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Orgasmus fühlt sich schön an. Im Westen teilen Menschen ab dem vierzehnten Lebensjahr ihre Lust oft mit willigen oder vergewaltigten Partnern, und sie hoffen während der Ekstase, diese angenehme Empfindung allein oder in Gesellschaft bis ins Rentenalter wiederholen zu können, immer mal wieder. Im Osten ist das anders, aber nicht besser, falls man ‚Gut‘ und ‚Böse‘ unterscheiden möchte. Westen und Osten sind hier rein ideologisch gemeint, beziehen sich also bloß auf Madonna und Mohammed und nicht auf Arizona und Afghanistan.
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Das ‚Schöne‘, das ‚Gute‘ und das ‚Wahre‘, sie werden deshalb mit unterschiedlichen Wörtern bezeichnet, weil sie alles andere als dasselbe sind, auch wenn sie häufig in einen Tiegel geworfen werden und dort den Eintopf des Erstrebenswerten bilden. Der Orgasmus ist für den, der ihn erlebt, gut, schön und wahr, wenn’s gut läuft. Beschnittene Frauen erleben ihn gar nicht, jedenfalls nicht dort, wo er hingehört; den Bürgerfrauen des 19. Jahrhunderts ist er auch eher abzusprechen, bis auf Anna Karenina, Madame Bovary und Effie Briest. Männer brauchen ihn für die Fortpflanzung, weshalb ihre Beschneidung milder ausfällt.
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Unserer demokratischen Gesellschaft ist es wichtig, sämtliche Standpunkte zu beleuchten, was bisweilen ins Grelle führt. So beklagte sich vor Kurzem ein Beschnittener nordafrikanischer Herkunft in den ‚Tagesthemen‘, dass er wegen mangelnden Eichelschutzes sexuell nicht genügend empfinde: Ein „Tiefpunkt investigativer Berichterstattung“, sagen die einen, die anderen sehen – ganz im Gegenteil – den Gipfel der Geschmacklosigkeit erreicht.
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Wer wie ich das Glück hatte, erst mit sechsundzwanzig beschnitten zu werden, kann selbst bei ziemlicher Enthaltsamkeit das Vorher-Nachher-Erlebnis recht gut einstufen. Und da gibt es Schlimmeres als den einen ganz kleinen Hauch abgefederten Vollrausch: Pubertärer Orgasmus etwa, der von einer unverhofft ins Kinderzimmer tretenden Mutter begleitet wird, ist mit oder ohne Vorhaut ruiniert, stelle ich mir unerlebt vor, wieder ein glatter Tiefpunkt. Überhaupt: je weniger, desto besser. Denn das Unerfreuliche an Höhepunkten ist, dass man sie im Allgemeinen überlebt. Und dann?
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Ist man Soldat im Krieg, kann man sich gleich die nächste Bäuerin vornehmen, doch selbst das wird von Mal zu Mal weniger lustig. Ist man Erfinder, fällt einem nach e=mc² nicht sofort die nächste Formel ein.
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Höhepunkte muss man anstreben, nicht erreichen. Dabei gibt es durchaus Unterschiede: Nach biologischer Pflichterfüllung gemeinsam verliebt einzuschlafen fühlt sich anders an, als nach vollbrachter Tat jemandem im Hinterhof die ausgemachten zwei Scheine zuzustecken. Doch: Vom Traum zurück in die Wirklichkeit muss jeder, der sein Hochgefühl überlebt. Er landet auf Daunen oder auf blutigem Pflaster.
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Dass Religionen mit großer Vorliebe den Sex unter Strafe stellen, hat viel damit zu tun, dass Religionserfinder wissen: Befriedigung befriedigt nicht, sondern weckt – im Gegenteil – den Wunsch nach mehr. Aber wie viel? Dauerorgasmus als Vorstellung irritiert eher. Wechselnde Partner und Körperöffnungen sind ein gern gegangener Ausweg, doch wohin führt er?
