Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei



Kapitel 1: Ein Stell-dich-ein

Die erste von vier Begegnungen im Sommer 1972

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Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei

1.1 | Nichts Besonderes

Eine Schar Kinder läuft über das Feld, barfuß, mit bunten Kerzen. Der Wind bläst die Lichter aus. Sie wirbeln auseinander. Fühlst du dein Herz klopfen?

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1.2 | Auch nichts Besonderes

Der Brief war fertig. Im Netz: War er die Spinne oder die Fliege? Sie zog die Blätter heraus, entfernte das Kohlepapier und legte den Brief und die Kopien in die Unterschriftenmappe, dann spannte sie den nächsten Bogen ein. Augen zu, einfach abschalten und losschießen.

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1.3 | Überhaupt nichts Besonderes

Punkt zwölf stand Frau Kleide in der Tür: „Kommst du?“ Er brütete über den Unterlagen. Sie sah auf die Uhr: „Ist es schon wieder so weit?“ Die Seite müsste er fotokopieren. Ein wenig erschrak sie über das Fortschreiten der Zeit.

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1.4 | Wieder nichts Besonderes

Sie lief die Mönckebergstraße entlang. Er saß in der Mensa. Ein azurblauer Kaschmir-Pullover in einem der Schaufenster gefiel ihr. Gulasch, er kaute lustlos. Sie blieb stehen. Widerwillig stocherte er mit der Gabel zwischen den Fleischbrocken herum. Den könnte sie sich eigentlich leisten.

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1.5 | Immer noch nichts Besonderes

Im Café traf er ein paar Freunde. Dann ging sie zu Frau Kleide, wegen Gutzenka. Sie redeten übers Studium. Frau Kleide fragte: „Finden Sie wirklich, dass er gut aussieht?“ Er hatte die meisten Scheine; für die Anzahl seiner Semester war er ziemlich weit.

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1.6 | Ausgefallen!

Es war kurz vor acht, und er war leicht betrunken. Sie war erschöpft nach Hause gekommen und hatte sich gleich hingelegt. Ein Drittel der Whiskyflasche war ausgetrunken. Jetzt wachte sie auf. Als ob er es nötig hatte, sich Mut zu machen! Sie sah auf die Uhr und erschrak.

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Kapitel 2: Lift nach Lugano

Die zweite von vier Begegnungen im Sommer 1972

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2.01 | Worum es geht

Die schwer zu beantwortende Frage: Ist dem Leben mit irgendwelchen Moralvorstellungen beizukommen? Nehmen wir zum Beispiel einen Mann von 34, Hans Schmidt, oder wenn das zu billig klingt, meinetwegen Gregor Sollendorf. Der Nachname klingt ein bisschen ambitioniert, aber – macht nichts, er kommt nur einmal vor.

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2.02 | Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn

Sie sagen wieder lange Zeit nichts. „Ist es Ihnen recht, wenn ich das Fenster aufmache?“, fragt Mark kurz vor Hannover. Es ist schon sehr heiß im Wagen. „Ja sicher.“ Gregor hat einen Entschluss gefasst. Er sieht dem Jungen zu, wie er das Fenster runterkurbelt: Das knappe weiße Hemd bringt den Oberkörper gut heraus: sehnig, fest, geschmeidig.

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2.03 | Rollentausch

Bei Kassel müssen sie tanken. „Soll ich mal fahren?“, fragt Mark. „Kennen Sie den Wagen?“, fragt Gregor zurück. „Ja, so ziemlich.“ Gregor lächelt skeptisch. „Was heißt das? Sie haben ihn schon mal an der Kreuzung vorbeifahren gesehen?“

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2.04 | Im Stau

Der Wagen fährt langsamer, noch langsamer, steht. Gregor öffnet die Augen. „Schlange“, sagt Mark. „So weit man sehen kann Autos.“ Gregor richtet sich auf: Beide Spuren sind verstopft. „Wir hätten früher fahren sollen“, sagt Mark. „Ich hab’ fast ’ne Stunde auf dich gewartet.“

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2.05 | Roadmovie

„Die Tankstelle hinter Rastatt hat eine Raststätte“, sagt Mark. „Das beflügelt wohl dein Texterhirn, ist aber, wie das meiste in der Werbung, falsch!“, berichtigt ihn Gregor. „Es handelt sich hier um eine Imbissstube.“ Sie gehen hinein. Mehr ist es wirklich nicht.

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2.06 | Hart an der Grenze

Eine Weile lang sagen sie nichts. „Freiburg“, eröffnet Mark das Gespräch wieder, als sie an der Ausfahrt vorbeifahren. Der Himmel hat sich bewölkt. Kleine, harmlose Schäfchenwolken. „Ja, wir sind bald an der Grenze“, sagt Gregor. „Ich hoffe, dein Pass ist nicht abgelaufen.“

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2.07 | Des Knaben Wunderhorn

Sie umgehen Luzern. Als sie auf den See stoßen, hat die Dämmerung eingesetzt. Zum ersten Mal die Berge. Blau, steil. Die Häuser mit den tief gezogenen Dächern. Zypressen. Eine Ahnung von Süden. Still das Wasser. Die Fähre malt zwei Linien.

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2.08 | Mehr wissen

Sie sitzen in der Gaststube. Holz und Zinn und Steingut. Gläser stehen vor ihnen. Teller. Um sie herum sind Menschen, ist matte Beleuchtung. Geschäftigkeit und Lachen. Weil alles fremd ist, gehören sie zusammen. Sie essen. Hungrig und doch stockend. Hier und jetzt haben sie nur sich.

