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Atlantische Turbulenzen

#1 – Atlantische Turbulenzen

Trump, Kim Jong-un und Putin beschäftigen uns ja eigentlich schon genug. Trotzdem kommen die Probleme von Großbritannien, Syrien und Afghanistan dazu. Obendrauf Dieselskandal, Umweltzerstörung und Europakrise. Reicht es nun? Nein, jetzt ist auch noch Venezuela auf einen der vorderen Plätze in unserer Angstparade aufgerückt. Werden wir dadurch dünnhäutiger oder abgebrühter?

Venezuela! 8200 Kilometer weit weg. Ein einziges Mal war ich dort. Erst hatte ich Aufnahmen mit dem Geiger Gidon Kremer in Boston, unterstützt von meiner New Yorker Kollegin Alison, dann flog ich zu meinem Freund Bill nach Houston. Er war oft in Deutschland gewesen, ich selten in Texas. Der übliche Brief an meinen Freund Pali gibt Einblicke, die immer noch Gültigkeit haben. Der weite Weg von der Schnulze zum Kampflied:

Querido señor Pali!

Na ja, immerhin. Eine inzwischen milder gewordene Sonne scheint mir ins Gesicht. Rechts von mir tobt, unten, der heulende Verkehr, und links von mir tobt ein Junge im kleinen Pool und hält die türkisfarbene Wasseroberfläche in Bewegung. Dahinter einige Tische mit langen blauen Decken und Korbstühle mit blauen Postern. Die Tische sind schon fürs Abendessen gedeckt, eine lange Markise grenzt die Stillleben aus Servietten und umgestürzten Weingläsern gegen den Himmel ab, und auch über mir wölbt sich eine Markise, unter der die hinsinkende Sonne matt hervorlugt. Dass ich ansonsten von Mauern und Gittern umgeben bin, fällt nicht weiter auf, weil an den drei nicht von Esstischen gesäumten Seiten Palmen und Grünpflanzen wuchern. Rechts neben mir täuscht gar ein schmales Beet Urwald vor, bevor, jenseits des Gitters, die Wand zwanzig Meter hinabstürzt, und da unten beginnt die Katastrophe, deren Lärm gegen meine Mauer peitscht wie wüste See gegen den Kai. Hier oben kommt davon nur ein südliches Geräuschegemisch an, das man, weil Entfernung ja alles abmildert, zwar nicht als angenehm empfinden kann, aber auch nicht als bedrohlich empfinden muss, sondern vielleicht als aufregend. Sichtbar jedenfalls werden jenseits des Gitters nur entfernte Häuser, dicht gedrängt und dennoch von üppigem Grün durchbrochen.

Natur und Menschen sind einander Feinde, hier besonders: Er wütet seinen Beton, scheinbar wahllos, in ihren Panzer aus Moosen, Blättern, Blüten, gräbt und pfählt Löcher, Abgründe und Wunden in ihre Erde, und sie schlägt zurück, überzieht alles mit weiteren Moosen, weiteren Pflanzen, die Asphalt und Beton aufbrechen, sie wuchert alles, was nicht täglich ‚gepflegt‘ wird, zu, sie macht alles, was die Menschen gebaut haben noch hässlicher und stellt sie bloß, indem die Natur in der menschlichen Verwahrlosung ein Prinzip offenlegt, das dem chaotischen Dschungel fremd ist. Sie schickt die Armeen ihrer Zikaden, Ameisen, Käfer und sie schickt ihre Feuchtigkeit, die den Putz blättern und die Abfälle schimmeln lässt. Wo sie aber den Kampf – vorübergehend – aufgegeben hat, da ist es am schlimmsten. Dort, wo Unmengen von Asphalt ausgegossen sind, wo monumentale Betonbrücken wie Krakenarme in die ungeordneten Häuserschluchten krallen, wo immer etwas aufgebuddelt und etwas zugeschüttet ist, alles begonnen, nichts beendet, und selbst in den Außenbezirken, in denen noch oder wieder Pflanzengrün fingert, sieht es so aus, als hätten sich Heere überfütterter Betonmischmaschinen erbrochen. Doch die Menschen scheinen ihren Werken nicht zu trauen. Sie vollführen sie träge, aber ohne Andacht. Schönheit kann kein Maßstab für sie sein, sonst könnten sie nicht leben in dieser Mischung aus unechtem Zivilisationsglanz und ehrlichen Trümmern. Sie sehen das, aber sie bemerken es nicht. Auch Zeit ist kein Maßstab. Alles dauert lange, jeder bewegt sich schleppend, zu Fuß oder im Auto, und dabei herrscht ein Gleichmut, der nur den Fremden nervös macht.