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Glück geht anders. Deshalb ist die Gleichzeitigkeit von gebratenen Tauben vor dem Mund und gewünschten Fremdschleimhäuten vor dem Unterleib erst für das Paradies vorgesehen, in dem man keine Augen mehr hat, um zu weinen, keinen Mund, um zu reden, kein Hirn, um zu grübeln, und wo man keine Bestellung mehr aufgeben kann, ob man es lieber durch oder blutig hätte.
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Den Höhepunkt anzustreben, heißt, den Abstieg in Kauf zu nehmen. Vom Mount Everest ist es schwieriger herunterzukommen als vom Olympia-Treppchen, meint man. Aber Boris Becker zeigt, dass der Weg vom Siegerpodest zur Normalität auch schwierige C- und D-Promi-Kurven hat, die beim Aufstieg gar nicht zu sehen waren.
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Im Theater schon immer und im Film, seit es ihn gibt, konnte der jeweilige Autor den Höhepunkt knapp vor den Schluss setzen: Tod des Hauptdarstellers oder Verhaftung des bis dahin unverdächtigen Täters gelten neben Eheschließung zweier von Anfang an verfeindeter Protagonisten als publikumswirksame Möglichkeit, eine Fiktion aufhören zu lassen.
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Die Wirklichkeit ist rabiater: Seite an Seite zu liegen, ohne ganz sicher zu sein, ob es die Person nebenan genauso nett fand wie man selbst, oder, wenn es doch nicht so doll war, ob man sich selbst den Trost glaubt, dass das Geschöpf neben einem die flaue Darbietung genossen hat, sich sowieso selbst als Mittelpunkt des Geschehens wahrnahm oder zumindest nur wenige Haare im Sperma gefunden hat. Das ist es, was vom Orgasmus übrigbleibt – und, wenn man Glück oder Pech hat, eine befruchtete Eizelle. Wie viel erstrebenswerter ist dagegen eine lange Verlobungszeit, deren einziger Nachteil darin besteht, dass sie die hochgesteckten Hoffnungen keiner von beiden Seiten zu erfüllen vermag: Die Erwartung verspricht einen Rausch von Seligkeit, und dann kleckert es da bloß so raus.
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Der Weg sei das Ziel, behaupten wir zwischen Joggen und Büffeln und hoffen, dass das nicht stimmt, sondern dass uns das Schicksal am Ende unserer Mühen eine triumphale Tracht Glücksgülle mitten ins Gesicht klatschen wird. Mein berechtigterweise gestorbener Freund Pali sagte immer: „Zum Park hin konnte ich mit federndem Schritt kilometerweit laufen, aber auf dem Rückweg, nach dem Abspritzen, hatte ich Blei unter den Sohlen.“
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Der Höhepunkt duldet kein Danach. Deshalb verschiebt jede Religion als Allererstes den Höhepunkt ins „Jenseits“. Über dessen Beschaffenheit macht das Judentum, die weiseste aller Religionen, keinerlei Aussagen. Denn: Aus was bestehen wir dann überhaupt? Erkenne ich dort meine Großmutter an ihrer Stola, an ihrer Aura oder gar nicht? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr ich bin?
Bild: Vertumnus and Pomona by François Boucher/Jean-Baptiste-Henri Deshays/Wikimedia Commons/Public Domain
Es ist berechtigt, vor dem Höhepunkt genauso viel Angst zu haben, wie sie der Torwart vorm Elfmeter hat und der Pianist vor der Kadenz. Ist nach der Kommunion die Oblate erst runtergewürgt, bleibt nichts anderes mehr als Feierlichkeit, und die hält gerade noch so lange vor, bis der Reißverschluss wieder oben ist. Der Höhepunkt ist das Gift, das die Lust zerstört. Dieses Gift macht den Sieger trunken und führt nur allzu oft in die Vernichtungsschlacht.
Bild: Jacques-Louis David/Wikimedia Commons/Public Domain
Außerdem ist er herrlich, der Höhepunkt. Immer wieder.
