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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei  —   Kapitel 2: Lift nach Lugano

2.02 | Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn

Sie sagen wieder lange Zeit nichts.

„Ist es Ihnen recht, wenn ich das Fenster aufmache?“, fragt Mark kurz vor Hannover. Es ist schon sehr heiß im Wagen.
––„Ja sicher.“ Gregor hat einen Entschluss gefasst. Er sieht dem Jungen zu, wie er das Fenster runterkurbelt: Das knappe weiße Hemd bringt den Oberkörper gut heraus: sehnig, fest, geschmeidig. Schlanker Hals mit wippendem Adamsapfel, dunkles, leicht gelocktes, dichtes Haar, sehr blaue Augen in einem klar gegliederten Gesicht.
Lange Nase (Kenner setzen die Länge der Nase mit dem Ausmaß anderer Körperteile in Relation). Ein hinreißendes Lachen, schon um der Zähne willen sehenswert. Ein paar Kräusellöckchen auf dem braunen Bauch, dort, wo oberhalb des breiten Gürtels ein Knopf des Hemdes offensteht. Harte Hände mit langen Fingern. (Kenner sehen auch in der Daumenlänge einen Hinweis. Selbst die Größe der Füße soll eine gewisse Rolle spielen. Kenner müssen es ja wissen.)
––Mark fühlt, dass Gregor ihn anstarrt. Bitte, soll er! Aber dann dreht Mark ganz plötzlich den Kopf nach links.
––Gregor sieht nach vorn. Ausgekochter Bursche, wahrscheinlich. Oder ein tollkühner Anfänger.

Autobahnkreuz Hannover-Ost.

Gregor nimmt die Abzweigung nach Köln/Berlin.
––„Halt! Das ist verkehrt!“, schreit Mark.
––Gregor fährt weiter.
––„Was machen Sie?!“ Mark hat sich erschrocken aufgerichtet. „Wo wollen Sie hin?“
––Gregor folgt dem Pfeil nach Berlin.
––„Was soll das?“ Mark ist wütend. „Ich will nicht nach Berlin.“
––Wieder eine Abzweigung: Hamburg/Kassel.
––Gregor reiht sich ein nach Hamburg.
––„Lassen Sie mich raus!“, sagt Mark, „ich nehm’ einen andern Lift.“
––Die Fahrbahn ist frei. Gregor gibt Gas. Das Autobahnkreuz liegt hinter ihnen. Sie fahren zurück, Richtung Hamburg.
––„Sie sollen mich rauslassen, verflucht noch mal!“, brüllt Mark.
––„Hier? Jetzt?“, fragt Gregor ruhig.
––Mark will ihm ins Steuer greifen.
––„Nimm die Finger weg!“, schreit Gregor. „Willst du uns umbringen?“
––Mark lehnt sich zurück. „An der nächsten Ausfahrt lassen Sie mich raus!“, sagt er fest.
––„Ich lade Sie ein, mit mir nach Travemünde zu kommen“, antwortet Gregor freundlich.
––„Hmm“, macht Mark, „und ich verzichte drauf.“
––Gregor lächelt verbindlich: „Seien Sie doch flexibel! Erst musste ich umdenken. Jetzt denken Sie um.“
––„Und ich sagte: Ich verzichte. Ich scheiß’ drauf, wenn Ihnen das mehr sagt!“, schreit Mark wütend.
––„Ja, das sagt mir alles“, brüllt Gregor. „Bei der nächsten Ausfahrt kehr’ ich Sie raus. Vielleicht finden Sie da einen Traktor, der Sie nach Celle bringt.“
––„Bitte“, Mark versucht es auf die sanfte Tour. „Tut mir leid. Ich will nach Lugano, Sie wollen nach Travemünde. Da lässt sich eben nichts machen. Wenn Sie mir gleich gesagt hätten, dass Sie an die Ostsee wollen, wär’ ich gar nicht erst eingestiegen.“
––Gregor ist erschrocken über sich. Er hat sich gehenlassen in seiner Enttäuschung.
––„Natürlich war es meine Schuld. Verzeihen Sie mir! Ich bring’ Sie zurück nach Hannover.“ In Kirchhorst geht er von der Autobahn, fährt über die Brücke und fädelt sich wieder ein: Richtung Hannover-Ost.
––Sie sitzen schweigend nebeneinander. Zweimal sieht Mark Gregor an, ein bisschen unsicher.
––Gregor starrt stur geradeaus.

