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Atlantische Turbulenzen

#16 – Caracas (7)

Jeden Abend kann man nicht kneifen. Ich bin zwar nicht essen gegangen, aber ich habe mir ein Clubsandwich aufs Zimmer bestellt, die köstlichste Mahlzeit, seit ich in Südamerika bin, ich hatte das nicht für möglich gehalten. Nun werde ich doch noch mal runtergehen in den Club, um mich deprimieren zu lassen – oder auch nicht. Vor der Hoteltür war es wie Erinnerung an New Yorker Sommernächte. Denselben Asphalt unter den Gummisohlen der Leinenschuhe, denselben fauligen, zu warmen Großstadtgeruch in der Nase, dasselbe gleichmäßige Rauschen des Verkehrs im Ohr, der nachts geheimnisvoll klingt wie Wasserfälle im Urwald, wo tagsüber nur Motorenkrach ist, ja sogar dieselben Sprünge beim Rennen, bloß nicht mehr so ungeduldig, übermütig wie früher und ohne den neugierigen Hunger, der mich jahrelang schneller laufen ließ, als mein Herzschlag pochte. Nicht nur in New York: in Paris und in Florenz, und in Amsterdam, München, Berlin, in Wien. Jeder Name und all die andern Namen sind Füllhörner von Erinnerungen an einen Ort, tief im Innern, mit zahllosen und doch fest bestimmbaren Stadtteilen der Traurigkeit und des Überschwangs.

Foto: Greg Raines/Shutterstock

Im Club war es schütter, als ich wenige Minuten später dort eintraf. Drei Einzelne, dazu vier Trauben. Mittelbeere einer Vierertraube war Abel. Er begrüßte mich so freundschaftlich, wie sich das bei südlichem Temperament und nach etlichen Cuba Libres von selbst versteht, und machte mich mit den anderen bekannt: einem ganz gut, aber weichlich aussehenden Enddreißiger und einem völlig nichtssagenden Frühzwanziger, der aber sehr viel sagte, überwiegend in Spanisch, doch von Zeit zu Zeit an mich gerichtet und nicht ohne Empörung in der Stimme: „You are so quiet!“

„I don’t speak Spanish“, gab ich zu bedenken.

„O, we can speak English“, antwortete er und redete weiter mit den beiden anderen in Spanisch, bis er sich wieder auf mich besann und sagte: „You are quiet!“ Das ging so weiter, während ich lustlos mit dem Strohhalm in meiner Cuba Libre blubberte und mir die Weiteren betrachtete, die meinten, an einem Dienstagmorgen um halb zwei in diesem Lokal sein zu müssen.

Foto: Paolo Gallo/Shutterstock

„Bill war auch hier mit diesem anderen“, sagte Abel, „aber er ist gleich wieder gegangen, als er Romolo sah“, und dazu zeigte er mit dem Kopf auf den Frühzwanziger. Mir fiel an Romolo nichts auf, was mich einen Schritt auf ihn zu- oder von ihm wegbewegt hätte, aber ich musste die Aussage ja wohl gelten lassen. Nachdem wieder eine Weile erhitztes Spanisch gesprochen wurde, fragte mich Abel, was ich am nächsten Tag machen wolle. Ich sagte, wir dächten an einen Ausflug ans Meer. Abel belehrte mich aber, dass er um zwei Uhr mittags eine Verabredung mit Bill habe, und außerdem führen wir doch Mittwoch alle gemeinsam zum Strand und mit seinem Wagen zum Appartement seiner Schwester.

Foto links: View Apart/Shutterstock | Foto rechts: Rimma Bondarenko/Shutterstock

Ich war ärgerlich auf Bill und dachte: „Schön, dann fahr ich morgen eben allein und ganz früh los. Auch gut.“ Ich werde einen unentdeckten Platz finden und im weißen Sand liegen. Ich werde die feinen Körner unter den Fingernägeln spüren, die Palmen sehen, in den Himmel und vor allem in die hellblau glitzernde Karibik, es wird genauso sein wie in der Bacardi-Reklame, und ich werde mein Alleinsein als solches Glück empfinden, wie man das nur kann, wenn man weiß, dass es Menschen gibt, ganz nah oder eben auch ganz fern, mit denen man bald oder vielleicht auch später erst, nicht mehr allein sein wird.

