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Atlantische Turbulenzen

#17 – Caracas (8)

Gegen drei lief ich wieder zurück, denn es hatte angefangen in Strömen zu gießen: im April! In Caracas!! Bloß um mich zu demütigen!!! Bill lag da wie tot, und ich stellte fest, dass er eine halbe Flasche Rum ausgetrunken hatte. An einem Röcheler bemerkte ich allerdings mit Erleichterung, dass er noch lebte.

Foto: Syda Productions/Shutterstock

Mein Bauch ziepte wieder etwas mehr, und so legte ich mich auch ins Bett. Gegen halb fünf wachte ich auf. Es hatte aufgehört zu regnen, Bill wälzte sich im Halbschlaf. Das Telefon klingelte, Bill griff hastig nach dem Hörer, aber es war für mich. Der Autoverleih wollte wissen, wann ich denn den Wagen brächte. „Morgenabend“, sagte ich, und zu Bill: „wir werden besser allein fahren.“

„Nein, ich will nicht“, antwortete Bill, „fahr du doch mit denen.“

„Dazu hab’ ich keine Lust“, erklärte ich, „außerdem sprech’ ich kein Spanisch. Ruf bitte bei Abel an und sag, wir kämen nicht mit. Bill erwischte Abel gleich bei der richtigen Schwester und redete lange mit ihm, halb auf Spanisch, halb auf Englisch und machte dabei einen nahezu aufgekratzten Eindruck. Kaum hatte er aber den Hörer auf die Gabel fallen lassen, da umflorte sich sein Blick wieder: „Die anderen fahren übrigens auch nicht.“ Ich machte Bill klar, dass es ihm nichts hülfe, im Bett zu brüten, außerdem fände ich sein ganzes Verhalten mir gegenüber doch sehr merkwürdig, schließlich hätte er mich eindringlich aufgefordert, zu ihm zu kommen, es sei nicht mein Vorschlag gewesen. „I’m sorry, I’m sorry“, sagte er und schlug sich in einem weiteren Verzweiflungsausbruch die Bettdecke vors Gesicht.

Foto: B-D-S Piotr Marcinski/Shutterstock

Ich hatte nun genug und fuhr mit meiner Kamera per Taxe zum Botanischen Garten, danach machte ich noch einen Stadtbummel, bei dem ich mich davon überzeugte, dass Caracas wirklich so war, wie ich es schon kannte.

Bei meiner Rückkehr grinste mich das Zimmermädchen scheel an: „Sleep-much-man!“ – Immerhin war es ihr gelungen, die Handtücher zu wechseln.

Foto: Africa Studio/Shutterstock

Bill war wach und eigenen Bekundungen zufolge „depressed“. Er wiederholte, wie sehr er sich aufs Totsein freue, dann stiegen ihm erneut Tränen in die Augen, weil ihn noch nie, wirklich noch nie jemand geliebt habe, den er liebe. Es lieben ihn immer nur Leute, aus denen er sich nichts mache. Ich versuchte, ihn zu beschwichtigen und zu trösten, fand ihn aber eigentlich mehr verdreht als verzweifelt. Ein einziges Jahr noch mit jemandem glücklich sein, wünsche er sich. Und das wünscht sich wohl jeder. Nur wer das nie erlebt hat, der weiß nicht, dass dieses Glücklichsein die Summe vieler Alltäglichkeiten, Ärgernisse, Kränkungen und Zugeständnisse ist, denen ein paar unbeschwerte Augenblicke und eine Grundstimmung der Zusammengehörigkeit Glanz verleihen. Wer stattdessen nach zwölf Monaten Honeymoon im Jahr sucht, sucht verkehrt und scheitert.

Foto: Tiko Aramyan/Shutterstock

Ich merkte, dass ich nicht viel ausrichten konnte und ging wieder an den Pool, um weiterzulesen.

Die Dämmerung war schon in Dunkelheit übergegangen, der Pool war erleuchtet. Die ersten wenigen Gäste nahmen zum Abendessen Platz. Es duftete nach Wärme und gegrilltem Fisch. „Vielleicht sollten wir hier essen“, dachte ich. Bei zwei, drei Gläsern Wein wird sich Bills Stimmung womöglich bessern.

Foto: Mr. JK/Shutterstock

Als ich das Kapitel beendet hatte, fuhr ich mit dem Fahrstuhl nach oben und begegnete Bill im Gang. Er war gebadet und parfümiert und wollte mit ‚This Boy‘ auf einen Drink gehen. Aber es würde nicht lange dauern, höchstens zwei Stunden.

Foto: Syda Productions/Shutterstock

Ich legte mich aufs Bett und dachte nach. Allein essen wollte ich nicht, ein Fastentag würde mir sicher nicht schaden, ein alkoholfreier Tag erst recht nicht. Ich stand auf, nahm den Block und fuhr wieder hinunter. Das Beste würde es sein, erst mal die Ereignisse des heutigen Tages festzuhalten, Schreiben hilft immer. Zu meiner Überraschung saß Bill am Pool und starrte in dem Bewusstsein, der unglücklichste Mensch der Welt zu sein, in die dunkelbraune Cola vor sich.

