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Denkabfall

Zwei Geschichten in einer

(Ökonomisches Schreiben)

Zacharias/Andreas lag im Bett. Er spürte fast nichts als das Laken unter sich: Es war so viel widerstandsfähiger als die Haut seines Rückens, natürlich. Es würde jedem Fingernagel standhalten und nie bluten. Von Ferne hörte er durch das geschlossene Fenster die Vormittagsgeräusche, von denen er glaubte, sie von den etwas welkeren Nachmittagsgeräuschen klanglich unterscheiden zu können. Aber das war sicherlich Einbildung, abhängig nur von seiner eigenen Vormittags- oder Nachmittagsstimmung. Ebenso gut hätte er sich einreden können, dass sich am Geschmack des Samens Homo- oder Heterosexualität feststellen ließe. Zacharias/Andreas atmete so tief, als wollte er alle Luft aus dem dunklen Raum in seinen Brustkorb hineinsaugen und sie nie mehr hergeben: aufgepumpt bis zum Platzen, ein Panzer gegen die Einsamkeit.

Zacharias/Andreas war sterbenskrank/lebensgeil. Seine rechte Hand hielt weiterhin die Bettkante umklammert, während die linke beschwörend nach seinem pochenden Herzen/Schwanz tastete. Er presste die Hand gegen den Muskel, der unter diesem Griff aber eher wilder wurde als ruhiger. Zacharias/Andreas versuchte, nichts zu denken, in der vagen Hoffnung, dass Gedankenlosigkeit heilsam sein könnte. Und doch kam ihm ein Satz in den Sinn: ‚In deinem Herzen wartet ein Engel, der will fliegen‘/‚In deinem Hosenstall lauert ein Hengst, der muss galoppieren.‘ Zacharias/Andreas fürchtete/wünschte, dass eine Angst/Gier in ihm hochquellen würde, die nicht mehr zu bremsen wäre. Er nahm die rechte Hand von der Bettkante und griff in das Dunkel: Das Holz des Nachttischs, etwas Raues wie Papier, ein klirrendes Geräusch, und dann fühlten seine Finger das kalte, glatte Glas, er riss es an sich und richtete sich gleichzeitig auf, seine Unterlippe presste sich an den Rand des Bechers. Die Medizin/der Wein der Nacht rann seine Kehle herab: wie durch einen Kanal, der zu einem Stausee führt, so tief, dass das ganze Land seine Elektrizität aus ihm beziehen kann.

Zacharias/Andreas ließ sich zurückfallen, das Kissen war hart: durchgelegen. Immer noch spürte er das Pochen unter seiner linken Hand: dringliches Klopfen gegen eine Tür, Forderung, nicht Bitte. Er begann, sein Herz/seinen Schwanz zu massieren, und dann, dann brach der Staudamm. Alle Gedanken, die er hatte vermeiden wollen, tosten auf ihn herab: das Gesicht seiner ersten Frau, die wieder neu verheiratet war/das Gesicht des letzten Kerls, der dann doch nicht mit zu ihm gekommen war. Der Urlaub vor zehn Jahren, die Ausgelassenheit am Meer mit all den anderen. Seine Kinder/Liebhaber. Sein Schwarm von damals: Marilyn Monroe/James Dean. Ein Jubel stieg ihm in den Kopf, er begann zu zittern, vor seinem Gesicht erschien ihr/sein Schoß, er konnte ihn riechen, jetzt saugte er wirklich das ganze Zimmer ein, ein Stöhnen, ein kochendes Ächzen, er bäumte sich auf, blieb einen Augenblick lang starr – und sank nieder.

Es war vorbei.

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Augustino (Mann) | Picsfive (Kissen)

Hanno Rinke Rundbrief

34 Kommentare zu “Zwei Geschichten in einer

  1. Zacharias und Andreas könnten ja durchaus auch dieselbe Person sein. Vielleicht mit zwei verschiedenen Sehnsüchten.

      1. Das stimmt ohne Frage. Aber dass die Geschichten simultan erzählt werden muss ja noch nicht heißen, dass sie auch simultan passiert sind.

  2. Ah schon wieder zwei neue Geschichten. Dabei habe ich das eigentlich recht schreckliche Chianti-Lied vom Wochenende immer noch im Kopf.

  3. Der eine Mensch sucht das Leben, der andere den Tod. Das sind ja quasi zwei genau gegenläufige Geschichten. Ying und Yang quasi.

    1. Ob Zacharias den Tod ’sucht‘ … da wäre ich ja nicht so sicher. Er scheint sich aber immerhin nicht allzu sehr zu wehren.

  4. Da stellt sich ja unweigerlich die Frage, wie das wohl sein wird wenn man stirbt. Kommt ein letzte Jubel bevor es vorbei ist? Oder fadet das leben einfach aus?

      1. Leider hat man dann nicht mehr die Möglichkeit die Antwort weiterzugeben. Das würde Generationen von Menschen das Grübeln abnehmen.

      2. Das Ärgerlichste dabei: Wenn nach dem Tod nichts mehr kommt, kann man zu all den Gotteskriegern und Friedensbetern nicht mehr sagen: ‚Siehste, da is nix!‘

      3. Ich frage mich ja auch wie es das Leben verändern würde, wenn man vorab schon wüsste was einen beim Sterben erwartet.

      4. Sie meinen ob es ein Leben nach dem Tod gibt? Das würde jedenfalls die ein oder andere Religion über den Haufen werfen. Und Organisationen wie ISIS etc. den Alltag verderben.

      5. Ja nur, falls es doch wider Erwarten k e i n anschließendes Leben in Himmel bzw. Hölle geben sollte. Eine große, nicht mehr gefühlte Enttäuschung für alle Gläubigen.

      6. Eigentlich sollte man allen zumindest noch dieses Gefühl der Enttäuschung gönnen. Falls es denn auch wirklich so ist.

  5. Für den Sterbenskranken ist der Tod dann wohl eine Erlösung. Wahrscheinlich fällt das Loslassen deswegen aber gar nicht so viel leichter.

    1. Das kommt vielleicht nicht zuletzt darauf an, welche Dinge man noch nicht ‚abgehakt‘, welche Rechnungen noch offen und welche Streitigkeiten noch ungeklärt sind.

      1. Es gibt sicherlich die Theorie, dass man erst dann geht wenn man bereit ist. Aber wenn man wirklich sterbenskrank ist macht der Körper irgendwann auch einfach nicht mehr mit.

    1. Sie scheinen weit entfernt davon zu sein. Jedenfalls ist es nach wie vor beeindruckend, wie sehr sich so ziemlich das komplette Land gegen Putin und seine Soldaten auflehnt. Dabei sollte man meinen, dass die Ukraine weit unterlegen wäre.

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