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2.09 | Tunnelblick

Sie gehen zusammen in den Frühstücksraum. Sie trinken Kaffee und essen Brötchen. Die Brötchen sind kross. Die Marmelade ist gut. Frauen sitzen in Kostümen, Männer in Jacken ohne Kragen.

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2.10 | Grandhotel

Draußen ist es hell. Sehr hell. Erwartet und überraschend zugleich. Gregor fährt den Wagen von der Rampe. Abwärts. Italien entsteht. Der Stil der Häuser, die Aufschriften. Erste staubige Palmen. Sie gleiten hinein in das Paradies der Urlaubsziele und Ruhesitze.

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2.11 | Abseits der Moral

Mark gibt Iris einen Kuss und geht mit Gregor hinaus. Iris steht wie angewurzelt. Sie gehen zum Auto. Mark stockt plötzlich und nimmt Gregors Arm. „Ich habe gar keinen Führerschein“, sagt er. Gregor starrt ihn an. „Was?!“

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Kapitel 3: Vorsicht, zärtlicher Hund!

Die dritte von vier Begegnungen im Sommer 1972

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3.1 | Zigeuner-Party

„Hast du etwa gern Männer um dich, die am ganzen Körper behaart sind?“, fragte Frau Benedikt ihren Besucher. Sie hatte Christoph mit dieser Frage nur beeinflussen wollen: Er sollte finden, dass sie den Gärtner zu Recht gewechselt hatte. Und so glaubte ihr Gast, sich die Antwort besser zu versagen.

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3.2 | Mut machen

Sie lagen nebeneinander auf Liegestühlen und hatten die Augen geschlossen. Die Sonne brannte Christoph wie das hitzige Scheuern eines aufgeregten Körpers. Sie biss ihm ins Gesicht und glühte auf seinen Beinen.

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3.3 | An der Leine

Plötzlich hatte Chico zu knurren angefangen. Ein langgezogener, aufdringlicher Laut, der in heftiges Bellen überging. Christoph drehte sich um, und in zwei Sätzen war der Hund bei ihm, sprang an seinen Beinen hoch und leckte ihm über die Oberschenkel.

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3.4 | Personal

Ein Mann kam ums Haus, nickte Christoph zu und sagte etwas auf Spanisch. Er war etwa dreißig, hatte ein freundliches, unbedeutendes Gesicht und eine gedrungene Gestalt. Sein Arbeitsanzug ließ darauf schließen, dass er Handwerker war.

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3.5 | Brandung

Christoph war jetzt allein. Die Sonne stach. Die Luft war reglos. Die Erde fieberte. Christoph atmete die Hitze ein. Seine Haut brannte. Von den Mimosensträuchern quoll ein weicher, einschmeichelnder Geruch herüber. Irgendetwas wie Gefräßigkeit lagerte oberhalb der Palmen und Ziegel ...

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3.6 | Dunkler Fleck

Aus Carolas Schlafzimmer drang ein kurzes Lachen, etwas nervös, etwas unecht. Christoph klopfte vorsichtig. „Christoph?“ „Ja.“ „Komm rein!“

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3.7 | Spielen

„Nein, vielen Dank, wirklich nicht! Ich krieg’ keinen Bissen mehr runter. Es war wirklich ausgezeichnet, aber jetzt muss ich aufhören, sonst schlafe ich ein.“ Carola lächelte geschmeichelt. Der Kerzenschimmer und das Alter gaben ihr etwas Geheimnisvolles; ein Zauber, der besonders an Abenden wie diesem zur Geltung kam und von vier Gläsern Sangria eher gedämpft als unterstrichen wurde.

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Kapitel 4: Die letzte Geschichte

Die letzte von vier Begegnungen im Sommer 1972

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4.1 | Eine Seereise

Da war es wieder und plötzlich ganz dicht unter ihr: das Meer. Anette stand über die Reling gebeugt und starrte auf das Wasser, das in leichter Unruhe vibrierte: ein mildes Auf und Ab, das sie verwirrte, ohne ihr näher zu kommen.

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4.2 | An Deck

„Was soll ich machen?“, fragte Anette. „Soll ich auf Ihr Spiel eingehen?“ Er sah sanft aus. Hinter der Offenheit seines Gesichts lag der Ernst, mit dem man ein Geheimnis hütet – sein eigenes und das der anderen. Der Wille zu schützen, das Wissen, schutzlos zu sein. Gefährdung und Zerbrechlichkeit strömen eine eigenartige Kraft aus, vielleicht ist es auch nur ein Reiz.

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4.3 | Identitäten

Die Musik hatte ausgesetzt. Klatschen und der Lärm, den Fröhlichkeit verursacht, unverdaute Rückstände von Freude. ‚Luxusschiff‘, dachte Anette, ‚Traumjacht, Musikdampfer, Fähre zur Unterwelt.‘ – „Ich habe keine Lust mehr“, sagte sie. Er riss den Kopf herum. „Wozu?“, fragte er scharf.

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4.4 | In der Kabine

„Ich habe die Grenze erreicht“, sagte Andreas. „Ich bin über alle Schatten gesprungen. Ich habe einen Gehirntumor. Unheilbar. Operation wäre zwecklos. – Klingt furchtbar, nicht?

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4.5 | Die Überschrift

Sie wollte eine Beruhigungspille nehmen und griff, immer noch benebelt von der Schlaftablette, in die Nachttischschublade. Ihre Finger fühlten Papier. Ein Zucken durchlief ihren ganzen Körper. Sie sprang auf, riss das Paket heraus und zerrte an dem Umschlag. Es war ein Stoß Papier.

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4.6 | Resümee

Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei. Den Musik-Boxen fehlt der letzte Groschen. Der Schnaps ist alle. Ich hau’ mich in die Falle.

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