Foto: Vadim Petrakov/Shutterstock

Zeit, das ist ein Luxus, den sich hier jeder leistet, für viele sicher der einzige. Überall beobachten Menschen, angelehnt oder hockend, irgendetwas mit schläfrigem Staunen: eine Frau, ein Auto, ein Tier. Sie verfolgen die Bewegungen dessen, was sich bewegt und bleiben reglos in dumpfer Sehnsucht. Und vielleicht kann es auch nicht anders ein, vor und in diesen engen, eng aneinander liegenden Häusern, eingepfercht in das zerhackte Grün und bedrängt von der Gewissheit, nicht entrinnen zu können und nichts ändern zu können. Von meinem Platz aus sieht man die Häuser nur durch die gummibaumartigen Pflanzen, die sich auch jenseits des Gitters noch einen halben Meter breit fortsetzen, bevor das Beet in der Mauer endet. Darüber die hohe Bergkette in nur geringer Entfernung: Begrünt, doch hauslos – die steilen Hänge lassen nicht gedeihen, was höher wachsen will als Efeu und Sträucher. Erst oben, auf der Spitze, die am tiefsten in den Himmel stößt, zeugt ein Turm wieder von menschlichem Eroberungsdrang. Noch darüber die Markise, von der mein Blick wieder in kurzer Kopfbewegung hinabgleitet auf dieses Papier, das mir mit seinen Begrenzungen die Luft zu nehmen scheint, aber vielleicht ist es auch nur die Stadt mit ihrer weichen, feindseligen Wärme.

Foto: H. R./Privatarchiv

Hamburg

Ich glaube nicht an Vorzeichen, ich habe mich dazu zwingen müssen, nicht an sie zu glauben, weil ich sonst mein Bett nicht mehr verlassen könnte – und wenn auch die Freuden und Ängste, die man sich dort selbst bereiten kann, grenzenlos scheinen, widerspricht diese Art von Abenteuern, wenn sie ausschließlich bleiben, doch dem, was ich mir unter Leben vorstelle.

Foto: SergeyIt/Shutterstock

Dass mir schon in der Nacht elend war, hatte drei Gründe: erstens der Alkohol vom Vorabend, zurückzuführen auf ein konfrontationsgeladenes Abendessen, bei dem es zu Ausbrüchen zwischen Roland und seiner Mutter kam. Sie weigerte sich, Rouge aufzulegen („Die Kunden mögen mich auch so.“), vermutlich in Anlehnung an den Spruch ihrer Jugend: ‚Deutsche Frau schminkt sich nicht.‘ Er fand, als Empfangsdame in einem Kosmetiksalon muss man nicht als bleiche Schlampe rumschlurfen. Darüber wurde es grundsätzlich, und Roland äußerte mitfühlendes Verständnis, dass sein Vater sie nicht habe ertragen können. Margot tränte aus verbissenem, ungeschminktem Gesicht und sagte trotzig: „Das mit den Atombomben ist noch viel schlimmer.“ Einwände, die zurück zum Ursprungsthema geführt hätten, ließ sie nicht gelten, sondern beharrte: „Ihr habt nichts gelernt aus unseren Fehlern!“ Ich glaube, sie äußerte im weiteren Verlauf der Debatte noch die Überzeugung, dass die Welt von Juden und Negern sowohl regiert als auch zugrunde gerichtet würde, und ich hörte aus dem Schlafzimmer, wo ich mit fahrigen Bewegungen meine Koffer packte, dass Roland sie anschrie: „Ja, für dich war es vielleicht besser, aber mich hätten sie wegen meiner Veranlagung umgebracht.“ Rolands Schwester Karin, seit neun verfeindeten Jahren erstmals wieder auf Besuch, da man über Vater Kunos Leiche erneut ins Gespräch gekommen war, hatte Familie erstmals wieder hautnah und verstummte.

Foto: Reginast777/Shutterstock

Gemütlicher war es bei Rinkes zugegangen. Da war notgedrungen Ostern am Karsamstag vorgefeiert worden, mit Kaviar, Lachs und Dorothee, und natürlich mit vielen hart gekochten Eiern, ein harmonisches Spätfrühstück, von netter Frühlingssonne versilbert.

