Als ich irgendwann in der Nacht aufwachte, merkte ich, dass Bill gekommen sein musste, denn es brannte Licht im Bad. Nach einer Weile fand ich, dass er so lange aber nicht geräuschlos an sich putzen und pudern konnte. Tat er auch nicht. Er lag im Bett. Ich löschte das Licht und schlief weiter.
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Gegen halb zehn wachte ich auf und ging zum Schreiben auf die Terrasse. Nach einer halben Stunde kehrte ich zurück aufs Zimmer, wo Bill so sensibel war, wach zu werden. Der Abend war ganz schrecklich gewesen, bis drei Uhr morgens, dann war Bill mit der Taxe davongefahren, Abel war geblieben. Die ersten Bemühungen des Tages galten dem Versuch, ‚This Boy‘ anzurufen, was aber nicht gelang. Dann wurde ich davon in Kenntnis gesetzt, dass der Tropenausflug aussichtslos sei, das hätte man schon vor zwei Wochen bestellen müssen, dafür wurde mir für Mittwoch eine Fahrt ans Meer angeboten. Ich sagte: „Lass uns den Wagen behalten und die Tour heute machen!“ Bill war einverstanden und ließ sich sogar dazu überreden, auf Spanisch an der Rezeption zu erkunden, ob wir nicht doch noch bleiben könnten, zunächst hatte er das Abel überlassen wollen. Abel war aber weder bei seiner Schlafschwester noch sonst wo aufgetaucht, und so ging Bill dann, widerwillig runter, während ich weiterschrieb.
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Missmutig kam er zurück. „Immer sagen sie was anderes. Jetzt behaupten sie, wir könnten bleiben.“ Also blieben wir. Aber nicht lange. Während Bill Toilette machte, verlängerte ich unser Mietverhältnis für das Auto, um nicht auch noch wegen Diebstahls eingekerkert zu werden, dann wollten wir losfahren, was auch gelang, nachdem mehrere kräftige Männer angeschoben hatten. „Der Wagen ist ja gestern auch gar nicht gefahren worden“, bemerkte Bill verständnisvoll.
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Da wir übermorgen ans Meer fahren sollten, entschieden wir uns heute lieber fürs Inland: ein pittoreskes Dorf deutscher Einwanderer. Es ging drei Stunden lang durch braun vertrocknetes Gestrüpp, und Bill konnte sich gar nicht genugtun, mir zu beteuern, wie saftig grün es hier noch im Oktober gewesen sei.
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Der deutsche Ort liegt 1800 Meter hoch und praktisch gänzlich im Nebel, was ihn so grün und deutsch macht.
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Wir speisten im Restaurant ‚Selva Negra‘ (‚Schwarzwald‘) zu den Klängen von „Da oben auf dem Berge …“ und „Heidi, Heidi“. Auf der Karte standen ‚Gulasch mit Rotkohl‘ und ‚Würstchen mit Reis‘. Als wir abfuhren, regnete es sogar ein bisschen. An der nächsten Biegung schien dann aber wieder die Sonne, und wir fuhren zwei Stunden zurück nach Caracas auf einem kürzeren, lichtdurchfluteten Weg durch das braune Gestrüpp.
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Als im Hotel immer noch keine Nachricht von ‚This Boy‘ da war, wurde Bill richtig hektisch und begann ernsthaft zu husten. Dann ging er Mineralwasser kaufen und weckte mich zwanzig Minuten später bei seiner Rückkehr mit der keuchend hervorgestoßenen Frage, ob das Telefon geklingelt habe.
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Da ich das verneinen musste, rief er nun seinerseits bei ‚This Boy‘ an, wo sich eine ihm fremde weibliche Stimme meldete, der er sagte, er würde zwischen halb sieben und sieben wieder anrufen. Das tat er aber nicht, weil er verschlief, und als ich gegen halb acht von der Terrasse zurückkam, weil mein Kugelschreiber leergeschrieben war, schimpfte er, dass er Viertel nach sieben angerufen habe, da wäre ‚This Boy‘ schon weg gewesen, und ‚This Boy‘ sei der erste Venezolaner, der es je mit der Pünktlichkeit gehabt hätte. Ob wir nun in das Lokal von Freitag oder lieber in das italienische, das wir gestern entdeckt hatten, gehen sollten? Ich gestand, dass mir das egal und alles recht sei, und dann ging ich wieder runter zum Schreiben.
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Eine Stunde später erschien Bill geduscht und sichtlich aufgekratzt auf der Terrasse. ‚This Boy‘ hatte zurückgerufen und eingewilligt, mitzukommen zum Abendessen. Da Bills letzter Vorschlag an mich gewesen war, in ein von Abel empfohlenes venezolanisches Lokal zu gehen – das heißt, per Taxe zu fahren –, fragte ich, was denn nun angesagt sei. „Ja, das venezolanische“, sagte Bill, aber eigentlich nur er und This Boy. „Ach so …“, sagte ich. Über Freundschaftlichkeit und unabhängige Menschen hatte ich ja schon am Vorabend nachgedacht, und ob ich mich nun ausgebootet fühlte oder nicht, es gab gar keine Konsequenz, die ich hier, fern, fern, fern der Heimat ziehen konnte, ohne mir mehr zu schaden als jedem anderen. Und ganz egal, was man später tut – zum Essen kann man immer jemanden mitnehmen, ich jedenfalls hätte nie – und so weiter. Ob ich denn nun in das italienische oder das Lokal vom Freitag gehen wolle?, lauerte Bill. Mit der Hoheit einer Maria Stuart, der man gerade die Halskrause entfernt, sagte ich: „Weiß ich noch nicht.“ Dann entrückte ich, tapfererweise ganz ohne Pikiertheit oder auch ohne zu sagen: „Ihr hättet mich ja eigentlich mitnehmen können“, auf unser Zimmer, wo es mir zu denken gab, dass Bill aufgeräumt und die von mir in Miami im Duty-free auf seine Veranlassung hin gekaufte Flasche Champagner in einen Kübel mit frischem Eis gestellt hatte.
