Es war kurz vor acht, und er war leicht betrunken.
––Sie war erschöpft nach Hause gekommen und hatte sich gleich hingelegt.
Ein Drittel der Whiskyflasche war ausgetrunken.
––Jetzt wachte sie auf.
Als ob er es nötig hatte, sich Mut zu machen!
––Sie sah auf die Uhr und erschrak.
Wenn es nicht reichen sollte, hatte er noch Gin und Tonic.
––Umso besser, dann war es ohnehin zu spät.
Er goss sich noch ein bisschen ein.
––Sie drehte sich auf die andere Seite: durchschlafen bis zum nächsten Morgen.
Das Buch, in dem er las, war langweilig: ein bemühter Weltverbesserungsroman.
––Wem war sie Rechenschaft schuldig?
Er sah auf die Uhr.
––Sie lebte, um zu tun, was sie wollte, solange es niemandem schadete.
Sie würde doch nicht kommen, er hatte es ja gleich gewusst.
––Menschen zum Gegenstand ihrer Triebbefriedigung herabwürdigen?
Er stand auf.
––Wenn sie es nicht anders wollten!
Er zog sich die Jacke an, er wollte rübergehen zu Peter.
––„Ich bin feige“, dachte sie, „nichts als feige.“
„Ein paar Minuten kann ich ja noch warten“, dachte er.
––Sie knipste das Licht an und stand auf.
Er nahm seine Notizen vom Vormittag zur Hand und setzte sich an seinen Schreibtisch.
––Sie zog das schlichte schwarze Kleid an, mit dem weißen Kragen.
Die Buchstaben tanzten ein wenig vor seinen Augen.
––„Ganz unnahbar“, dachte sie, „ich bin ja doch nicht fähig dazu.“
Trotzdem zwang er sich, mit der Ausarbeitung anzufangen.
––Sie schminkte sich und trug mehr Lippenstift auf als sonst.
Der Kugelschreiber schrieb nicht mehr richtig.
––„Wenn schon, denn schon“, dachte sie, „wie ich mir das so vorstelle!“
Er griff in die Schublade und wühlte herum.
––Sie betrachtete sich im Spiegel, aber ihr fehlten die Maßstäbe, um sich mit den Augen zu sehen, die sie gebraucht hätte.
Er konnte keinen anderen Kugelschreiber finden.
––Sie lächelte ihrem Spiegelbild betörend zu und dachte: „Frustrierte Ziege!“
„Scheiße“, dachte er erleichtert.
––Kurz entschlossen bestellte sie eine Taxe.
Er griff wieder nach dem Buch und warf sich aufs Bett.
––In ihrem Magen begann ein eisiges, aber nicht direkt unangenehmes Kribbeln.
Mühsam zog er sich das Glas ran, das in einiger Entfernung auf dem Boden stand.
––„Also gut, ich bin wahnsinnig“, dachte sie, „ich will mich unter allen Umständen lächerlich machen.“
„Ich krieg unter Garantie keinen hoch“, dachte er, „aber darauf kommt es ja auch nicht an.“
––Sie nahm ihre Handtasche und ging ohne Mantel auf die Straße.
„Augen zu und losballern.“
––Die Taxe kam, sie stieg ein und nannte die Adresse.
Sie soll kriegen, was sie verdient hat, was sie will.
––Häuser, Autos, Laternen glitten vorbei, Fenster, hinter denen gelacht wurde.
Er versuchte zu lesen.
––Oder geweint – sie war jetzt wie in Trance.
Er goss sich noch etwas Whisky ein.
––Es war nicht nur Angst, die ihr den Hals austrocknete, es war auch Erregung.
Er trank, verschluckte sich, hustete.
––„Rausspringen“, dachte sie, „eh’ es zu spät ist, warum bin ich so … so …?“
Er keuchte, das scharfe Zeug war ihm in die Nase gekommen.
––„Lieber Gott, lass mich sterben, bitte lass mich sterben!“
Tränen stiegen ihm in die Augen.
––Sie wusste, sie konnte nicht mehr zurück.
„Verdammt“, dachte er, „verdammtes Zeug!“
––Sie wusste plötzlich, es war ernst und wahr und unbarmherzig.
Er beruhigte sich langsam und japste.
––Es war nicht Spaß, sie konnte nicht anders.
Das Glas war umgekippt.
––„Also gut“, dachte sie, „aber dann auch richtig!“
Er ging und holte einen Lappen.
––Die Taxe hielt.
Sorgfältig wischte er den Whisky auf.
––Sie zahlte und stieg aus.
Er hörte eine Wagentür klappen.
––Sie sah am Haus hoch.
„O Gott!“, dachte er.
––„Wie entsetzlich“, dachte sie.
Er warf den Lappen unters Bett und lief zum Fenster.
––Sie öffnete die Haustür.
Er sah hinunter: Eine Taxe fuhr weg, sonst nichts.
––Ganz langsam begann sie den Aufstieg.
„Ein Irrtum“, dachte er, „ein Zufall.“
––Stufe für Stufe.
Er kratzte sich am Kopf und lief vor den Spiegel.
––„Ich werde ohnmächtig“, dachte sie, „ich bin tot.“
Sein Gesicht war fahl, aber das lag vielleicht an der Beleuchtung.
––Sie hatte das erste Stockwerk erreicht und blieb einen Augenblick stehen.
Er ging zurück ins Zimmer.
––Wenn ich ihn sehe, werde ich rennen, rennen, rennen.
Nervös drehte er das Glas zwischen seinen Fingern.
––Sie ging weiter wie eine Gelähmte, die träumt, dass sie ihre ersten Schritte macht.
„Sie wird nicht kommen, und ich werde sie nicht reinlassen“, dachte er.
––Die Stufen schaukelten ihr entgegen.
„Nimm dich zusammen!“, zwang er sich.
––Das Geländer ließ sich benutzen, ohne abzubrechen.
Er tastete unter sein Kopfkissen.
––Noch eine Stufe, noch eine Stufe.
Er gab sich einen Ruck, straffte sich.
––Sie war vor der Tür angelangt.
Er stand auf.
––„Lust durch Erniedrigung“, schoss es ihr durch den Kopf.
„Reine Zeitvergeudung“, dachte er, „ich geh’ jetzt zu Peter.“
––Alles in ihr starb ab.
Er ging zur Tür.
––Sie klingelte.
Er erstarrte.
––Sie konnte es nicht fassen.

