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Atlantische Turbulenzen

#6 – Boston (2)

Ich stieg also zehn vor acht vor der Symphony Hall in eine Taxe, nachdem ich Ozawas Entzücken über die erfolgreich verlaufene Nachaufnahme geteilt und mit ihm für den nächsten Tag, 19 Uhr, eine Verabredung getroffen hatte. „To the ‚Four Seasons‘ and then to the ‚Chart House‘“, bat ich. Ich hatte keine Ahnung, wo das ‚Four Seasons‘ war, aber dann sah ich durch Zufall meinen Fahrer daran vorbeirauschen. Auf meine Schreie hin fuhr er hundert Meter die belebte Hauptstraße rückwärts und ließ mich durch verdrossenes Brummen wissen, dass ich ihn mit meinem blöden Gequatsche vom ‚Chart House‘ ganz aus dem Konzept gebracht hätte.

Foto: cla78/Shutterstock

Dutoit und Tochter standen schon vor der Tür. Sie schienen mir einen Hauch pikiert, weniger wegen der geringfügigen Verspätung als wegen des nahezu unbetretbaren Schrotthaufens von Taxe, wo Dutoit doch Erste-Klasse-Flug im Vertrag hat und immer von der Orchester-Limousine kutschiert wird. Trotzdem erreichten wir das ‚Chart House‘, und es gab keinen Tisch, und Alison war auch nicht da.

Foto: John Panella/Shutterstock

Dutoit nahm das wider Erwarten gelassen. Wir bestellten Drinks an der Bar, wenig später kam Alison mit Komponistin und Geiger (beide hatten sich umgezogen), und eine Dreiviertelstunde danach traf auch Costa mit dem geduschten Tom Forst ein.

Foto: MEDIA666/Shutterstock

Sogar unser Tisch war nun fertig, so dass es ans Bestellen gehen konnte.

Kremer und Gubaidulina wollten durchaus Hummer haben, aber schon ausgepellt, Alison nahm gleich Steak. Was die anderen bestellten, kriegte ich nicht so mit, es war einfach zu laut in dem Lokal, jedenfalls kamen ziemlich merkwürdige Sachen an den Tisch, die überwiegend aus dem Meer zu stammen schienen.

Foto: Alexander Raths/Shutterstock

Dutoit ließ vier Flaschen Wein hintereinander kommen und überließ uns die ersten drei, weil sie ihm nicht so recht zusagten, bei der vierten, nichts Kalifornisches mehr, sondern ein solider französischer Chablis Premier Cru, blieb er dann.

Foto: Rostislav_Sedlacek/Shutterstock

Ich war derweil ein wenig vereinsamt, während sich die anderen gut zu unterhalten schienen. Das lag daran, dass ich mich selbst höflicherweise ans Tischende platziert hatte, nach gegenüber nicht gut kommunizieren konnte und neben mir Gidon Kremer saß, in permanentes Gespräch mit Frau Gubaidulina vertieft. „Eigentlich ist er doch ein eiskaltes, verschlossenes und verbissenes, rücksichtsloses Monstrum“, dachte ich. Da wandte er endlich seinen Kopf und sagte: „Ich habe deinen Artikel über mich gelesen. Es ist wirklich unwahrscheinlich, was du über mich weißt.“ Ich lächelte geschmeichelt und wissend, und mir wurde klar, dass Kremer nicht abweisend ist, sondern eben nur sehr, sehr sensibel. Dann kamen die Hauptspeisen: zwei wunderschöne, ausgewachsene Hummer für mich, die ich mit Begeisterung zu knacken begann und zwei Töpfchen mit Hummergefledder für meine Nachbarn. Die Komponistin, sicher Höheres im Sinn wie etwa eine Fuge für Becken und Bratsche, lutschte flüchtig an einer Schere ohne Schale. Der Geiger führte eine Gabel mit Schwanzstückchen zum Mund, ließ sie dann aber, mehr ermattet als angeekelt, sinken und sagte: „Ich kann nichts mehr essen.“

Foto: Ivana Lalicki/Shutterstock

Dann schob er mir, nun doch mehr angeekelt als ermattet, seinen Napf hin, ich überzeugte mich kostend davon, dass sein Hummer ebenso frisch und köstlich wie meiner war, nur eben total zerpflückt – schob ihm den Napf mit einem Anflug von Gereiztheit, in dem durchaus auch etwas Verachtung lag, zurück und widmete mich weiterhin meinen Bilderbuchtieren.

Fotos: ND700/Shutterstock | 9comeback/Shutterstock

Die Komponistin blickte stumm in ihren luxuriösen Abfall und machte dazu ein Gesicht, als ob sie mit ihrer Beckenfuge nicht recht weiterkäme. Ich hätte sie beide ermorden können, ungeachtet des Verlustes, den das für die Musikwelt bedeutet hätte.

