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4.3 | Identitäten
Die Musik hatte ausgesetzt. Klatschen und der Lärm, den Fröhlichkeit verursacht, unverdaute Rückstände von Freude.
––‚Luxusschiff‘, dachte Anette, ‚Traumjacht, Musikdampfer, Fähre zur Unterwelt.‘ – „Ich habe keine Lust mehr“, sagte sie.
––Er riss den Kopf herum. „Wozu?“, fragte er scharf.
––„Ich habe keine Lust mehr, weiter zu spielen“, antwortete sie bestimmt.
––„Also, hör mal zu!“ Seine Stimme klang gereizt.
––„Ich bin deine Frau“, sagte sie fest. „Ich weiß ja, dass ich deine Frau bin.“ Sie sprang plötzlich auf und stürzte ihm in die Arme. Es war stürmisch und kalt geworden. Aber sie fühlte sich geborgen, weil jede Faser ihres Körpers seinen Körper spürte. „Verzeih mir! Bitte, bitte, verzeih mir!“, schluchzte sie. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen war. All die Aufregungen vorher. Ich wollte dich nicht quälen, wirklich nicht. Es war nicht, dass ich dich quälen wollte. Vielleicht war es ein Experiment, ein dummes, sinnloses, wie lange du zu mir hältst, wie sehr du mich liebst. Ganz dumm! Albern, lächerlich! Bitte verzeih mir, bitte! Du musst mir glauben, dass ich dir nicht wehtun wollte!“
––„Anette!“, er strich ihr übers Haar, „Anette, was hast du? Das ist doch alles Unsinn. Wir haben das doch nur gespielt, geübt. Aber wenn du es nicht durchstehen kannst, dann lassen wir es. Wir werden es auch so schaffen.“
––Sie riss sich los und starrte ihn an. „Diese Form der Rache ist billig“, sagte sie. „Das ist deiner nicht würdig. Es ist grausam und gemein. Vielleicht habe ich nichts anderes verdient, aber ich hatte mehr Format von dir erwartet.“
––Er lachte auf. Kurz und irr.
––Wolken huschten über den Himmel, teilten sich und wuchsen zusammen.
––„Ich glaube, du hast den Verstand verloren“, sagte er. „Komm, ich zeig’ dir deinen Pass. Du bist Anette Tornsdorf, ledig.“
––Er griff in die Innentasche seiner Jacke. Er stutzte, griff in die andere Tasche. „Du hast ihn dir zurückgeholt, während ich schlief“, sagte er, „und meinen hast du gleich mitgenommen. Du lernst beängstigend schnell.“ Sein Blick war jetzt misstrauisch und verschreckt.
––‚Wie schutzlos er wirkt‘, dachte sie.
Die Musik hatte wieder zu spielen begonnen. Es klang belanglos, und doch lag in dieser grauenhaften Trivialität etwas Unheimliches: die trinkenden, tanzenden Menschen, die feierten, dass es ihnen gut ging, und der beginnende Sturm. Die steigende Stimmung, das schlingernde Schiff. Das Klatschen der Hände gegeneinander, das Klatschen der Wellen gegen die Planken. Eine Wolke versteckte den Mond, gab ihn frei, eine andere verhüllte ihn wieder.
––Andreas sah auf. „Sie spielen nur, dass sie nur spielen.“
––„Wir haben keine Identität mehr“, sagte Anette.
––„Quatsch“, sagte Andreas brüsk.
––„Wo ist die Welt? Wir haben nur noch zueinander Bezug.“
––„Lass den Unfug!“ Andreas’ Ton hatte etwas Bittendes.
––„Was ist die Ehe?“, fuhr Anette fort. „Was ist ein Pass?“
––„Etwas, was du mir vielleicht zurückgeben solltest“, sagte Andreas so gelassen wie möglich.
––„Und alles ist nie gewesen?“, fragte Anette nachdenklich. „Ich fahre nach Boston und heirate Richard?“
––Andreas atmete auf. „Liebst du ihn so, dass du Bigamie riskieren willst?“
––„Ich lasse mich von dir scheiden“, erklärte Anette, „ich liebe dich nicht.“ Sie hing ihren Worten nach, bis der Sturm sie ins Meer wehte und ertränkte.
––„Wirklich nicht?“, fragte Andreas. „Du bist frei.“ Er sah zum Himmel. Die Wolkendecke verdichtete sich. „Du wirst ein neues Leben anfangen und neues Leben ausbrüten. Ich liebe dich auch nicht.“
––„Warum hast du mich angesprochen?“, fragte Anette betroffen.
––„Weil du die einzige Deutsche warst“, sagte er schnell.
––„Ich hörte es am Akzent, als du ein paar Worte zu dem Gepäckträger sagtest.“
––„Warum wolltest du mich ansprechen?“
––Er lachte, hart und blechern. „Ich bin Schriftsteller. Ich habe mein Konzept. Nur was wirklich passiert, ist es wert, erzählt zu werden. Alles Ausgedachte ist überholt. Die zusammengebastelten Geschichten sensibler Schöngeister sind abgestandene, unverkäufliche Ware. Die Menschen sind misstrauisch geworden gegenüber der Fiktion. Es geschieht zu viel tatsächlich, und man erfährt zu schnell und zu gründlich davon, als dass man noch auf die manipulierende Fantasie verstiegener Dichter angewiesen wäre.“
––„Ich verstehe dich nicht“, sagte Anette. Sie fröstelte. Sie wünschte, dass sie sich losreißen könnte. Weit weg sein. Ohne ihn, ohne diese Gedanken.
