Ach nein, es geht die Öffentlichkeit wirklich nichts an: Heute ist Rolands siebenundsiebzigster Geburtstag. Na und? Erstens war der letzte Ehrentag, den Roland noch selbst mitfeierte, bereits der anno 1990, und zweitens bedeutet eine Schnapszahl nichts in der Erinnerungskultur, nur 25, 50, 75, 100 zählen. Dafür sind dann die Todestage aber genauso gedenkwürdig wie die Geburtstage.
Wie man weiß, lautet die Formel aller Schnapszahlen folgendermaßen, wobei d die benutzte Ziffer, n ≥ 2 die Anzahl der Stellen und b die verwendete Basis ist.1:
Eine Begriffserklärung der Schnapszahl bei Wikipedia lautet, ‚dass nach übermäßigem Alkoholkonsum doppeltes Sehen auftreten kann, wodurch aus einer ‚2‘ eine ‚22‘ oder aus einer ‚33‘ eine ‚333‘ oder eine ‚3333‘ werden kann‘.2
Damals, an Rolands letztem gemeinsamen Geburtstag, war ich 44 (Schnapszahl), die Welt stand mir offen. Und was habe ich daraus gemacht? Na ja, einiges: Gekündigt, gefilmt, geschrieben, aber eine neue, feste Beziehung habe ich weder gesucht noch gefunden. Ich war verheiratet mit meiner Trauer. Die Scheidung von ihr reichte ich erst im neuen Jahrtausend ein.
Seither lebe ich als Witwer, materiell abgesichert, geistig nicht verwirrter als vor dreißig Jahren. Rolands Familie wollte das Grab aufgeben, ich natürlich nicht. Nie gehe ich da hin. Ich habe ja die ganzen Filme. Was mit meiner eigenen Leiche passieren wird, ist mir egal. Ich hoffe, dass ich mir nicht doch noch einen Nekrolog schreiben werde, weil ich das sonst niemand anderem zutraue. Veranstaltungen, an denen ich nicht teilnehme, sollte ich nicht bespaßen. Das Grab. Die Idee, neben Roland zu liegen, gefällt mir. Mehr als bei meinen Eltern im Familiengrab. Irgendwie erwachsener …
Heiter, auch ohne Schnaps,
Hanno
Meran, den 29.09.2021
Titelbild: Privatarchiv H. R. | Abschlussgrafik: H. R./ALEKS & SHANTU, mit Bildmaterial von Shutterstock: asharkyu (Efeu)
1Quellen: Bernard Schott: Les nombres brésiliens., (PDF-Version) in: ‚Quadrature‘. Nr. 76, March 2010, S. 30–38; Florian Freistetter: ‚Mit Schnaps- und anderen Zahlen durchs Jahr 2020‘, Spektrum.de, 5. Januar 2020; Wikipedia
2Quelle: Sebastian Wolfrum: ‚Was ist eine Schnapszahl?‘/‚Badische Zeitung‘, 16. November 2011; Wikipedia
Trauer ist ein wahnsinnig schmerzhafter Prozess. Ich kenne dieses Verheiratetsein auch. Aber wie toll ist es auch so eine Liebe gelebt zu haben!
Selbst, wenn sich in der Erinnerung manches verklärt – Wehmut und Demut schaden nichts.
Die Erinnerung drängt ja gerne zu den Extremen. Manches verklärt sich, anderes wird dafür dann dramatisiert.
Mit viel Respekt für das, was Sie aus der offen stehenden Welt alles heraus geholt haben, und mit den besten Wünschen für diesen irgendwie doch noch wichtigen Geburtstag!
Da schließe ich mich ohne Frage an.
Man muss halt so lange etwas rauszuholen versuchen, bis es einen reinholt.
!
So macht doch ewige Liebe Sinn, wieder vereint im Tode in der gemeinsamen Grabstätte.
Ja das ist gleichermaßen traurig wie schön.
Da siegt die Idee wieder mal über die Realität.
