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0803
Atlantische Turbulenzen

#4 – New York (2)

Am Gate 18 standen zwar keine Abflugzeiten nach irgendwohin, dafür aber jede Menge Menschen. Mit einer gewissen hysterischen Schärfe in der Stimme und wie der Landessprache nicht mächtig schrie ich eine rumstehende Uniformierte an: „Boston? Boston!“ und sie, ebenfalls sprachunfähig, wies stumm auf die Schlange. Ich erwog, mich aufzuregen, weil sicher der letzte Sitzplatz einer denkbaren Maschine nach Boston gerade, bevor ich dran wäre, weggegeben würde, aber ich war zu ausgelaugt, um mich ernsthaft darüber zu sorgen, und so bekam ich denn auch eine Bordkarte – allerdings für Flug Nummer 819, der auf dem Monitor als vor 20 Minuten gestartet angegeben war. Erneut wandte ich mich ans Personal, das aber ebenfalls kein großes Vertrauen in meine Sprachkenntnisse zu setzen schien, sondern sich schlicht mit „Wait!“ beschied. Das taten übrigens mehrere andere hundert Gestrandete auch, bloß, dass sie, wie sie bereitwillig, wenn auch verzweifelt, auf Anfrage erklärten, nach Miami oder Philadelphia wollten.

Foto: 06Photo/Shutterstock

In dieser ausweglosen Lage flüchtete ich mich in den Hort der Clipper-Class-Lounge, auf die ich als Nicht-Klubmitglied zwar keinen Anspruch hatte, wo ich mir aber zuvorkommende Menschen mit Übersicht erhoffte.

Foto links: Black Salmon/Shutterstock | Foto rechts: Ragne Kabanova/Shutterstock

Jedenfalls wurde ich nicht rausgeschmissen. Alles sei durcheinander, sagte mir eine knallbunt geschminkte Mütterliche (Margot hätte sich gewundert) und: „Happy Easter!“. Nachträglich meine ich, sie hätte ein Papphütchen aufgehabt und „Alaaf!“ gerufen, aber da spielt mir wohl – wie so oft – meine Erinnerung einen Streich. Der Monitor besage, dass die Maschine mit meiner Flugnummer schon abgeflogen sei, vernünftelte ich. Darüber sollte ich mich nun gar nicht aufregen, fand sie.

Foto: niktalena/Shutterstock

„They are just computers. Just computers. Not even human beings.“ Ich ließ mich nieder mit einem Gin Tonic, ging zum Gate, wo alles noch war wie vorher, einschließlich der Schwachsinnigen-Auskunft „Wait!“, kehrte wieder zurück in die komfortable, aber überhaupt nicht weiterführende Lounge und trottete abermals zum Gate, wo gerade eine Tür geöffnet wurde, durch die ein paar Menschen gingen. Ich hielt der Stewardess meine Bordkarte hin, sie nickte lebhaft und ließ mich passieren.Wahrscheinlich werde ich jetzt nach Minneapolis geschafft, dachte ich, aber das ist wenigstens schon mal: weg.

Foto links: Direk Yiamsaensuk/Shutterstock | Foto rechts: LightField Studios/Shutterstock

Zunächst aber musste ich ein gutes Stück das Rollfeld überqueren, einen Bus besteigen, der, wie mir schien, eine orientierungslose Rundfahrt für die abwechslungsbedürftigen Insassen einer aufgeklärten Irrenanstalt kreuz und quer über den Flugplatz unternahm, dann aber hielt er vor einer kleinen Propellermaschine, deren tröstliche, aber doch Argwohn erregende Aufschrift ‚PAN AM‘ lautete. Meine Hoffnung, es handele sich um einen Irrtum, ließ ich im raumlosen Inneren des Gefährts fahren, das einzig Gute war, dass der Floh wohl nicht zu hüpfen beabsichtige, jedenfalls raste er, wie mit Mühe aus einem Schnapsglas entronnen, zwanzig Minuten lang herum, so dass ich zu meiner Nachbarin scherzend bemerkte, dass bald die ersten Lichter von Boston zu sehen sein müssten. Sie kam mit vierstündiger Verspätung aus Lissabon und hatte ihren Humor auf der Strecke eingebüßt.