––„Ich wollte diese Situation schildern“, sagte Andreas. „Also musste ich sie herbeiführen. Das erst gab mir die Berechtigung.“
––„Aber das ist doch völliger Wahnsinn“, stammelte sie entsetzt.
––Er zuckte die Achseln. „Nachhelfen ist erlaubt. Besonders wenn man so triebhaft schreibt wie ich und so erlebnishungrig ist. Aber meine Gier ist erklärlich.“
––„O Gott, worauf habe ich mich eingelassen!“ Sie senkte den Kopf. „Ich hätte anders handeln können“, sagte sie langsam, „dann wäre die Geschichte anders verlaufen.“
––„Dann hätte ich sie umgeschrieben“, antwortete Andreas. „Aber das ist unter diesen Umständen nicht nötig.“
––Anette fror jetzt so, dass sie sich zwingen musste, nicht zu zittern. „Und wie endet Ihre Erzählung?“, fragte sie.
––Andreas lächelte stolz und unglücklich. „Sie ist schon zu Ende geschrieben. Es kann nicht mehr weitergehen. Ich habe es mir einzubilden versucht, einen Augenblick lang …“ Er warf einen kurzen Blick auf das unruhige Wasser, in dem das Licht zu unzähligen winzigen Stücken, Brocken, Fetzen zersprang, zerplatzte und verschluckt wurde.
Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: Roman Samborskyi (Mann), PanicAttack (Frau), Ugis Riba (Füller) | Fernando Astasio Avila (Mond)
Ha! Man muss sich ja unweigerlich fragen, ob wir nicht alle nur unsere Rollen im Leben spielen.
Das ist sicher der Fall. Nur zu welchem Grad, da unterscheidet es sich dann eben doch wieder.
Ich glaube es gibt Menschen, die immer ganz sie selbst sind, wobei allerdings selbst dabei manche(r) aus der Rolle fallen kann…
Was heisst denn überhaupt ganz man selbst? Ich mache mir über so etwas gar keine großen Gedanken. Es spart viel Zeit und Nerven.
Klar spielt man eine Rolle. Meistens sogar mehrere, je nachdem mit wem man es gerade zu tun hat. Deshalb gibt es ja auch so viele alternative Angebote, wo es darum geht sich selbst (wieder) zu finden.
Ein kleiner Unterschied ist dabei, ob man anderen was vormacht oder sich selbst.
Die letztere Version ist natürlich übel.
Ich finde man kann ja vormachen wem man will. Wenn es sein muss auch sich selbst. Der entscheidendere Unterschied ist doch vielmehr, ob man sich dessen bewusst ist oder ob man sich quasi selbst betrügt.
Wobei Rollenspiel nicht Lüge ist. Man betont manches, lässt anderes weg. Selbst Despoten können im kleinen Kreis charmant sein. Selbst Schlappschwänze können als Aufseher
Despoten sein.
Es bleibt ja trotzdem die Frage was nun die Wahrheit ist. Stecken die Beiden wirklich unter einer Decke?
Naja, wenn sie beide ihre Rollen spielen, dann war vielleicht ja gar nichts davon wahr.
Ist es nicht viel spannender, wenn es keine eindeutige Auflösung gibt?
… vielleicht eine zweideutige.
‚Es kann nicht mehr weitergehen‘ sagt Andreas. Aber wird es das trotzdem?
Oder endet die Erzählung genau so mysteriös wie sie angefangen hat?
Mich interessiert oben zu Beginn, dass er nicht nur sagt, dass sie alles gespielt haben, sondern dass es alles eine Übung war. Also doch als große Trickserei gegenüber Richard?
Interessant. Für Andreas ist alles Ausgedachte überholt. Nur Erlebtes zählt. Dabei ist das Ausgedachte oder zumindest Ausgeschmückte oft viel spannender.
Dabei erlebt er ja gar nicht wirklich. Sondern er schafft sich anscheinend die Situationen so, wie er sie haben will. Das zählt ja gar nicht richtig.
Warum das? Man muss doch nicht nur passiv mit dem Fluss gehen, auch wenn das immer als Optimum propagiert wird. Man kann schon auch seine eigenen Weichen stellen.
Ich würde sagen, das muss man sogar, wenn man zu etwas kommen will.
Lustig, dass die Person, die nichts Ausgedachtes mehr will, selber ausgedacht ist. Vor fünfzig Jahren.
Hahaha, tja so schließt sich so ein Kreis halt 😉
Ich finde es ja klasse, wie die Perspektiven hier wechseln. Mal macht sie einen verwirrten Eindruck, dann wiederum findet sie ihn ’schutzlos‘.
Etwas weniger krass als in der ersten Erzählung, in der die Perspektive mit jedem Satz wechselt.
Dafür ist es aber fast umso verwirrender. Weil man ja nach ein paar Absätzen glaubt nun endlich den Durchblick bekommen zu haben, aber dann doch wieder eine andere Seite kennenlernt.
„Sie spielen nur, dass sie nur spielen.“
Sehr Meta. Darüber zerbreche ich mir gleich nochmal genauer den Kopf…
Als Schauspieler muss man auch das können 😉
Sich zurücknehmen, übertreiben. Chargieren, an die Wand spielen, der Rolle nicht gewachsen sein, sich selbst spielen, Verwandlungskünstler sein – die Palette reicht vom Oscar bis zur Goldenen Himbeere.
Man feiert ja auch nicht nur weil es einem gut geht, sondern manchmal auch um sich nicht jeden Tag sorgen zu müssen. Obwohl Andreas Ausspruch deutlich schöner klingt.
Manchmal muss man anfangen zu spielen und dann geht es einem als Resultat auch tatsächlich besser. Tricks halt.
Schon Friedrich Schiller wusste: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.