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04 – Beelzebub und der Teufel

#09 | Berlin-Babel

Martin starrte auf das Foto. In der Abgeschiedenheit der Dunkelkammer in sich selbst gestülpt. Matt beleuchtet: nur dieses Gesicht in Schwarz und Weiß. In sich selbst: feucht, warm – das eigene Blut, sein Fließen, sein Rauschen. So fällt es leicht, an Spuk zu glauben und an Ewigkeit und an Gott. ‚Den Teufel würde ich mir so vorstellen: lächelnd, anziehend. Entwaffnende Ehrlichkeit, die Offenheit des Siegers. Ich verspreche dir nichts als das, was du siehst. Ich verspreche dir keine Freude, erst recht kein Glück, nur mich. Du darfst mich ansehen, berühren auf dem Papier, in deine Fantasie betten, mich zu deiner Fantasie machen. Ich will dafür nichts als deine Seele. Eine reine Formsache. Ich habe sie doch schon. – Der Teufel. Darin liegt das Dämonische: seine Aufforderung, die meinem Wunsch entspringt. Ich bin in ihm, weil er in mir ist. Ich werde ihn zwingen, mich zu verführen, und er wird es tun, indem er zu existieren beginnt. Das Pulsen, das in mir aufsteigt, wird ihn zeugen – und dann ist er da. Geboren werden muss er nicht.‘ Martin spürte, wie er angehoben wurde und wie er wieder fest stand. Das nächste Stockwerk war erreicht. Der Turmbau schritt voran.
––Zweifellos war hinter diesem Lächeln etwas Lauerndes. Zumindest konnte man sich das einbilden, hier in der Dunkelheit seiner Nähe. An Männern nicht interessiert, wahrscheinlich nicht. Das spielte auch keine Rolle. Das Bild wird sich nicht wehren. Obwohl – vielleicht das Vorbild auch nicht.
––‚Wenn er herabstiege zu mir aus seinem Harem fremder Frauen, eine Verkündigung seiner selbst, astral oder real, für ein kurzes Abenteuer den Himmel seiner banalen Göttlichkeit verließe, um sich ein paar Minuten im Inferno meines Raritätenkabinetts schaudernd umzusehen – der Herr mit Unterleib – wie würde ich reagieren? Gieren? – Nein, willfährig natürlich. Dieselbe Willfährigkeit, mit der ich in seinen Schnappschuss-Blick die Herausforderung hineininterpretiere. Als Mann mit einem Mann was machen, der sich nichts aus Männern macht? – Sonst nicht, hier ja. Ohne Siegerstolz, ohne Doppelmoral, ohne Voreingenommenheit. Einfach so, ängstlich, aber dreist. Das hab’ ich aufgesogen mit der Trockenmilch: Rückgrat ist lobenswert, Genuss ist lebenswert, ein Draufgänger, solange er dabei nicht draufgeht, ist liebenswert. Entrüstung in der Schlagzeile, Geschäft im Wirtschaftsteil. Stiege er also hinab von seinem Olymp – er fände mich mit offenen Armen, offenen Beinen und womöglich mit offenem Mund.‘
––Martin legte das Bild endgültig zur Seite, schaltete die Deckenbeleuchtung an und machte sich an die Entwicklung der auf dem Kontaktstreifen angekreuzten Negative. In seiner Hose pochte es so hart, dass er nur mit Mühe Gedanken oberhalb der Gürtellinie fassen konnte. Aber diese Unersättlichkeit befriedigte ihn. Steigern, immer weiter steigern, bis zum Abend, bis in die Nacht. Der Turm muss wachsen. Trotzdem versuchte Martin, sich gleichzeitig auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er hatte den Negativstreifen in den Vergrößerer eingelegt und schaltete die Deckenbeleuchtung wieder aus. Eine Gratwanderung. Auf der Kippe: absacken – aufsteigen. Erregung – Ernüchterung. Positiv – Negativ.
