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1.2 | Auch nichts Besonderes
Der Brief war fertig.
––Im Netz: War er die Spinne oder die Fliege?
Sie zog die Blätter heraus, entfernte das Kohlepapier und legte den Brief und die Kopien in die Unterschriftenmappe, dann spannte sie den nächsten Bogen ein.
––Augen zu, einfach abschalten und losschießen.
Während sie die Notiz herunterhämmerte, beruhigte sie sich allmählich.
––Er schob die Tasse an die Fensterbank und hielt den Kopf unter den Wasserhahn: Morgenwäsche.
Es war ein dummer Streich gewesen, albern, aber ohne Folgen.
––Er trocknete sich den Kopf ab und entschloss sich plötzlich, seine Zähne zu putzen.
Die Arbeit ging ihr flott von der Hand.
––Zur Feier des Tages … Er spuckte aus.
Mit ruhiger Stimme beantwortete sie eine telefonische Anfrage.
––Er prüfte sein Gesicht im Spiegel.
Sie nahm sich die Reiseabrechnung vor, die sie für ihren Chef zu machen hatte.
––Tief im Innern wusste er, dass er eitel war.
Eine Quittung fehlte.
––Luxus, sich morgens die Zähne zu putzen.
Sie schrieb einen Ersatzbeleg.
––Er packte seinen Kram zusammen, zog sich seine Jacke über und ging zur S-Bahn.
„An der See möchte ich jetzt sein“, dachte sie, „die reine, salzige Luft, der bittere Geschmack des Meeres …“
––Am Bahnhof kaufte er sich eine Zeitung.
Sie erschrak.
––Langsam ging er die Treppen rauf zum Bahnsteig.
Sie hatte die Abrechnung fertig und legte die notwendigen Papiere in die Unterschriftenmappe zu den Briefen und Notizen.
––Er setzte sich auf eine Bank und las.
Sie tippte ein Telegramm, in dem sie Umsatzzahlen anforderte.
––Der Zug kam.
Sie brachte das Telegramm zur Annahmestelle.
––Er stieg ein, setzte sich ans Fenster und zündete sich eine Zigarette an.
Auf dem Rückweg traf sie eine Kollegin, mit der sie sich im Flur unterhielt.
––Er las weiter in der Zeitung.
Sie waren über das Fernsehspiel vom Vorabend einer Meinung.
––Der Zug hielt am Dammtor; er faltete die Zeitung zusammen, drückte seine Zigarette aus und stieg auf den Bahnhof.
Als sie in ihr Zimmer zurückkam, läutete das Telefon.
––Er schlug den Kragen hoch und machte sich auf den Weg.
Hastig griff sie nach dem Hörer, aber es war schon zu spät.
––Er ging mit gesenktem Kopf.
Ärgerlich warf sie den Hörer auf die Gabel.
––„Am Meer müsste man sein, gerade jetzt.“
Die zweite Post kam, sie sortierte.
––Er ging durch die Schwingtür, gab seinen Mantel an der Garderobe ab und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock.
Nachdem sie ihrem Chef ein paar Briefe auf den Schreibtisch gelegt hatte, führte sie vier Telefongespräche, um Zahlenmaterial zusammenzutragen.
––Er ging ins Seminar, nickte einer Rothaarigen zu, die er flüchtig kannte, und holte sich die vier Bücher raus, die er brauchte.
Ihr Chef kam zurück, zufrieden: Die Unterredung war erfolgreich verlaufen.
––Er hatte seine Unterlagen zusammen, holte sein Ringbuch vor und begann zu lesen.
Sie sagte ihm, dass sie einen Termin zu drei Uhr ausgemacht hatte, er nickte und verlangte, die Akte Bräune zu sehen.
––Zwischendurch machte er sich ein paar Notizen.
Der Ordner war nicht da, weil der Vertriebschef ihn sich ausgeliehen hatte.
––Er kaute an seinem Kugelschreiber.
Sie nahm den Paternoster.
––„Vor allem Augen zu“, dachte er, „sonst geht es überhaupt nicht.“
Als sie durch das Großraumbüro der Vertriebsabteilung ging, spürte sie die missgünstigen Blicke.
––Hoffentlich kommt sie nicht.
Chefsekretärin, Kleider vom Jungfernstieg, eigenes Zimmer mit Übergardinen.
––Stinklangweilig, das kann man ja überhaupt nicht behalten.
Tippsen und Sachbearbeiter, ‚Nyltest‘-Hemden, halb fünf Dienstschluss: Feierabend!
––Er klappte das Buch zu und schlug die Parallelstelle in einem anderen Wälzer nach.
Der Vertriebschef machte Späßchen.
––Er las es dreimal, ohne den Sinn zu verstehen.
Lachend ging sie über den Gang, den Ordner unter dem Arm, quer durch das werkende Vertriebsheer.
––Er spürte, dass er sich nicht richtig konzentrieren konnte.
Eigentlich war es gar nicht so komisch, fand sie und lachte weiter.
––Er las es noch mal.
„Ameisen“, dachte sie, als sie wieder auf ihrem Flur war.
––Endlich begann er zu begreifen, was gemeint war.
Sie legte ihrem Chef die Akte vor.
––Warum muss man das bloß so kompliziert ausdrücken?
„Danke“, sagte er, „übrigens, ich will am Donnerstag und Freitag nach München.“
––Er schrieb sich ein paar Stichworte auf.
Sie bestellte eine Flugkarte und buchte im ‚Bayerischen Hof‘.