Foto: Ollyy/Shutterstock

Erst kamen überproportionierte Nachtische, Tortenstücke, die wie eingestürzte Denkmäler aussahen, dann kam die überproportionierte Rechnung und dann die Suche nach drei Taxen. Wie sich das abspielte, ist gnädigem Vergessen beziehungsweise den drei von Dutoit, aber nicht von mir verschmähten Weinsorten zum Opfer gefallen, jedenfalls wachte ich am Morgen gegen acht auf, angekatert und in dem Bewusstsein, eine Frühstücksverabredung mit Alison und Gidon Kremer in dessen Hotel zu haben.

23 Kommentare zu “#6 – Boston (2)

  1. „Mit wurde klar, dass Kremer nicht abweisend ist, sondern eben nur sehr, sehr sensibel.“ Wie doch so oft 😉

      1. Künstler sind genauso sensibel (bzw. genauso unsensibel) wie andere Menschen auch. Da wird halt auch nur mit Schubladen gearbeitet um sich zurechtzufinden.

  2. Die Art Wein zu bestellen ist mir sehr sympathisch. Also zumindest wenn man zum Begünstigten wird. Haha!

    1. Ein bischen verschwenderisch vielleicht, aber solange sich bereitwillige Menschen finden, die die nicht zufriedenstellenden Flaschen leeren…

      1. Immerhin nichts lieblich-süßes. Manchmal ist die konservativste Wahl die sicherste.

      2. Ein gescheiter Chablis Premier Cru ist im Allgemeinen einem Himmlischen Mosertröpfchen vorzuziehen, wobei allerdings der enttäuscher Aldi-Kunde Benedikt Hotze über die 8-€-Ware schreibt: „Ganz gewöhnliche, saure Plörre, die keinen nennenswerten Unterschied zum Chardonnay Vin de Pays d’Oc bietet.“

  3. Wie gut für die Klassikwelt und wohl auch für Ihre persönliche Kriminalakte, dass es doch nicht zum Mord gekommen ist.

  4. Ich bin beileibe keine Vegetarierin, aber die armen Hummer bei lebendigem Leibe ins kochende Wasser zu werfen verdirbt mir doch den Appetit.

    1. Fair enough, aber dann muss man auch irgendwie konsequent sein und sich anschauen was auf Schlachthöfen passiert.

      1. Wer Tiere isst, isst Tiere. Da gibt es wirklich keinen großen Unterschied vom Hummer zur Frühstückswurst.

    2. Die Hummer erst in kaltes Wasser zu werfen, ist doch viel gemeiner. Das kochende Wasser ist ein Sekundentod, von dem viele Krebs-Patienten nur träumen können. Allmählich zu verbrühen schafft dagegen eine qualvolle halbe Stunde. Wer liest, dass auch Pflanzen leiden, wenn sie beschnitten werden,
      kann leider trotzdem nicht auf Kieselsteine ausweichen.

      1. Es geht wenn ich das recht verstehe darum, ob es sich um ein fühlendes Lebewesen handelt oder nicht. Die Pflanze zeigt zwar Anzeichen von Stress, aber kein Schmerzempfinden. Ich finde allerdings auch, dass jeder für sich selbst entscheiden muss was und wie er isst. Da sollte es keine Moralpolizei geben.

      2. Abgesehen vom Leid der Tiere geht es aber auch um die Auswirkungen auf unsere Umwelt. Vielleicht nicht in den 80ern, aber doch immerhin im Hier und Jetzt.

      3. Wenn ich die ganzen veröffentlichten Artikel und Meinungen lese, kriege ich allerdings das Gefühl, dass auch dies noch nicht so eindeutig geklärt ist.

    1. Bostoner offenbar schon. Choleriker und Phlegmatiker habe ich zwischen Helsinki und Honolulu in so gut wie allen Berufen erlebt, (wobei ich allerdings mit buddhistischen Bettelmönchen in Thailand keine systemrelevanlen Erfahrungen gemacht habe).

  5. Oha, der Herr mit der roten Sonnenbrille im Video … man würde heutzutage wahrscheinlich von swag sprechen.

    1. Endlich! Ich freue mich sehr, dass Sie diesen Kommentar zum Video machen. Die Filmausschnitte sind ja wesentlicher Bestandteil des Blogs und sollen den Text ergänzen und unterstreichen. Ein Swag gehört genauso dazu wie eine Trash-Food-Geniesserin, und am Ende des übernächsten Abschnitts steht eine lange visuelle Zusammenfassung.

      1. Aber selbstverständlich! Die Tatsache, dass es jeweils passende Videoausschnitte gibt, vervollständigt (oder erweitert zumindest) das Bild für uns Leser. Ein Rinke-Muss 😉

      2. Dabei ist das ja fast ein Kompliment, dass die Texte mehr Aufmerksamkeit erregen als die bewegten Bilder. Meistens ist es ja eher anders herum.

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