Zum zweiten Mal Autobahnkreuz Hannover-Ost.

„Ich kann nicht“, denkt Gregor. Er fühlt sich unter Druck. „Ich kann ihn jetzt unmöglich aussteigen lassen.“ Und während er das denkt, fährt er schon durch.
––Mark sagt keinen Ton.

Ausfahrt Hannover-Anderten.

Gregor rauscht vorbei.
––Mark wendet den Kopf. „Und jetzt?“, fragt er verwirrt.
––Gregor zuckt die Achseln. „Nach Basel“, sagt er. Seine Stimme klingt etwas benommen.
––Mark sieht aus dem Fenster. „Sie sind ’n toller Typ“, sagt er nach einer Weile.
––Gregor antwortet nicht.

Autobahndreieck Hannover-Süd.

Ein Schild: Hannover rechts, Kassel/Frankfurt geradeaus.
––Gregor geht vom Gas. Er zögert. Als die Ausfahrt vorbeifliegt, ohne auf ihn zu warten, fühlt er sich überrumpelt. „Ich habe mich vergewaltigen lassen“, sagt er, halb spöttisch, halb nachdenklich.
––Mark strahlt ihn an: „Und ist das nicht herrlich?“

Göttingen.

Mark zeigt auf das Schild. „Da wohnt ’ne Tante von mir.“
––„Möchten Sie sie besuchen?“, fragt Gregor.
––„Nein danke, ich will Sie nicht aufhalten.“

Gregor zieht eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche.
––„Soll ich Ihnen eine anmachen?“, fragt Mark.
––„Ach ja, das wär’ nett. Rauchen Sie auch?“
––„Wenn ich darf, gern.“ Mark lächelt.
––„Idiot!“, denkt Gregor.
––Mark holt zwei Zigaretten raus und drückt auf den Anzünder. Er klemmt sich beide Zigaretten zwischen die Lippen und legt die Schachtel auf die Ablage über dem Armaturenbrett.
––Der Anzünder schnappt vor.
––Mark drückt dem Glimmstängel das glühende Ding auf und saugt.

„Bläst gut“, denkt Gregor und kriegt eine Zigarette zwischen die Lippen geschoben.
––„Danke – Mark!“ Er stößt den Rauch aus. „Ich heiße Gregor.
Gregor Sollendorf.“
––Mark zieht an seiner Zigarette.
––„Gregor ist gut“, sagt er. „Ich freu’ mich.“
––„Was machen Sie?“, fragt Gregor.
––„Meinen Sie meinen Job?“, fragt Mark.
––Gregor nickt.
––„Werbung“, sagt Mark. „Ich habe Grafiker gelernt und bin jetzt bei ’ner Agentur. – Und Sie?“
––Gregor zögert.
––„Ach bitte“, bettelt Mark, „seien Sie Designer oder Intendant oder Oberpostdirektor.“
––„Ich bin Bäcker“, sagt Gregor.
––„Auch nett. – Sicher ist Ihr Blätterteig vorzüglich. Wie geht das Geschäft?“
––„Es floriert“, antwortet Gregor. „Ich leite eine Großbäckerei.“
––„Fein!“ Mark ist begeistert. „Ich mag Brötchen viel lieber als Kartoffeln.“
––„Sehr schmeichelhaft. Dann schick’ ich Ihnen mal eins vorbei.“
––„Ach, haben Sie keinen Proviant mit?“, fragt Mark enttäuscht.
––Gregor sieht ihn schief von der Seite an. „Sie vergessen, dass ich die Reise etwas anders geplant hatte.“
––„Seien Sie bloß froh, dass Sie mich aufgegabelt haben“, sagt Mark. „So brauchen Sie die Fahrerei nach Basel nicht allein zu machen. Wir können uns abwechseln.“
––Gregor schluckt. „Haben Sie einen Führerschein?“
––Mark stippt etwas Asche in den Aschenbecher. „Sogar bei mir. Man kann nie wissen.“
––„Wie alt sind Sie eigentlich?“
––„Dreiundzwanzig.“
––Gregor ist erstaunt. „Oh, ich hätte Sie jünger geschätzt.“
––„Ich weiß, ich hab’ mich gut gehalten. Ich wirke noch sehr minderjährig.“
––„Die Jungen kann man heute gar nicht richtig einschätzen“, sagt Gregor. „Zwischen 18 und 25 sehen alle gleich aus.“
––Mark hebt den Finger. „Das kann böse Folgen haben!“
––„Für wen?“, fragt Gregor.
––„Für das knusprige Weißbrot“, antwortet Mark. „Und für den saftigen Apfelstrudel.“
––„Das ist der unverschämteste Bursche, der mir je begegnet ist“, denkt Gregor. „Ich versteh’ nicht, warum ich mir das gefallen lasse.“ Aber er versteht es recht gut.