Foto links: gurezende/Shutterstock | Foto rechts: Paparacy/Shutterstock | Foto unten: Monster4711/Wikimedia

Der Floh hielt, der Captain meldete sich und sagte, wir hätten jetzt Startnummer 24 und es würde wohl noch eine Weile dauern. Alle fünfzehn Minuten verteilte eine Stewardess, die sicher auch Kopilot war, winzige Plastiktütchen mit staubigen Crackern, was wohl ablenkend gemeint war, aber – zumindest bei mir – seine Wirkung verfehlte. Nachdem sie so fünfmal die Partygebäckbestände geplündert hatte, sagte der Captain, nun seien wir schon Nummer 4, und dann ging es auch irgendwann los, was natürlich wesentlich wackeliger war als Stehen, aber hoffentlich auch zielführender.

Foto: motive56/Shutterstock

26 Kommentare zu “#4 – New York (2)

  1. „They are not even human beings“ dage ich mir beim nächsten Totalausfall auch. Egal ob Computer oder Menschen die Probleme verursachen 😆

    1. Etwas, das keine Odyssee ist, ist Stillstand, nach abendländischer Auslegung. Wie man die Reise gestaltet, erträgt, einordnet und reflektiert – das macht den Unterschied.

  2. Humor ist, wenn man auch nach dem dritten überfüllten Bus, dem vierten verpassten Zug und dem fünften verspäteten Flieger noch verknuffen lächeln kann.

    1. Sie wissen, ich finde: Je schlimmer etwas zu erleben ist, desto reizvoller ist es zu beschreiben, und umgekehrt. Ich (alb?)träume immer von dem Tag, an dem die Tagesschau beginnt: „Heute ist nichts passiert. Wir kommen zum Wetter.“
      Aber „Im Westen nichts Neues“ ist eben nur ein sarkastischer Buchtitel.

  3. Die Dame in der Lounge zieht das Papphütchen auf und wirdt mit Konfetti um sich, der Bankangestellte zeigt auf die versteckte Kamera in der Ecke und der Schaffner im verspäteten Zug zieht die Gummimaske vom Gesicht und entpuppt sich als Hape Kerkelng. Die Situation kennen wir (gefühlt) alle.

      1. Ach Gott, Karneval von morgens bis abends ist auf Dauer aber auch ein klein wenig anstrengend.

      2. Ach so, ich dachte den gibt es, damit die ganzen verkrampften Langweiler auch mal feiern dürfen. LOL

    1. In den Neunzigern hiess es doch ‚Das ganze Leben ist ein Spiel“. Da hat sich seitdem auch nicht viel dran geändert 😉

      1. Es ist ein Spiel auf Leben und Tod. Allerdings steht, anders als bei „Mensch-ärgre-dich-nicht“, der Ausgang bereits fest. So muss man die inzwischen abgedroschene Erkenntnis ernst nehmen: Der Weg ist das Ziel.

      2. Der Ausgang steht fest und bereits seit ein paar tausend Jahren müssen die Menschen Wege finden mit diesem Umstand zurechtkommen.

      3. Alles wiederholt sich. Da können wir uns noch so „special“ fühlen. Dieses Leben haben schon ziemlich viele Menschen vor uns gelebt.

  4. Mein langwierigstes Flugerlebnis war mal von Frankfurt nach Bangkok. Was auf dieser Reise schief gegangen ist reicht für die nächsten Jahrzehnte.

      1. Nein nein, die ausführliche Geschichte spar ich mir für den Fall auf, dass ich mal einen eigenen Blog habe 🙂 Nur so viel: es war vom defekten Triebwerk, über einen kurzen Notarzt-Zwischenfall auf halber Flugstrecke, bis zum Motorschaden im Taxi auf dem Weg zum Hotel alles dabei.

  5. Oh Mann, da geht es die ganzen Tage um Flugstress und gerade lese ich, dass eine Maschine der Ethiopian Airlines abgestürzt ist. Wie unglaublich schrecklich!

    1. Davon have ich auch gerade in den Nachrichten gehört. Und es ist die zweite Boing 737 in kurzer Zeit. Und ich rede mir auch immer ein, wie sicher fliegen ist.

      1. Diese Unglücke sind unfassbar schrecklich. Man kann die Tragik fast nicht nachvollziehen. Verrückt machen darf man sich natürlich auch nicht.

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