Die Wellen brachen sich grell. Schneidend, blendend, tobend. Jedes Mal, wenn sich das Wasser überschlug, heulte es gepeitscht auf. Ein Blitz aus Gischt und Gewalt, gierig, gefräßig, ein Ziehen, Würgen. Aufgelöster Wirbel, der alles zerstört in tosender Wiederholung, wegspült, fortreißt, vernichtet. Abgründe klafft, Hügel türmt, Mahle, Schächte, Gräber.

Ein Vogel mit verklebten Flügeln. Er schwimmt erschöpft: auf den Kämmen, in den Tälern. Sein Flattern bleibt erfolglos. Einsam auf den Wellen, gegen die Wellen, die ihn tragen und überrollen.
Stumm kämpft er gegen die Bewegung an, fügt sich, lehnt sich auf, gibt nach. Schwimmt. Das Meer und der Himmel. Morgen liegt er am Strand.

Er stand immer noch reglos.
––Sie wartete ohne Hoffnung auf irgendetwas.
Er trat vor und drückte die Klinke.
––Sie sah, wie sich die Tür öffnete.
Er senkte den Kopf.
––Sie nahm nur Umrisse wahr.
Er trat zur Seite.
––Sie war in einem Flur.
„Bitte“, sagte er.
––Sie sagte: „Danke.“
Er stand in dem dunklen Raum, die Kerzen flackerten gefräßig.
––Sie stand ihm gegenüber und sog seinen Anblick in sich auf.
Er sah ihre Schultern.
––Plötzlich merkte sie, dass sie ihn an den Hüften berührte.
Aus irgendeinem Grund sah er nur ihre Schultern.
––Sie ließ sich fallen, kniete vor ihm, ganz dicht.
Ihre Schultern waren auf einmal heruntergefallen.
––Sie berührte seinen Hosenschlitz mit ihrem Mund.
Jetzt konnte er auch ihr Haar sehen.
––Sie spürte seinen Reißverschluss an ihren Zähnen, den Dorn.
Schönes Haar, zumindest bei Kerzenlicht.
––Sie riss daran, zerrte.
Ihre Nase: wie von einem Tapetengesicht.
––Sie griff hinein und holte ihn heraus, ganz rasch, ganz furchtlos, so wie sie Hühner ausnahm.
Er spürte ihre Hand wie eine prickelnde Betäubung.
––Sie richtete ihn auf ihr Gesicht, ohne Scheu, ohne Zögern.
Er erkannte das Signal, er drückte ab, fast automatisch.
––Und als ihr der warme Strahl ins Gesicht schoss, als sie ihn über den Hals in den Ausschnitt ihres Kleides rinnen fühlte, als sie den salzig-bitteren Geschmack im Mund spürte und seine Hand auf ihren Schultern, da war alles genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte – bis auf seinen Blick.
Er sah sie an, mit weit geöffneten Augen.