Anders herum gedacht fände ich es tatsächlich sehr komisch nach dem Tod wieder so nah mit meinen Eltern vereint zu sein. Man lebt sich ja über ein Leben lang doch unweigerlich auseinander. Auch wenn man einen engen Kontakt hat.
Aber bei Familiengräbern ist das so.
In der Tat. Die werden aber sicher im seltener, nicht?
Gräber können sicher dem ein oder anderen helfen mit der Trauer umzugehen. Für mich war das aber auch nie der richtige Weg. Ich brauche diesen Ort nicht um mich zu erinnern.
Früher, als man noch den Großteil seines Lebens am selben Ort verbrachte, waren Friedhöfe vielleicht wichtigere Anhaltspunkte. Jedenfalls ist es ja nicht zu übersehen, dass es immer mehr Urnenbestattungen oder alternative Orte wie den Friedwald gibt.
In Märchen und alten Filmen wird immer stilvoll im eigenen Schlafzimmer gestorben, mit der Familie drum herum. Nach dem Tod an Schläuchen im Krankenhaus ist die anonyme Bestattung konsequent. Der Friedhof bleibt trotzdem mehr als nur Leichenablage: ein Ort der Besinnung.
Ich gehe gerne zum Grab meiner Eltern und meiner Schwester. Auch wenn ich nur selten dorthin komme. Aber ich mag die friedliche Atmosphäre. Jeder geht eben anders mit erlebter Trauer um.
Friedhöfe mag ich auch. Die Gräber von Menschen, die ich kannte, verstören mich. Das ist für mich ein Tick zu viel Vergänglichkeit. Sie begegnet mir im Alltag schon genug. Sogar am eigenen Leibe.
Ich spaziere auch viel lieber über fremde Friedhöfe.
Vor allem über alte ausländische mit großen prachtvollen Familiengruften
Ehrentage muss man feiern. Da gehört solch ein, vielleicht von manchen nicht mehr aktuell empfundener, Geburtstag ohne jeden Zweifel dazu.
Ja klar, ist doch selbstverständlich!
Das erste Jahr, in dem ich den Geburtstag vergaß, nahm ich als gutes Zeichen: Endlich ein bisschen Abstand.
So ähnlich kenne ich das auch. Die Momente, in denen man mal nicht an einen geliebten Verstorbenen denkt, sind dann fast eine kleine Befreiung. Obwohl ich manchmal auch eine Art schlechtes Gewissen hatte. Aber all das ist in so einem Prozess wohl völlig normal.
Den eigenen Nachruf zu schreiben wäre eigentlich eine spannende Idee. Zumindest besser auf sich auf das Urteilsvermögen der anderen zu verlassen.
Noch besser fände ich es, nach dem Tod das irdische Leben nicht weiter gestalten zu wollen. Aber posthumer Ruhm und das eigende Angedenken rechtzeitig zu beeinflussen, ist wohl für viele eine verlockende Idee.
Irgendwann muss ja auch mal Schluss sein. Wer Kontrollfreak ist, der organisiert vielleicht auch seine eigene Todesfeier. Ich finde es ja ehrlich gesagt viel erleichternder, dass nach dem Tod all sowas völlig egal ist. Wen kümmert all dass, wenn man selbst gar nicht mehr da ist…
Oh, das kümmert doch unsagbar viele. Es geht doch wahnsinnig oft darum, was wir nach dem Tode hinterlassen. Wie bzw. für welche Dinge man uns in Erinnerung behält
Man darf über diesen Stress nur nicht das Leben vergessen. Am Ende will man doch sicher vor allem für sich selbst und nicht für die anderen leben.
Was wir nach dem Tod hinterlassen, interessiert ja besonders die Erben…
Wer jetzt über 70 ist und sein Leben noch auskosten will, nimmt Beschränkungen wegen des Klimawandels natürlich etwas anders wahr als GretaThunberg.
Oft geht es ja darum überhaupt etwas zu hinterlassen. Also nicht nur den Erben, sondern allgemein. Damit man nicht das Gefühl bekommt, dass das eigene Leben umsonst war.