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Bevor ich im Fahrstuhl entschwebt war, hatte er noch lächelnd gemutmaßt: „Bestimmt sitzt dann beim Essen am Nebentisch jemand wie du, der dann das über mich sagt, was du am Freitag über die ältere blonde Amerikanerin mit dem jungen Venezolaner gesagt hast: ‚Lass sie doch, es ist ihre letzte Chance, einen Latin Lover abzukriegen.‘“
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Ich war gerade fertig mit Schreiben, als ich die Champagnerflasche, die ich gleich als Erstes aus dem Eiskübel genommen hatte, betastete und freudig feststellte, dass sie schön lauwarm ist. Um das zu erreichen, hatte ich die wieder funktionierende Klimaanlage abstellen müssen, aber man schwitzt ja gern mal für ein gutes Werk.
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Im Urlaub geht eigentlich nichts über unabhängige Menschen. Eine, wenn auch locker, getroffene Verabredung zu canceln nervt mich allerdings immer wahnsinnig.
Naja für die Liebe (in all ihren Formen) verstehe ich das schon…
Verstehen ist nicht Verzeihen.
Das ist ohne Zweifel auch wieder wahr.
Freundschaft oder Liebschaft … akut eine schwierige Entscheidung. Im Nachhinein wäre man wahrscheinlich schlauer.
Braun vertrocknetes Gestrüpp klingt sehr nach Süden. Da merkt man immer wie gnadenlos die Sonne doch ist.
Die Sonne gibt uns gleichermaßen Energie wie sie uns Energie kostet. Wer in Glasgow mit 1200 Stunden Sonne im Jahr auskommen muss hat sicherlich andere Probleme wie jemand, der in einem Wüstenland lebt.
Ich habe als Kind einfach zu viele Sonnenbrände bekommen. Seitdem bin ich Schattenmensch geworden. Sonnenschein ist zwar schöner als graue Tage, aber man muss trotzdem vorsichtig bleiben.
Ihr seid alle so fatalistisch. Es ist Frühling, raus aus dem Haus, geniesst die Sonne!
Sich zwingen zu wollen, fröhlich zu sein, bloß weil die Sonne scheint, ist fast so anstrengend wie über den doofen Witz einer Respektsperson loswiehern zu müssen, um befördert zu werden. Zum Ausgleich kann man sich dann nur mit Mühe das Lachen verkneifen, wenn dieselbe Respektsperson auf einer Bananenschale oder einer Schwafelrede ausrutscht.
Irgendwie beneide ich die Leute, die zum Frühlingsbeginn gleich gut gelaunt sind, aber auch.
Da oben auf dem Berge zum Gulasch klingt anstrengend. Ich hoffe es war schmackhafter als es den Anschein macht.
Es war lecker wie das Reste-Essen im Stasi-Knast von Karl-Marx-Stadt 1957 für renitente System-Verweigerer.
Hahaha, also ein großes Fest 😉
Champagner auf Eis werde ich mir nachher auch gönnen. Zur Feier, dass ich ausnahmsweise frei habe, keinen ekligen Gulasch samt Heidi-Begleitung essen muss und die Frühjahrssonne eigentlich ganz gut aushalte. Prost Herr Rinke.
Ein deutsches Dorf in Südamerika wäre zwar das letzte, was ich mir ansehen würde, aber wenn das Shutterstock-Bild tatsächlich von dort ist, gibt es immerhin eine recht beeindruckende Aussicht.
Schon interessant das Ganze: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/deutsche-in-venezuela-schwarzwald-in-den-tropen-15577341.html
Toll! Einer der wenigen Beweise, dass ich nicht gelogen habe.
Herr Rinke, Sie haben sich ja schon einmal beschwert, dass es wenig Reaktionen auf Ihre Youtube-Ausschnitte gibt … ich muss sagen, ich vermisse ein paar Aufnahmen von Venezuela 😉
Das freut mich. Der Film kommt am Stück zum Ende des Aufenthalts (Casacas #9): immerhin 13 Minuten.
Ach schön, dann danke ich für den Hinweis!
Ich weiss, ich weiss, es gab auch eine venezolanische Alternative, aber warum geht man in Fernen Ländern eigentlich immer in französische oder italienische Restaurants? So kenne ich das nämlich auch… Ist man so sehr Gewohnheitstier?
Die französische und die italienische sind halt die berühmtesten Küchen, wobei „der Italiener“ in Huddersfield vielleicht besser heißt als er kocht. Ich versuche überall die nationalen Speisen zu essen. In manchen Orten reicht dabei einmal. In Amsterdam auf indonesisch auszuweichen,gilt noch als home cooking. Kamelaugen wurden mir noch die angeboten – meine Ziele sind eben einfach zu touristisch.
Man soll sich ja auch nicht zwingen. Ich versuche immer so lokal wie möglich zu essen. Wenn dann auch mal ein gutes italienisches Restaurant dazwischen ist, macht das doch nichts. Besser eine gute touristische Wahl, als zwanghaft.