Es schaukelte und hoppelte, und obwohl ich mir beschwörend eingeredet hatte, dass ich zu müde und erschöpft sei, um mich noch über irgendetwas aufzuregen, regte ich mich ganz schrecklich auf.
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Grundlos eigentlich, denn wir kamen nach einer guten Stunde an und, wie es der blinde Zufall wollte, mein Gepäck auch, wie immer als letztes. Ich bekam eine Taxe, deren taubstummer Fahrer sogar mein Hotel fand, was bis zuletzt ungewiss gewesen war, denn er ließ mich bis vor der Drehtür des ‚Collonade‛ im Unklaren darüber, ob er überhaupt verstanden hatte, wo ich hinwollte. Mein alle paar Minuten herausgestoßenes „Hotel Collonade‟ ermunterte ihn zu keinerlei Reaktion, aber immerhin das Trinkgeld dazu, mir die Koffer bis auf den Gehweg zu tragen. Durch die Drehtür musste ich dann selber, und wie das ist, kann nur der ermessen, der schon mal versucht hat, das Hindernis einer Drehtür mit fünf Gepäckstücken zu nehmen. Kaum weg von der Straße ließ ich dann auch alles bedenkenlos auf die Auslegware fallen, und zehn Minuten später kam gleich ein hilfsbereiter Mann in Livree, höchst erstaunt, noch einem so späten Ankömmling zu Diensten sein zu dürfen. Weitere zehn Minuten später lag ich im Bett. Geputzte Zähne, aber unausgepackte Koffer. Mitternacht in Boston.
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Gegen acht wachte ich auf. Zum Jetlag hatte ich keine Zeit gehabt.
Die beiden Aufnahmen klappten wie am Schnürchen. Zunächst kratzte Gidon Kremer in vier knappen Stunden das ‚Offertorium‛ genannte Violinkonzert der sowjetischen Komponistin Sofia Gubaidulina ein, von Charles Dutoit am Pult professionell unterstützt: „Orchestermusiker müssen Druck spüren‟, erläuterte er mir, „sonst tun sie nichts.‟
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Die Komponistin war auch anwesend, eine Mittfünfzigerin von margothafter Ungeschminktheit mit grauem Pagenkopf. – Was ihr Erscheinungsbild unterhalb des bunten, grobgestrickten Ostblockpullovers rausriss, waren die schwarzen Lederhosen, die in bis zum Knie reichenden schwarzen Lederstiefeln steckten, „beides vom Feinsten‟, wie Alison, die im Laufe des Vormittags aus New York eintraf, kennerisch vermerkte. „Wenn die mal rauskommen, kaufen die sich von dem, was sie hier verdienen, immer gleich das Teuerste‟, und es lag so etwas in ihrer Stimme wie ‚Was hat die Klofrau auf der Kunstauktion zu schaffen?‛
Ich hätte ihr ja das Dominaoutfit gegönnt, wenn sie bloß das Komponieren sein gelassen hätte, aber Alison sagte, das Stück sei fabelhaft, und da hielt ich dann meinen Mund, bis es was zu essen gab. Dieser Snack im Hotelcafé war natürlich nicht das richtige Essen, aber er bot Gelegenheit, das richtige Essen zu erörtern.
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Ich hatte nach den vier nervtötenden Stunden moderner Musik Gidon Kremer gefragt, wie es denn heute Abend mit Essen sei, und er hatte, das Weltenferne in Blick und Stimme beibehaltend, geantwortet. „Sicher. Frau Gubaidulina wohnt im selben Hotel wie ich, das macht das Abholen leichter. Charly wohnt allerdings im ‚Four Seasons‛, und seine Tochter ist da. Costa kommt sicher auch mit.‟ Costa ist vom Boston Symphony Management, aber „Wer ist Charly?‟, fragte ich Alison beim Rausgehen. „Der Dirigent‟, wurde ich aufgeklärt: Charles Dutoit. Er sagte auch gern zu, vorausgesetzt, dass seine Tochter nichts anderes machen wolle, und das würde er mich gegen sechs wissen lassen, wenn ich ihn anriefe. Aber lange dürfe es nicht dauern, weil er morgen um sieben zur Probe nach New York fliegen müsse, um rechtzeitig zum Konzert am Nachmittag in Boston zurück zu sein.
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Leicht verdrossen merkte ich, wie mir der Abend aus den Fugen geriet. Eigentlich hatte ich mich darauf gefreut, still vergnügt mit Alison im von mir vor zwei Jahren unten am Pier entdeckten ‚Chart House‛ einen Hummer in gediegen gelockerter Atmosphäre zu essen. Dem Einwand, dass wir Kremer mitnehmen müssten, hatte ich mich gebeugt, dass aber nun die Schleusen für die halbe Stadt geöffnet wurden, fand ich ausufernd. Da nun auch der Aufnahmeleiter Tom Forst mitsollte, diskutierten Alison und ich, Sandwich kauend, das Transportproblem. Das ‚Chart House‛, das ich mir in den Kopf gesetzt hatte, lies wissen, es nehme keine Bestellungen an, man solle zusehen und sich die Zeit an der Bar vertreiben.