Foto: Art Stocker/Shutterstock

Von solchen Vorgefühlen beflügelt ließ ich das halb geleerte Glas stehen und die Anwesenden erst recht, um sofort zu schlafen, damit ich am nächsten Morgen recht früh aufstehen konnte. Das tat ich auch, um sechs schon, und zwar mit heftigen Darmkrämpfen. Ich spülte unter anderem auch meine Ausflugspläne ins Klo und schlief weiter, von Zeit zu Zeit durch Ziehen im Unterleib geweckt.

Foto links: Shutterstock | Foto rechts: brovkin/Shutterstock

Bill war gegen vier oder fünf gekommen und rührte sich nicht, als ich gegen zehn aufstand. Erst als ich aus dem Bad kam, sagte er, es ginge ihm schlecht, er wolle sterben, aber das würde er ohnehin, und das sei gut so. Ich gab mir keine besondere Mühe, diese Worte zu enträtseln, sondern ging mit Walkman und zu schreibenden Ansichtskarten an den Pool. Dort war es menschenleer, warm und ruhig. Mein Unterleib war auch ganz friedlich, und so war ich selber genauso friedlich.

Foto: romakoma/Shutterstock

Gegen zwölf ging ich wieder aufs Zimmer, Bill warf sich im Bett hin und her, und ich sagte zu ihm, dass ich den Leihwagen nicht abgegeben hätte, weil ich das Gefühl hätte, es wollten so viele Menschen zum Strand, dass wir ihn brauchen könnten. „Ich fahr nicht“, sagte Bill. „Du kannst mit ihnen fahren. Ich kann unmöglich mitfahren, wenn Romolo dabei ist.“ Ich bohrte nun doch ein wenig und bekam folgende Backfischgeschichte zu hören: Bill war nach dem Essen mit ‚This Boy‘ in der Bar erschienen und hatte dort unter anderem auch Romolo gesehen, mit dem er ‚in love‘ sei. Er, Bill, wäre etwas betrunken gewesen und hatte deshalb Romolo von seinen Gefühlen unterrichtet. Romolo habe jedoch deutlich erklärt: „I don’t care.“ Das Bittere an der Geschichte ist, dass zunächst Romolo ‚in love‘ mit Bill war, Bill aber sechs Wochen lang nicht ‚gecared‘ hat, und als er dann ‚gecared‘ hatte, da war es zu spät. Diese Wunde ist nun in der vergangenen Nacht aufs Unbarmherzigste wieder aufgerissen durch den Austausch der zwei so unterschiedlichen Mitteilungen. Daraufhin ist Bill mit ‚This Boy‘ in die Disco geflüchtet, kam aber, nachdem ich schon weg war, wieder und hat sich dann zwei bis drei Stunden der bekannten Mischung aus Leid und Suff ergeben.

Foto: Antonio Guillem/Shutterstock

Ziemlich ratlos verschwand ich zurück an den Pool und las weiter über ‚Die Liebe in Zeiten der Cholera‘, die ja nun nicht bloß in die Landschaft, sondern auch zum Seelenzustand meines Begleiters passte.

Gegen halb zwei fand ich Bill gänzlich aufgelöst im Bett. Er heulte, dass er AIDS habe, aber das Sterben mache ihm nichts aus, er wüsste es schon seit drei Jahren und habe es schon seit 1981, und der Freund, von dem er es sich geholt habe, sei vor drei Wochen gestorben. Da ich Bill in den letzten Tagen bei bestem Appetit und bestens im Fleisch erlebt hatte, fragte ich ihn nach seinen Symptomen, und er schluchzte, dass er immer diese zugeschwollene Nase habe. Es stimmt, er hatte neulich erwähnt, dass er gerade gegähnt hätte und nun sei seine Nase aufgegangen, so dass er erst jetzt den unangenehmen Gestank bemerke, den ich allerdings nicht wahrnahm. Als Rhinospray-Experte lauschte ich seinen Ausführungen über die Zusammenhänge von Nasenhöhle und AIDS nicht ohne Interesse, aber doch mit entschiedener Ungläubigkeit. Meine Beschwichtigungsversuche schlugen fehl, er zog sich die Bettdecke über den Kopf, ich mich zurück.