Zuvor noch hatte ich bei ‚Brinkmann‘ im Gedränge des langen Samstags für schwindelerregende dreihundertundsiebzehn Mark den hässlichsten Gegenstand erworben, den ich in meiner an Geschmacksunsicherheiten nicht armen Laufbahn je gekauft habe: eine stoß- und tropenfeste ‚Kameratasche‘, auch als Rucksack zu tragen, in unsäglichem Armeleuteblau, mit Fächern für dies und jenes. Niemals in meinem Leben habe ich so ungern Geld für etwas ausgegeben und trage sie seither in unzertrennlichem Hass über die Kontinente.

Zweitens: die Fischvergiftung von den im Oktober in Amsterdam erworbenen Matjesheringen, die das Herzstück des feierlichen Abendessens mit Steinbergs gebildet hatten, da mir das Haltbarkeitsdatum für die Tiefkühltruhe von drei Monaten als eine EG-typische Übertreibung vorgekommen war: zu Recht, aber das wusste ich ja, als ich nächtens elend lag, noch nicht. Drittens: die Hepatitis von den Austern der vorigen Woche, die, nachträglich bekostet, so was Flaues im Geschmack gehabt hatten.

Foto links: NatalyaBond/Shutterstock | Foto rechts: Tuzemka/Shutterstock

Vage zog ich auch die Vorfreuden der Reise als Ursache meiner Befindlichkeit ins Kalkül – und als ich mich am Ostermorgen zwar nicht deutlich besser, aber ganz deutlich nicht schlechter fühlte, beruhigte ich mich, dass es wohl das Ewig-Übliche sei, und verließ das Bett. Diesen leichtfertigen Schritt seither zwar täglich bedacht, aber trotzig nicht bereut zu haben, legt Zeugnis ab von meiner unbändigen Kämpfernatur.

Foto: BonNontawat/Shutterstock

Roland war sehr fürsorglich und bereitete mir das Frühstück zu, bestehend aus zehn Tropfen Kamillenextrakt, mit heißem Wasser aufgegossen. Danach brachte er mich sogar zum Bahnhof Holstenstraße, wo zwar nicht die S-Bahn nach New York abfährt, aber immerhin eine Taxe stand, die einzige in ganz Hamburg am Ostersonntag um zehn, vorher unterwegs war keine zu haben gewesen. Die kleine Verspätung brachte den vom Kamillentrunk notdürftig überdeckten Magenprickel zurück, aber es hätte mich sicher auch nicht getröstet, wenn ich damals schon gewusst hätte, dass dies das letzte Mal sein sollte, dass ich auf dieser Reise in Eile war.

Foto links: kazmulka/Shutterstock | Foto rechts: images72/Shutterstock

Als ich den Sitzgurt festschnallte, fand ich, dass alles seine Richtigkeit hatte. Gewiss, Fensterplätze hatte es nicht mehr gegeben, aber wer braucht das schon nach Frankfurt? Dass neben mir und hinter mir Kleinkinder saßen, war üblich, natürlich würde die blässliche, junge Frau auf der anderen Seite des Ganges gleich nach dem Start Zigarre rauchen und mein Vordermann seinen Sitz bis auf meine Knie herunterklappen. – Aber was machte das schon? Aufsteigen aus diesem trüben Apriltag, die lasche Luft des Alltäglichen hinter sich lassen und: weg. Erst mal allerdings nur bis Frankfurt. Das völlig besoffene Gekippel während der Landung zwang ich mich, nicht so ernst zu nehmen – am Gang hat man als Passagier ja nicht so den Überblick wie am Fenster. Als dann aber das Rollfeld erst sichtbar und dann immer kleiner wurde, fand ich, das könne mit Optik nichts zu tun haben. Nach etwa fünf Minuten, während derer in meiner Vorstellung das Rollwerk abgefallen, die Tragflächen weggebrochen und die Motoren einer nach dem anderen in Flammen aufgegangen waren, meldete sich der Kapitän und erklärte, dass eine Sportmaschine unerlaubt die Rollbahn überquert und ihn zum Durchstarten gezwungen hatte. Er lügt, dachte ich. Aber was soll er machen?