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Alison beschloss also, vorzeitig hinzufahren, um einen Tisch einzubesetzen. Außerdem musste sie aber, irgendwie danach, Kremer und Frau Gubaidulina abholen. Costa sagte, er würde sein Auto holen und damit zu meinem Hotel fahren, von dort könnten wir eine Taxe nehmen, das sei besser. Vorher, so gegen acht, hätte er aber noch ein Gespräch mit Ozawa, nachdem die zweite Aufnahmesitzung beendet sei. (Dabei handelte es sich um die Nachaufnahme eines A-cappella-Chores aus einem geistlichen Werk von Poulenc, dessen Produktion ich eigentlich im November vorigen Jahres hinter mich gebracht zu haben geglaubt hatte. Beim Abhören hatten sich aber die Chorstellen als unzureichend erwiesen, und so nutzten wir den anberaumten Termin für Kremer/Dutoit auch zum Ausbessern mit Ozawa.) Gegen Viertel nach acht, meinte Costa, könnten wir los. Sein Auto, das er dann ja später vor meinem Hotel stehen lassen wollte, würde er schon vorher holen, er wohne nicht weit. Dutoit sagte, er habe seine Tochter überreden können, Punkt acht würde er in der Hotelhalle warten, und später dürfe es auch nicht werden, und Tom Forst sagte, nach der Aufnahme sei er immer so verschwitzt, da müsse er sich erst mal im Hotel abduschen und umziehen, dann solle ich ihn anschließend doch mitnehmen.
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Jetlag kenne ich von meinen beruflichen Reisen auch nicht. Man ist natürlich ein bischen müde wenn man irgendwo ankommt, aber dann geht’s halt gleich weiter und gut ist.
Müde sein bzw. dem Jetlag zum Opfer fallen ist allerdings auch völlig in Ordnung. Man muss nicht immer performen.
…aber manchmal schon. Das sollte das Jetlag einkalkulieren, wenn es einen besuchen kommt.
Ich sag ja auch nur: wenn man sofort weiter arbeiten muss, dann powert man da eben zwei Tage durch – wenn, man im Urlaub ist und Zeit zum Ausruhen da ist, nimmt man die Müdigkeit einfach mit.
Gidon Kremer, Sofia Gubaidulina … was für spannende Gesellschaft.
Stimmt. Auch wenn Herr Rinke kein großer Gubaidulina-Fan zu sein scheint 😉 Hahaha
Und auch kein sonderlicher Gidon Kremer Fan. Mögen kann man nicht jeden, aber (potentiell) spannende Künstler treffen zu dürfen ist natürlich trotzdem irgendwie auch ein Privileg.
Gidon Kemer habe ich sehr bewundert, ihn als Exklusiv-Künster zu Deutsche Grammophon gebracht und all seine Aufnahmen für unser Haus betreut. Das ist aber keine erzählenswerte Geschichte. Für eine Erzählung braucht es Dinge, die nicht mit Musik auszudrücken sind und einen Eindruck abseits der Bühne vermitten.
Das ist vielleicht nicht so unterhaltsam wie der Text oben, aber dennoch ziemlich beeindruckend.
Sicherlich spannende Gesellschaft, wenn man nicht derjenige ist, der den kompletten Tag mit Rücksicht auf alle Vorlieben und Wünsche durchplanen muss.
Einer muss es halt machen 😉
Man tut der modernen Musik allzu oft unrecht. Mahler mochte zu Lebzeiten auch niemand hören. Ganz zu schweigen von Stravinsky.
Stimmt, dafür gibt’s ja dann die unterschiedlichen Geschmäcker…
Nicht alles, was nicht gemocht wird, erlebt einen posthumen Triumph. Heute gilt schon als gebildet, wer Brahms von Bach unterscheiden kann. Eine Fortner- oder Egk-Renaissance kann und will ich mir nicht vorstellen.
Das stimmt ohne Frage. Wer oder was zum Klassiker wird, kann nur die Zeit zeigen. Davon einmal abgesehen gibt es aber eine ganze Menge moderner Komponisten, die ich persönlich sehr schätze.
Turbulenzen sind zwar unangenehm – vor allem wenn vor lauter Rütteln und Schütteln das Essen fast vom Tischchen fällt – aber sicher nicht sonderlich gefährlich. Zum Glück habe ich keine Probleme mit Flugübelkeit.
Wird während der Turbulenzen nicht in der Regel der Service ausgesetzt?
Kommt auf die Heftigkeit der Turbulenzen an, und da gibt es ja keine Messung auf der Richterskala, sondern unterschiedliche Empfindungen.
Das stimmt auch wieder. Ich würde allerdings sagen, wenn der Kaffee aus der Tasse schwappt sollte man vielleicht nochmal eine halbe Stunde warten 😉
Sollte es im musikalischen Zusammenhang nicht eher heissen „wie der Abend aus der Fuge geriet“? 😉
Ansich schon, es waren aber von der Besetzung her eine Tripel- und eine Quadrupelfuge. Somit ist der Plural ausnahmsweise gerechtfertigt. Im „Spiegel“ gab es neulich einen Artikel über Insektenverstecke im Kölner Dom. Der Titel: „Die Gunst der Fuge“. – Mochte ich.
Hahaha, der Zeitungartikel-Titel ist wirklich super! Sehr gelacht.
Mein Gepäck kommt auch immer als letztes. Egal wann ich einchecke 🙁
Dass es außerdem an der Kasse, an der ich anstehe, immer am längsten dauert, ist ein Gottesbeweis: Zufall kann das nicht sein.
Selbstverständlich alles eine Prüfung Gottes. Anders kann es nicht sein.