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: Ollyy (Körper oben), studioloco (Kopf Mann oben), trekandshoot (Schild), Artsplav (Computer), Roman Samborskyi (Mann unten), Nataliia K (Brötchen) | Nata Bene (Apfelstrudel) | Beitragstitel „Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ nach ‚Autobahn‘ von Kraftwerk, 1974

Hanno Rinke Rundbrief

32 Kommentare zu “2.02 | Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn

      1. Eingespielt scheinen Gregor und Mark tatsächlich schon zu sein. Man meint ja fast die Beiden wären schon seit Ewigkeiten zusammen unterwegs.

  1. Er ist der unverschämteste Bursche, der einem je begegnet ist und genau der richtige für so eine Geschichte. Diese Kapitel machen mir enorm Spaß!

      1. Das tun sie bestimmt. Sonst wäre die gemeinsame Fahrt doch bestimmt nach dem ersten Kapitel wieder beendet worden.

  2. Fahr’n, fahr’n, fahr’n – und immer wieder eine neue Richtung. Ob sie es noch nach Lugano schaffen? Oder ob er den jungen Kerl vorher doch noch rausschmeißt?

    1. Ich glaube am Ende ist gar nicht so wichtig wohin es die Beiden treiben wird. Das Interessante wird ja eh auf dem Weg dorthin passieren. Nicht?

      1. Es passiert ja jetzt schon einiges. Also vielleicht noch nicht bzgl. der Handlung, aber immerhin sprachlich. Dieser Schlagabtausch den die Beiden sich liefern hat es doch schon in sich. Außerdem scheint Gregor wirklich alle seine Pläne für den Jungen über den Haufen zu werfen.

      2. Finde ich auch gut. Bisher ist es ja wirklich spaßig der Konversation der Beiden zu folgen.

  3. Ich glaube ich hätte spätestens in Hannover die Ausfahrt genommen und ihn abgesetzt. Man hat ja irgendwie im Gefühl, dass das Ganze nicht so richtig gut enden kann. Zumindest nicht für den Fahrer Gregor.

    1. Ich hätte ihn wohl gar nicht erst mitgenommen, aber für den Verlauf der Geschichte bin ich froh, dass Gregor es getan hat 😉

      1. Haha, nu ja, so richtig viele Happy Ends gab es bisher ja nicht. Also zumindest wenn ich mich da richtig erinnere. Oft bleibt einem ja doch nochmal der Mund offen stehen bzw. der Kloß im Halse stecken wenn unten ‚Ende‘ drunter steht.

  4. Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Teil und darauf zu erfahren was da weiter passiert. So unterhaltsam habe ich lange nicht gelesen!

      1. Funktioniert das so, dass wer andere professionell bewerben kann auch in der Eigenwerbung gut ist? Ich habe bisher nicht allzu viele Werbeleute kennengelernt. Nur einmal einen Graphic Designer, aber der war eher introvertiert und nerdig.

      2. Mittlerweile sind doch eh die meisten Jugendlichen durch jahrelanges Instagrammen trainiert. Wer da kein perfektes Selbstmarketing drauf hat, der hat schon den Anschluss verpasst.

      3. Was für ein Druck das ist, dass man als Kind schon so funktionieren muss. Das gab es in meiner Jugend nicht. Jedenfalls nciht in dieser Form.

    1. Beide lassen sich ja nicht so richtig aufhalten. Ob Sie jeweils das bekommen, worauf siie aus sind? Und was ist das eigentlich genau?

      1. Na, Gregor ist wohl auf Mark aus. Und worauf Mark aus ist scheint mir noch nicht so klar.

      2. Wir sind ja wohl auch erst am Anfang dieser Begegnung. Wäre ja fast schade, wenn nach 2 Kapiteln schon alles klar wäre. Da bräuchte man ja nicht wirklich weiter lesen.

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