Ab dem vierzehnten Lebensjahr? Ich habe mittlerweile das Gefühl, das hat sich nochmal um ein paar Jahre vorverlagert.
Auf der anderen Seite gab es neulich mal einen Artikel, nachdem Jugendliche wieder viel viel später sexuell aktiv und grundsätzlich wieder konservativer werden. Was denn nun?
Beides. Das Progressive gleicht sich durch einen neuen Konservatismus gleich wieder aus.
Das Danach ist natürlich schon alleine deshalb wichtig, damit man den Höhepunkt überhaupt von der ganzen anderen Suppe unterscheiden kann. Aber die Religion muss ihn zumindest soweit ins Jenseits schieben, dass man auf Erden schön weiter glaubt und strebt. Ist der Höhepunkt einmal erreicht gibt es ja keine weiteren Ziele mehr.
Die Person, die neben einem liegt, fand es natürlich nicht ganz genauso nett wie man selbst. Das ist ja die große Crux, dass man eben nie dasselbe denkt, dasselbe fühlt, dasselbe sieht. Wenn man Glück hat versteht man sich zumindest einigermaßen.
Wer nonstop Höhepunkten hinterherrennt fühlt sich meistens weniger glücklich als diejenigen, die einfach ihr Ding machen. Der Höhepunkt kommt eh unausweichlich.
Ohne Ziele macht es aber auch keinen Spaß. Und der sexuelle Höhepunkt kommt meiner Erfahrung nach eben nicht von ganz alleine.
Man kann ja nie genug über Orgasmen lesen …
https://www.zeit.de/1996/41/orgasmus.txt.19961004.xml
Man kann auch nie genug ZEIT lesen. Aber dass ausgerechnet zum Orgasmus kein Video eingebettet wurde enttäuscht mich schon, Herr Rinke 😉
Die Enttäuschung ist die (negative) Form der Überraschung. Zu diesem Thema fand ich „Alte Meister “ seriöser. In anderem Zusammenhang wird’s dann wieder knalliger. Meine Auswahl ist schier grenzenlos.
Die Mount Everest / Olympia – These würde ich widerlegen wollen. Jedenfalls gibt es deutlich mehr abgestürzte Stars als Bergsteiger. Also im übertragenen Sinne.
Hahaha! Aber ach Gott, man darf wahrscheinlich gar nicht lachen. PC und so…
Runtergewürgt trifft es bei Oblaten ganz gut. Ich hab als Schüler mal Ärger bekommen, weil ich die Oblate im Gottesdienst kaum runtergewürgt bekam. Wohl mein erster Schritt weg von der katholischen Kirche.
Dafür gibt es doch den guten Messewein 😉
Ist mit 26 beschnitten werden denn schon Glück? Wie muss sich dann erst der fühlen, der dem Messer komplett entkommt?
Wenn sich die Suche nach dem Lebensglück doch nur durch eine Beschneidung lösen würde…
Höhepunkte müssen her. Und zwar in Massen. Jeden Tag ein neuer mindestens. Ein Hoch auf den Performance-Druck.
Ach das ist doch heute auch nicht schlimmer als früher.
Alles ist schlimmer als früher. Sonst funktioniert der „Make xxx great again“ – Spruch doch nicht.
Was ist denn geschmacklos daran über Sexualität zu reden? Oder macht es die nordafrikanische Herkunft erst geschmacklos?
Wohl eher der Gipfel der Banalität als die Grenze zur Geschmacklosigkeit.
Den geschmacklichen Unterschied zwischen nordafrikanischem und sübamerikanischem Sex kann ich nicht beurteilen. Aber über seine Beischlafgewohnheiten redet man in gebildeten Kreisen genauso wenig wie über sein Geld. Guter Geschmack oder schlechter ist das, worauf sich die Mitglieder einer Gruppe einigen können.
Über seine Beischlafgewohnheiten redet man in gebildeten Kreisen genauso wenig wie über sein Geld? Neudeutsch würde man wohl sagen: LOL!
Es gibt zwei Dinge, über die man gerne redet – sich selbst und andere Menschen.