‚This Boy‘ war noch nicht erschienen. Nur um ihm endgültig zu beweisen, dass ihn wirklich niemand liebe, glaubte Bill. Ich wollte nun aber doch wissen, warum ihm an ‚This Boy‘ so viel lag. „Er ist in derselben Situation wie ich“, sagte Bill. „Er liebt jemanden aus Houston, den ich kenne und der ihn nicht liebt.“

Foto: Alicia G. Monedero/Shutterstock

Gemeinsames Leid bindet wohl. Da sitzen sie dann vermutlich beisammen und klagen einander was vor, bevor sie sich stundenlang in der Disco zulärmen lassen, unfähig das Wort an jemanden zu richten. Viele dieser Menschen, auch die, die ich bisher für jünger gehalten hatte, sind knapp über dreißig. Aber entweder sind sie früh vergreist oder mit siebzehn stehengeblieben, oder ich versteh’ überhaupt nichts mehr.

Foto: Evannovostro/Shutterstock

Wo ist die Aufbruchstimmung, die Entdeckerfreude meiner Generation? Wo ist das Gefühl, dass Rückschläge kämpferisch machen und nicht entmutigen? Es wäre mir lieb, wenn es mir erspart bliebe, meiner Jugend weinerlich nachzutrauern, obwohl ich spüre, dass ich die Neigung dazu habe. Aber dann trauere ich höchstens meinem Jungsein in meiner Zeit nach, dem Jungsein heute bestimmt nicht.

Als ich auf der Fahrt zum deutschen Dorf die Sprache auf die politischen Verhältnisse in Venezuela gebracht hatte, sagte Bill: „Früher war ich ja sehr rechts, dann bin ich vor Kurzem ganz links geworden, aber eigentlich will ich nur das Chaos.“

Foto: jax10289/Shutterstock

Bill ging nach oben und rief noch einmal bei ‚This Boy‘ an, dieses Mal sogar mit Erfolg. Er hätte seine Haustürschlüssel nicht gefunden, sagte ‚This Boy‘, jetzt bekäme er aber die seiner Mutter und führe gleich los.

„Geh nachher nicht wieder in den Club“, mahnte ich, „sonst siehst du wieder Romolo und verlierst die Fassung!“.

„Er wird heute nicht da sein“, antwortete Bill. „Zufall, dass er gestern da war. Sonst geht er nie aus. Außerdem, wenn er da ist, gehe ich natürlich gleich wieder.“

Natürlich! Ich jedenfalls ging nun – Viertel nach elf – schlafen. Vor die Tür drängte mich nichts, heute. Das traf sich gut, denn sicher wäre ich schrecklich erfolglos, weil ich nichts wichtig genug fände, um es auszusprechen. Außerdem weist man dem Glück nicht ungestraft die Tür oder lässt es gouvernantenhaft wegschicken. Wenn es aber allzu sehr an Klaus Bülow erinnerte, wär es ja vielleicht auch gar nicht das Glück, sondern ganz etwas (jemand) anderes. Ich glaube, Frauen können nie so dumm sein wie Männer.

Foto: DesignRage/Shutterstock

28 Kommentare zu “#17 – Caracas (8)

    1. Als ich jünger hätte ich das wahrscheinlich auch geschafft. Heute halte ich mich lieber an Mineralwasser und ab und an ein Gläschen Wein. Man lernt ja doch dazu.

      1. Dazwischenkommen kann natürlich immer etwas. Das Leben spielt einem ja gerne mal einen Streich.

  1. Man könnte auch ganz generell in seine Umwelt fragen: Wo ist denn die Aufbruchstimmung, die Entdeckerfreude geblieben?

      1. Ach stimmt ja, Political Correctness ist der neue Liebling der Massen. Wer treffsicher Personalpronomen einsetzt und Hafermilch bestellt ist dann auch schon Aktivist.

      2. Das ist sicher was dran. Aber man tut natürlich denjenigen Unrecht, die versuchen zumindest Wert auf ihre eigenen Taten zu legen.

      3. Was aber sicher stimmt, ist dass die großen Ziele oft durch zu viel Ärger um Kleinigkeiten aus den Augen verloren werden.

  2. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und manchmal hält man es mit Mitleidenden einfach am besten aus. Den neutralen Blick von außen will man ja meist gar nicht hören.

      1. Wenigstens eine unglückliche Liebe gehört vor dem Tod in jedes ausgefüllte Leben. Schlimm, wenn dabei das Unglück aus dem Erkalten der einst Großen Liebe besteht.

      2. Je größer die Gefühle, desto höher das Ausmaß des Schmerzes im Falle einer Enttäuschung. Das ist wohl unausweichlich.

      3. Ob man eine unglückliche Liebe erleben muss würde ich in Frage stellen. Eine Liebe, die so groß ist, dass sie Potential zum Unglücklichwerden hat, das ja.

  3. Nach einem Glas Wein bessert sich meine Stimmung meist. Nach zwei, drei kehrt sich der Prozess oftmals wieder um.

  4. Das klingt so richtig: manchmal ist nichts wichtig genug es auszusprechen. Darum ist Small Talk oft auch so anstrengend.

      1. Schweigen ist Gold 😉 Als Dauerzustand wird das allerdings auch langweilig.

      2. Schweigen allein ist auch keine Lösung aber
        „einen Vorsprung im Leben hat, wer da anpackt, wo die anderen erst einmal reden.“

    1. Hat nicht mal jemand behauptet es gäbe gar kein schlechtes Wetter? Ich fand die Aussage schon immer ziemlich idiotisch. Wenn ich einen Badeurlaub geplant habe, ist Regen doch wohl ein wenig hinderlich.

  5. Ich glaube in der Dummheit sind Frauen und Männer relativ gleichberechtigt. Ganz grundsätzlich scheint die Menschheit sowieso weitaus dümmer zu sein, als man gemeinhin annimmt.

      1. Das ist eine Frage der Disziplin. Wenn man sich nicht einredet, die Menschheit sei lernfähig, fällt es morgens schwer aufzustehen.

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