Foto: diy13/Shutterstock

Die Maschine landete dann doch beim zweiten Mal artig, vierzig Minuten vor dem Abflug meines Anschlusses nach New York. Mein hibbeliges Eiltempo, mit dem ich schon gleich im Aufstehen das Schicksal oder das Flugzeug aufhalten wollte, erwies sich als überflüssig: Die Flughafenleitung kam mir kulanterweise mit riesigen Verspätungen für sämtliche Starts entgegen. Weniger entgegenkommend waren die wartenden Massen, eine geballte Ladung Mensch. Sie saßen, sie hockten, sie standen. Wollten die wirklich alle nach New York? Für mich war kein Platz mehr. Jedenfalls nicht vor diesem Gate. Nach Indien wollten weniger Leute, da waren noch Lücken auf den Bänken. Also?

Foto: NicoElNino/Shutterstock

25 Kommentare zu “#1 – Atlantische Turbulenzen

  1. Die Probleme werden beileibe nicht weniger. In Nordkorea scheint das Ärgste ja erstmal abgewendet, in Großbritannien werden die Stimmen für ein zweites Referendum lauter. Vielleicht wird doch einmal alles besser.

    1. Die Bedrohung durch Nordkorea als Atommacht bleibt bestehen. Allerdings kann man tatsächlich beruhigt sein, dass Herr Trump die Lage nicht verschlimmert hat.

  2. Vorzeichen sind mit auch gruselig. Ich habe noch nie verstanden, wie Leute daran glauben können ohne durchzudrehen.

  3. Ich habe ja wirklich keine Flugangst, aber langsam denke ich schon, dass nach all den unproblematischen Flügen auch irgendwann mal eine riskante Situation dabei sein muss. Rein statistisch.

    1. Fliegen ist immer noch das sicherste Verkehrsmittel. Wenn Sie noch keinen Autounfall hatten, ist ein Flugzeugunglück umso unwahrscheinlicher.

  4. Eine Lebensmittelvergiftung will man wirklich nicht haben. Ich habe zwei hinter mir und hoffe es kommt keine weitere dazu.

    1. Da fällt mir die Geschichte rund um dieses spanische Sterne-Restaurant ein. Da gab es doch neulich rund 30 Vergiftungen und gar einen Todesfall. Schrecklich.

      1. Im Ernst? Wie ist es denn dazu gekommen? In hochklassigen Restaurants denkt man ja erstmal nicht an so etwas.

      2. Valencia

        Die Tore des spanischen Nobel-Restaurants „Riff“ in Valencia werden nach einer wahren Tragödie vorübergehend geschlossen: Eine Frau starb an den Folgen einer Lebensmittelvergiftung – 28 weitere Restaurantgäste wurden nach Angaben spanischer Gesundheitsbehörden ebenfalls vergiftet.
        Ich dagegen hatte nichts auszustehen, sondern mache mich in diesem Brief lustig über meinen hypochondernden Argwohn.

      3. „Food inspectors visited the restaurant on February 18 but did not find any explanation for what could have contributed to the outbreak, reads the statement from the public health department.“ Rätselhaft. Da versteht man die hypochondrischen Anfälle jedenfalls gleich besser.

      1. Eine Freundin von mir sagte schon 1980: „Briefe sind immer Mist – im Büro ist es Arbeit, zu Hause sind es Rechnungen!“ Daran hat die Digitalisierung auch nicht viel geändert.

      2. Und je weniger die Menschen schreiben, desto höher die Rechnungs-Ausbeute.

      1. Interessant. Meinen Erlebnissen nach wird es in Zeiten von Low-Cost-Tourismus sehr viel schwieriger bei Problemem UNterstützung zu bekommen. Aber immer gut, wenn es auch positive Beispiele gibt.

      2. Bischen anderes Thema, aber was sagte nochmal der Ryanair-Chef? „Jeder der glaubt ein Flug mit uns ist eine Entspannung, hat sich geschnitten. Wir bombardieren alle mit so vielen Ansagen und Verkaufsangeboten wie wir können. Und wer trotzdem einpennt, den wecken wir auf und versuchen ihm was anzudrehen.“

  5. New York ist auch viele Jahre später noch Synonym für ein besseres, aufregenderes, cooleres(?) Leben. Trotz aller Veränderungen scheint dieses Image unverwüstlich.

    1. „If you can make it there you make it anywere …“ Was bedeutet ‚cool‘?`Selbstbestimmt, eigenwillig, trendy? Ein cooles Leben in New York ist ziemlich anstrengend. Sich das anmerken zu lassen, ist extrem uncool.

      1. New York City ist nicht nur hippes Wohlfühlleben zwischen Flat White und Veggie Bowl. Klar, die Stadt ist weltoffen und divers, aber wer dort (finanziell) überleben will brauch eine ganze Menge Durchhaltevermögen.

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