Foto oben links: Jarun Ontakra/Shutterstock | Foto oben rechts: ADragan/Shutterstock | Foto unten: Peshkova/Shutterstock

23 Kommentare zu “#16 – Caracas (7)

  1. Meine Reisen gehören auch zu meinen liebsten Erinnerungen. Füllhorn trifft es ganz gut. Ein Glück für jeden, der viel im Leben erleben kann.

      1. Haha, so kann man das sagen. Den Blog lese ich gerne auf dem Weg von oder zur Arbeit. Ich wünschte mein nächster Urlaub wäre ein paar Tage früher, dann gäbe es auch wieder Zeit für längere Werke.

    1. Die Liebe ist das größte Thema überhaupt. Für uns alle. Da mögen die Männer auch noch so stark spielen.

      1. Nur muss man nicht jede Geil- oder Verknalltheit gleicht Liebe nennen. Entscheiden kann man das oft erst nachträglich. Aber selbst unglücklich zu lieben ist erfüllender als eine Liebe nicht erwidern zu können – auch das wird erst nachträglich klar.

      2. Ach ich wollte gerade dasselbe schreiben. Nachträglich ist man meistens treffsicherer mit der Einschätzung der Situation. Im Augenblick des Verknalltseins fällt das deutlich schwerer.

  2. An die ersten Infektionen mit HIV in den 80ern kann ich mich leider nur zu gut erinnern. Aus meinem engeren Freundeskreis hat es zwar niemanden direkt erwischt, aber die Angst war seitdem ein ständiger Begleiter. Was für ein großes Glück, dass die Medizin mittlerweile ein riesengroßes Stück weitergekommen ist.

  3. Sommernächte in der Großstadt sind etwas sehr spezielles. Tagsüber hält man es vor lauter Hitze kaum aus, in der Nacht blühen die Städte und die Menschen auf. Kenne ich aus Berlin auch nur zu gut.

  4. Geplatzte Ausflugspläne ärgern mich immer mehr als mir lieb ist. Am Strand liegen steht allerdings selten auf meiner to-do-Liste. Trotz aller Liebe zum Meer.

    1. Ich liebe es zu wandern. Ansonsten bin ich Großstadtmensch. Der Wahnsinn des Menschgemachten fasziniert mich einfach am meisten.

      1. Wenn das so ist, kann ich einige asiatische Metropolen empfehlen 😉 China bietet sich sicherlich an.

      2. Für den/die, der/die gern überwacht wird, sicher eine gute Empfehlung. Wer mehr auf Ermordet-werden steht, ist in Mittel- und Südamerika besser aufgehoben oder lies einfach weiter.

      3. Das stimmt. Solche Nachteile gibt es allerdings fast überall. Die Regierungen in China, Russland, den USA, Israel, Ungarn (und und…) sind nicht unbedingt sympathisch. Ob man deshalb gleich auf’s ganze Land verzichten mag ist eine andere Frage.

      4. Wichtig ist nur, dass man nicht hinfliegt, hat Columbus ja auch nicht getan, dass die Lebensmittel vegan sind und die Zahnbecher im Hotel nicht aus Plastik.

      5. Manchmal ist die Grenze von Pseudo-Aktivismus zur sinnvollen Aktion fließend. Und jeder tut halt für sich was er kann. George Clooney’s belächelter Aufruf zum Hotelboykott führt momentan immerhin dazu, dass Brunei einiges an Geld verliert. Und bei Geld hören die politischen Überzeugungen schnell auf.

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