––Er kritzelte Männchen aufs Papier, Tapetengesichter.
Herr Wolff stürmte herein, er ging zu ihrem Chef ins Zimmer und knallte die Tür zu.
––Gesichter zeichnen konnte er mit Hingabe.
Herr Schmidt steckte den Kopf zur Tür herein.
––Besonders Nasen machten ihm Spaß.
„Der Chef ist besetzt“, sagte sie.
––Er konnte sich nicht vorstellen, wie das sein sollte, heute Abend.
Es summte, sie nahm den Hörer ab.
––Wahrscheinlich würde gar nichts passieren.
„Geben Sie mir Frankfurt!“, sagte ihr Chef.
––Sicher würde sie gar nicht kommen, sie hatte doch nur seine Wohnung als Treffpunkt haben wollen, um sich die Entscheidung offenzulassen.
Sie wählte die Nummer.
––Und wenn …
Der Ruf ging ab.
––Selbst dann noch war es nicht ausgeschlossen, dass alles harmlos verlief, was hieß überhaupt harmlos?
Das Mädchen in der Telefonzentrale meldete sich.
––Er atmete tief ein.
Sie verlangte den Gesprächspartner.
––Die Augen werde ich schließen müssen.
„Ich verbinde“, sagte sie und stellte durch.
––Mit geschlossenen Augen geht alles.
„Ich habe Frankfurt für Sie!“
––Einfach abdrücken.
„Frankfurt!“, wiederholte sie gereizt und drückte auf den Knopf.
––Eigentlich ist es ganz einfach.
Sie schüttelte den Kopf. „Trottel!“
––Vielleicht freu’ ich mich sogar drauf.
Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: Ljupco Smokovski (Mann mit Buch), kurhan (Frau li.), ESB Professional (Frau re.), PeJo (Stapel Bücher), bezikus (Schreibmaschine), autsawin uttisin (zerissenes Papier) | Africa Studio (Notizblock)
„Mit geschlossenen Augen geht alles“ muss ich mir merken. Kein blödes Credo.
Ob der Spruch auch noch gilt wenn man die Augen anschließend wieder öffnet?
Dann ist die Tat zumindest vollbracht, ohne dass sie einen – sofort – hinweggerafft hätte.
No risk no fun. Das Risiko muss man eingehen 😉
Risiko kann Spaß machen. Aber dann auch mit offenen Augen. Sonst verpasst man ja alles.
Es wäre schön, wenn einige Leser:innen sich beim allerletzten Satz der Erzählung an diesen Kommentar von Lukas erinnern würden.
Oh ok, das wird notiert!
Nichts besonderes aber trotzdem nicht ganz harmlos. Hmmm…
Ich habe das Gefühl, dass es nicht mehr lange harmlos bleibt. Schließlich soll es ja auch nicht bei den Ringelblumen bleiben.
Der Harm kommt allmählich.
Haha, eben genau wie zu erwarten!
Er ist ja auch schon im Netz. Dem Hinweis nach wahrscheinlich eher als Fliege.
Ich kann gar nicht genau sagen warum, aber über ‚Besonders Nasen machten ihm Spaß‘ musste ich sehr lachen.
Durch diesen konstanten Perspektivwechsel ergeben sich ja sogar einige solcher Momente, die einen schmunzeln lassen…
… ebenso viele, die einen verwirren. Aber das ist ja ohne Frage auch beabsichtigt.
Antwort: ja.
Haha! 😉 Wie könnte es anders sein.
Warum ist morgens die Zähne zu putzen Luxus? Wenn irgendein Körperteil regelmäßige Aufmerksamkeit benötigt, dann sind es doch gerade die Zähne.
Reden wir von vor oder nach dem Frühstück? Vorher wäre Luxus…
Man müsste den Hauptdarsteller fragen können 😉
Es charakterisiert ihn ebenso, wie klar ist, dass sie immer alles putzt, ob es dreckig ist oder nicht.
Erinnert mich an meine Mutter. Sie hatte auch über Jahre einen Putzzwang. Im Alter hat es sich zum Glück (hauptsächlich natürlich zum Glück für sie) ein wenig gelegt.
Ich liebe Sauberkeit. Besonders, wenn jemand anderes sie herstellt.
So geht es mir auch. Leider habe ich niemanden, der für mich sauber machen würde, und bin selbst relativ putzfaul. Nicht die beste Kombi um ehrlich zu sein.
Jetzt habe ich für meine Nachlässigkeit die Behinderten-Ausrede, aber früher waren es und ich auch nicht anders.
Man muss einfach auch immer entscheiden was einem wichtig ist und in was man bei Bedarf das Geld steckt. Bei mir war es die Putzhilfe und ich habe das bis heute nicht bereut. Zeit, Nerven … das ist mir die Investition allemal wert.
Einfach abdrücken?!? Moment mal…
Über den Satz bin ich auch gestolpert
Wenn ‚abdrücken‘ schlußendlich wirklich das bedeutet, was der Leser denkt, dann ist ‚er‘ wohl doch eher Spinne als Fliege. Oder drängt ihn jemand zu dem was er (möglicherweise) tut?
Um die Antwort muss ich mich vorerst drücken.
Das dachte ich mir schon. Heute geht es ja bestimmt schon wieder einen Schritt weiter…
Allerdings entwickeln sich die Dinge ja erst einmal. Bis zur Auflösung wird es wohl noch eine ganze Weile dauern. Heute kommt dann doch erstmal der dritte Teil der Reihe.