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: LightField Studios (Mann), ImageFlow (Frau von hinten), Vlad Teodor (Frau Spiegelbild), Krzysztof Bubel (Möwe), New Africa (Buch, Notizen, Lippenstift) | AlenKadr (Whiskyflasche), autsawin uttisin (Papier), rangizzz (Tür)

Hanno Rinke Rundbrief

36 Kommentare zu “1.6 | Ausgefallen!

  1. Beide nervös als ob es kein Morgen gübe. Und wahrscheinlich denken beide, dass der/die jeweils andere völlig abgebrüht ist.

      1. Und zumindest was SIE betrifft war es ja kein Spaß, sondern sie konnte nicht anders. So steht es oben.

      2. Dass Frauen so sexuell dargestellt werden finde ich nicht gut! Bei all ihrem Zögern hätte sie es nicht machen sollen.

      3. Wie wird sie denn dargestellt? Sie lebt ihre Sexualität aus. Was ist daran falsch?

      4. Das Kapitel wurde 1972 geschrieben. Ich hatte ein reales, völlig damenhaftes Vorbild. Mein geschwätziger Freund Pali hat diese Chef-Sekräterin später mit meinem Text konfrontiert. Ich war entsetzt. Sie soll völlig souverän, fast verständnissvoll reagiert haben. Sie ist jetzt über 80 und sieht aus wie 60. Wir haben diese Unterstellung nie erwähnt, und sie wird auch das hier nie lesen.

    1. Und trotzdem hat er ihr gleich ins Gesicht gespritzt. Ist ja gar nicht so selbstverständlich nach der Menge Alkohol.

      1. Hatte er den ganzen Whiskey denn am selben Tag getrunken? Ich habe den Überblick verloren über welchen Zeitraum sich die bisherigen Kapitel erstrecken.

      2. Das klingt vielleicht zu abgeklärt – aber genau für so etwas sind solche Dates doch da. Um Sachen auszuleben oder auszuprobieren, die man sich in anderem Rahmen nicht trauen würde. Ausgefallen aber genau richtig.

      3. Hmmm, ob ich mir deshalb per Zeitungsanzeige eine Golden Shower suchen muss? Ich bin noch nicht überzeugt.

      4. Muss nicht, aber immerhin kann – das ist für mich verstörend. Dabei weiß ich nicht: Bin ich zu prüde oder bloß zu wild auf das Unvorhergesehene?

    1. Fake News also? Dann wäre die Ringelblumen-Erzählung allerdings obsolet.
      Mir gefällt wie verunsichert beide vor dem Date sind … wie sie in den Spiegel schauen und sich Mut zureden. Am Ende sind wir doch alle weicher als wir uns und anderen vorspielen.

      1. Man muss Menschen, die ihr Glück in Sexdates suchen ja auch gar nicht als hart oder kühl ansehen. Im Gegenteil. Da geht es ja zumindest schon mal um die Suche nach der eigenen Ekstase. In wieweit es zudem zwischen den Akteuren funkelt kommt wohl auf die Chemie an.

      1. Oh ach so! Das ist natürlich nur konsequent. Schließlich geht man nach so einem One-Night-Stand (oder wie auch immer man die hier beschriebene Begegnung nennen möchte) ja auch schnell wieder getrennte Wege.

    1. Er war doch nur nervös. Ist ja bzgl. der Situation auch verständlich. Man verabredet sich nicht alle Tage mit einer erfolgreichen Geschäftsfrau zur Golden Shower.

      1. Eher selten. Mit FFP2-Maske ausgestattet wäre das aber sogar eine relativ Corona-taugliche Datingoption. Wenig Körperkontakt, volles Vergnügen.

      2. Der Vogel wird uns begleiten. Ob die Realisation der Empfangsbereitschaft ein gutes Gefühl hinterlässt, bleibt der Empfängerin (definitiv weiblich) und dem Leser (divers) überlassen.

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