––Das Bild erschien auf dem Papier. Eine Gesellschaft. Menschen auf einer Gesellschaft. Schwarz war Weiß. Weiß war Schwarz. Nicht entwickelt. Martin suchte den Ausschnitt aus. Dann begann die Routine. Vergrößerung belichten, Schattenpartien abwedeln. Spitzlichter nachbelichten, Vergrößerung ins Entwicklerbad, die Zange drückt das Papier in die Lösung. Ein Bild entsteht: eine Feier, schwarz auf weiß. Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit.
––‚Ich bin es leid, geil und verstiegen zu sein. Blumen gießen, Brot schneiden, einen Acker pflügen – die Furche unterhalb des Rückens …‘ Martin bewegte die Schale sanft hin und her. Dann nahm er das Bild mit der Zange aus der Lösung, ließ es abtropfen und legte es in das Stoppbad. ‚Irgendwann muss ich akzeptieren, dass ich mich nicht akzeptiere. Das ist die einzige Form, erwachsen zu werden, die ich mir für mich vorstellen kann.‘
––Er ließ das Bild abtropfen und legte es ins Fixierbad. Menschen aßen, tranken, gestikulierten, erstarrt im Foto, ein zivilisiertes Ritual, fern von Asien oder Afrika. ‚Ich bin froh über diese Ehe. Ich bin froh, dass wir eine so stimmungsvolle Trauung miterleben durften. Herr Pfarrer, dafür Ihnen ganz besonders herzlichen Dank.‘ Das nächste Negativ: die gesenkte Flasche über zwei Schultern hinweg, eine männliche und eine weibliche, die Gabel in den Mund: Kapaun – Poularde, den Wein ins Glas. Belichten, abwedeln, nachbelichten, entwickeln.
––‚Ich bin der einzige Mensch unter euch. Ihr seid nur Umrisse in Grauschattierungen. Ich fühle Schmerz, Seligkeit, Ekel, Gier. Anders sein. Anders sein wollen. Sehnsucht nach Gesellschaft, nach einer neuen Gesellschaft: nach Männergesellschaft. Kneipen mit Kerlen? ‚Schultheiß‘ statt Chablis? Lächerlich! Und doch: gemeinsam anders sein. Gemeinsam anders sein wollen. Was will ich? Einen, der auch anders ist, zusammen mit mir, teilen und sich mitteilen – oder hineingrapschen in das, was sich mir bietet, und mich darin suhlen? – Beides: Boy, schlank, 22, sucht olympische Sau für Sekunden der Dauerfreundschaft.‘ Negativ – Positiv. Stoppen und fixieren.
––Das nächste Negativ. Das Brautpaar lacht sich zu, mit weißen Lippen, schwarzen Zähnen, Sektkelche in den Händen, Pardon: Champagner.
––‚Einen Tag lang wie alle anderen sein. Einmal nur sehen, wie das ist. Wie man sich da fühlt. Ob man sich überlegen vorkommt – gegenüber dem armen Jungen, dem armen Muselmanen, dem armen Gemüsemann? Aber wenn es einem dann gefällt, das Gefühl, wie alle anderen zu sein? – Im Kopf oder im Blut. Es darf einem gar nicht erst gefallen. Nicht einen Tag, nicht eine Sekunde lang. Gott sei Dank, dass es ‚alle anderen‘ genauso wenig gibt wie den Durchschnittsmann, es sei denn, er trinkt ‚Schultheiß‘, während seine Frau mit ‚Fakt‘ wäscht.‘ Ihm fiel das Flugblatt ein, das ihm neulich jemand in die Hand gedrückt hatte. Schwarz auf rosa Papier gedruckt. Er musste es noch irgendwo haben. Identität schaffen: Eingrenzung – Ausgrenzung. Treueschwur vor dem Altar, Verrat vor dem Ehebruch. Weg damit!
––Das nächste Bild: vier gut gekleidete Menschen im Gespräch.
––‚Ich will nicht eure heiteren Vergnügen, eure festliche Gelassenheit. Ich will die hektische Fiebrigkeit, das Flashlight, in dem Körper taumeln, nach einer Musik, die zu grell ist und zu laut, nur was übertrieben ist, treibt. Born – born – born: Born to be alive. Das Ungesunde will ich: nicht Ihren Möhrensaft, Herr Pfarrer – die Besoffenheit!‘
––Stoppen, fixieren. Er machte Licht und legte die ersten Fotos in die Wässerungswanne. Dann nahm er sich den nächsten Negativstreifen vor.

