. „Komm, ich sing’ dir ein nettes Lied, und du schläfst ein bisschen.“
––„Du meinst, das kann ich riskieren?“, fragt Gregor.
––„Klar!“ Mark ist zuversichtlich.
––Gregor gähnt. „Na schön.“ Er lehnt seinen Kopf an die Seite und schließt die Augen.
––Mark fühlt sich fabelhaft. Er tritt das Gaspedal runter. „Wirklich ’ne urige Type“, denkt er und überholt einen Mercedes 600. „Backe, backe Kuchen.“

Gregor wacht auf vom Lärm quietschender Bremsen. Im selben Augenblick wird er mit Wucht nach vorn geschleudert. Blitzschnell klammert er sich an den Seitengriff.
––„Sieh dir das Schwein an!“, schreit Mark wütend.
––„Ja, aber doch möglichst hinter der Scheibe“, sagt Gregor verschlafen.
––Mark drückt wie verrückt auf die Hupe. „Plötzlich kommt der da hinter dem Lastwagen rausgeschossen. Ich denk’, ich spinne.“ Er ist ganz aufgebracht.
––„Und ich denke, du fährst zu schnell!“, sagt Gregor. Er atmet tief durch. „Mensch, hast du mir einen Schreck eingejagt.“
––„Iiich?“ Marks Stimme dehnt sich empört.
––Gregor will sich auf keine Streiterei einlassen.
––„Wo sind wir denn überhaupt?“, fragt er.
––„Kurz hinter Frankfurt“, sagt Mark. „Jetzt brauch’ ich erst mal ’ne Zigarette.“
––Gregor holt zwei Zigaretten raus, zündet sie an und gibt Mark eine.
––„Danke!“ Mark zieht den Rauch tief ein und schüttelt den Kopf. „So was hab’ ich noch nicht erlebt.“
––„Passiert beim Fliegen auch selten“, sagt Gregor.
––„Ja, und zu Fuß nennt man es ‚anbändeln‘ und sagt: ‚Verzeihung!‘“ Mark fährt nur noch 120.
––„Wenigstens ein Vorteil“, denkt Gregor. Er lehnt sich zurück und macht die Augen wieder zu.
––„Wenn ich morgen früh von Basel aus zurückfahre, kann ich abends in Hamburg sein“, denkt er. „Ziemlich anstrengend.“ Er seufzt. „Wahrscheinlich bring’ ich ihn ja doch bis Lugano. Oder setz’ ich ihn morgen früh ab? Eins steht fest: Ich kann nie am Montag im Geschäft sein. – Urlaub. Eine Woche Urlaub in Lugano. Geht das? Ich könnte Frau Steckel von irgendwo aus zu Hause anrufen. – Bis Dienstag schaff’ ich es bestimmt, zurück zu sein. Oder morgen früh von Chiasso mit dem Autozug. Alles ziemlich komisch. Aber was soll ich mir mein Abenteuer mit Grübeln verderben: Abwarten! Pläne sind dazu da, um über den Haufen geworfen zu werden. Irgendwo werd’ ich schon landen. Vielleicht im Irrenhaus. Aber wahrscheinlich erst mal im Straßengraben.“

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: studioloco (Mann re.), Roman Samborskyi (Mann li.), Meranda19 (Noten), Richard Peterson (Zapfpistole) und Unsplash: Jennifer Latuperisa Andresen (Straße), Julian Hochgesang (Auto) | James Bowyer (Tacho)

Hanno Rinke Rundbrief

34 Kommentare zu “2.03 | Rollentausch

      1. Dabei versteht er sogar eine ganze Menge von Autos. Ich musste auch lachen.

    1. Ist es nicht erstaunlich, dass er ihn so schnell ans Lenkrad lässt? Das war ja so in etwas die einzige Kontrolle, die er über die Situation hatte.

      1. Er kann sie sich ja wieder zurückerobern, wenn es nötig wird. Also die Kontrolle. Vielleicht genießt er es ja auch ein Stück sich vom jungen Mark treiben zu lassen.

      2. Wenn es keine Unfallgefahr gibt und keine Entführung, sollte man als Beifahrer keine Ratschläge geben. Schafft man das nicht, fährt man besser selber.

  1. Ein Rollentausch tut ja oft gut. Wobei sich diese beiden Männer ähnlicher zu sein scheinen als man auf den ersten Metern noch gemeint hätte. Oder es verbindet sie zumindest etwas, dass sie einander ähnlich macht.

      1. Ich finde Mark erscheint nicht unbedingt als jemand, der die Situation ausnutzt. Er ist zwar keck aber nicht unverschämt.

    1. Mark sieht mit im Gegensatz zu Gregor so aus, als ob er das alles nicht zum ersten Mal macht. Also diese Mitfahrerei, natürlich nicht der Ausflug in die Berge.

      1. Allein, dass er seine Pläne Hals über Kopf über den Haufen wirft und mit dem Jungen bis nach Lugano fährt, ist ja etwas Neues für ihn. Scheint nicht als hätte er so etwas schon einmal getan.

    1. Gregor ist doch sehr anpassungsfähig. Die meisten anderen hätten Mark erst gar nicht ins Auto gelassen oder ihn an der nächsten Ausfahrt wieder rausgeschmissen. Ich finde Gregor schlägt sich ganz gut.

  2. Eine Woche Lugano klingt gut. Das lässt auch viel mehr Zeit für die weitere Entwicklung der Geschichte. Also jedenfalls wenn die zwei bis dahin zusammenbleiben.

      1. Wobei sich ja noch herausstellen muss ob es sich lohnt die Pläne so völlig über den Haufen zu werfen. Wer sich zu sehr von seiner Lust treiben lässt, bereut ja auch gerne im Nachhinein.

      2. Irgendwann ist ja vielleicht auch für Gregor die Zeit der Rongelblumen vorbei…

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