Hanno Rinke Rundbrief

34 Kommentare zu “#09 | Berlin-Babel

      1. Oder doch gar nicht anders genug. Weil alle anderen schon so anders sind. 😂

  1. Stundenlang solche Fotos von Fremden Menschen anzuschauen muss auch ermüdend sein. Gerade solche Feiern bieten doch wenig Spannende Motive.

    1. DAs sind halt Auftragsarbeiten, die gehören genau so zum Job eines Fotografen, wie die Werbekampagne aus dem letzten Teil. Da muss man dann einfach durch.

      1. Ich würde ja sogar denken, dass die Phase nachdem man die Negative durchgeschaut hat, also das Belichten und Entwickeln, sogar spannend sein kann. Aber ich bin natürlich kein Fotograf.

      2. „Vier gut gekleidete Menschen im Gespräch“ klingt für mich in keinem Arbeitsschritt nach einem aufregenden Motiv.

      3. Wenn man sich das Ereignis wachruft, von dem die Bilder stammen und dabei so himmel- und hölle-stürmende Gedanken hat wie Martin, ist der Vorgang wohl nicht langweilig. Und gut- oder unbekleidete Menschen entwickelt man bestimmt lieber als Touristen in Rentnerbeige.

      4. Ja klar, das stimmt. Solche Begegnungen sind natürlich eher die Ausnahme. Obwohl … vielleicht auch nicht.

      5. Vielleicht auch nicht. Kommt sicherlich ganz auf den eigenen Freundeskreis, den eigenen Lebensentwurf und den eigenen Charakter an. Man kann sich die Aufregung ja auch suchen. Selbst im Job.

      6. Dafür gebührt ihr in der Tat Respekt. Unüberlegtheit oder allzu emotionale Entscheidungen kann man ihr sicher nicht vorwerfen.

      7. Sicherheit statt kühne Visionen. Vielleicht gelingt Scholz ja genau mit diesem Konzept doch noch die Überraschung und der Sprung ins Kanzleramt. Quasi mehr Altbekanntes für alle, die sich vor den Grünen fürchten oder Laschet für zu lasch halten.

      8. Gerade las ich Churchills Ausspruch: „Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem Durchschnittswähler.“

  2. Fromme Göttlichkeit und teuflische Lust sind ja so eine Sache. Damit soll einem, zumindest von Seiten der Kirche, ja möglichst viel Scham eingeredet werden.

  3. Bei aller Auf-/Erregung scheint dieses Entwickeln der Bilder auch etwas Meditatives zu haben. Jedenfalls ist es ein sehr zeitaufwendiger, langwieriger Arbeitsprozess.

  4. Born to be alive wäre gar kein schlechtes Motto für die katholische Kirche. Anstatt ständig über Sünde und Scham nachdenken zu müssen.

    1. Na so schlimm ist’s ja auch wieder nicht. Also die Kirche ist unsympathisch, keine Frage. Aber man kann schon glauben ohne jeden Tag ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

      1. Das funktioniert wahrscheinlich auch anders herum. Also wenn der/die Verehrte die Gläubigen enttäuscht. So wie Trump, als er kürzlich für seine Impfempfehlung ausgebuht wurde. Man sah ihm fast das schlechte Gewissen an. Die Reaktion hat ihn scheinbar überrascht.

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