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Am Teich

#2 – Ein Umzug

Als mein Vater sich beruflich verbesserte und wir 1953 nach Hamburg zogen, war meine Mutter froh. Ich nicht. Irene war ungern eingeschlossen in Westberlin, ich war wenig veränderungswütig. Half nichts. Von nun an bewohnten wir statt einer spannenden Ruine eine langweilige Doppelhaushälfte, übernommen von Guntrams Geschäftsfreund und beruflichem Vorgänger Lukowitz, der im Ruhrgebiet reüssieren wollte. So kamen wir in den Klein Flottbeker Weg. Ich sagte damals: „Wusst’ ich gar nicht, dass Kurt Becker klein und flott ist.“ Das wäre mir nie in Erinnerung geblieben, wenn es meine Mutter (womöglich stolz?) anderen Leuten in meiner Gegenwart nicht erzählt hätte. Ich war sieben. Mein Hang zu Verknüpfungen von Namen mit Verortungen begann also schon. Assoziationsketten und Zuordnungen blieben mein Steckenpferd. Das ist ein weiterer Grund, warum es diese Beschreibung hier zu lesen gibt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Mit den Töchtern unserer Hausnachbarn Wieman (ein ‚N‘ nur!), Monilies und Kathrin, freundete ich mich eng an. Das bot meinen Eltern eine Ausrede, in dem ‚Arbeiter-Siedlungshäuschen‘, wie Guntram es nannte, auch dann noch zu bleiben, als sie glaubten, dass ihnen eigentlich nach Schickerem sei. Sie wollten mich nicht von meinen Gefährtinnen trennen. Ohnehin galt ich ihnen als gestörtes Kind, schon als Baby hatte ich sie durch mein Gekreisch nach Leibeskräften gestört. Selber schuld. Sowas wie mich bringt man nicht auf die Welt. Meine versäumte Abtreibung habe ich ihnen auch nie so recht verziehen. Darum zog ich aus, unbeirrbar: Bereits meinen 27. Geburtstag feierte ich in meiner eigenen Einzimmerwohnung, eigentlich zwei Zimmer, aber mit Durchgang. Sie lag einen Kilometer entfernt von meinem Elternhaus in der Bernadottestraße. Zu Irenes ‚strammen Max‘ war es also ein Katzensprung nach Nordwesten, und für die Nacht konnte ich mir ungestraft einen ähnlich mundenden Maxen aus dem ähnlich nahen ‚Rosengärtchen‘ im Südosten aufgabeln.

‚WENN MEIN ZIMMER ERZÄHLEN KÖNNTE‘ – aus CD ‚Sehr!‘ (1974)

Fotocollage: Matt Antonioli/Andre A. Xavier, unsplash

In meinem Junggesellen-Domizil in der Beletage eines sehr sachlichen Mietshauses empfing ich vor allem meinen engen Freund Harald, mit dem ich seit der Schulzeit Geschmack und Ansichten teilte, und die Schwestern Silke und Esther Zinkeisen, die dem Anspruch der Elbvororte noch mehr genügten als wir: Sie waren begeisterte Reiterinnen. Der Grunewald hätte ihnen als Gelände vielleicht noch besser gestanden, aber Klein Flottbek hat ja auch einen Namen.

Foto: olgaru79/shutterstock

Als ich in Berlin Roland kennengelernt und überredet hatte, zu mir zu ziehen, wurden diese Gepflogenheiten leicht modifiziert und zwei Jahre später auf Rolands Drängen hin einem Wandel unterworfen: Wir zogen um: in ein Kutscherhaus am Ende eines Privatweges, gleich neben der herrschaftlichen Villa. Unten, wo früher die Karossen gestanden hatten, wohnte die ledige Cousine der Villen-Herrin und kochte Kohl. Oben wohnten jetzt wir. Einen Kilometer entfernt von meinen Eltern: Nun sind sie nordöstlich.

Foto und Videos: Privatarchiv H. R.

Nachdem Roland schon tot gewesen war, lebte die Cousine zu Irenes Ärger noch weitere sieben Jahre. Es roch die ganze Zeit über appetitschmälernd aus ihrer Küche.

Foto: Privatarchiv H. R.

Da Frau Wolter lebenslanges Wohnrecht genoss, konnte meine Mutter meinen Vater erst nach deren Beerdigung 1997 dazu überreden, das Kutscherhaus endlich zu kaufen (‚Madame Voltaire‘ war an zu oft aufgewärmtem Kohl gestorben). Mein Vater hatte bereits Probleme, die ‚Hühnerstiege‘, wie Guntram die Treppe in den ersten Stock des Doppelhauses anschaulich nannte, zu bewältigen, was Irene ihr Vorhaben erleichterte, aber ein wenig störrisch war Guntram doch. Meine Parzelle war nicht sonderlich gepflegt, und mein Vater jammerte: „Meinen schönen Garten soll ich verlassen, um auf diesen Hinterhof zu ziehen.“ Er ahnte nicht, was seine Frau mit seinem Geld aus dem Areal machen würde.

Foto und Video: Privatarchiv H. R.

Als meine Eltern am 1. Juli 1999 einzogen, lag das aufgemotzte Prachtstück an gepflastertem Platz gegenüber seinen Stallungen (den 11 Garagen), Fachwerk und Garten erstrahlten wie neu. Die Handwerker waren während der zwei Jahre lebhaft beschäftigt gewesen, und die repräsentativsten Rhododendren aus ‚seinem schönen Garten‘ hatten es auch bis in die neue Bleibe geschafft. So richtig heimisch wurde Guntram trotzdem nicht. Die Polyneuropathie schritt fort, die Welt war ihm ein fremder Ort geworden.

Foto: Privatarchiv H. R.

Der Herbst passte zu Guntrams Stimmung. Das Leben zerfiel ihm. Ihn kümmerten nicht Irenes Asternsträuße, sondern seine Beine: all die vielen Spaziergänge durch buntes Laub, die er nicht mehr machen konnte. Der Golfplatz – ohne ihn. Das Weihnachtsfest vor der Jahrtausendwende war dementsprechend eher beschwerlich als besinnlich.

Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial von: stockcreations/ Shutterstock (strammer Max, links) und Privatarchiv H. R. (rechts)

31 Kommentare zu “#2 – Ein Umzug

  1. Diesen Moment, wo man merkt, dass das Leben so ein bisschen ohne einen stattfindet, stelle ich mir ungeheuer schwer vor.

    1. Vielleicht hilft es, wenn man schon lange vorher einsieht, dass sich die Welt auch ohne das eigene Zutun weiterdreht. Das ist mehr Frage als Antwort, ich sorge mich im Prinzip selbst um solch einen Moment.

  2. Hamburg mochte ich schon immer sehr. Berlin eigentlich weniger. Aber vielleicht hätte sich das auch geändert, wenn ich der Stadt mal eine Chance gegeben, also länger dorthin gezogen wäre.

      1. … aber inzwischen wieder grenzenlos mit Bahn und Autobahn so gut für einander zu erreichen, dass Spandau ein östlicher Vorort Hamurgs ist und Aumühle ein westlicher Vorort von Berlin.

    1. Solch einen einschneidenden Umzug gab es in meiner Familie auch. Allerdings von Dortmund nach Berlin. Da war keine große Frage ob man sich darüber freut.

      1. Auch das soll es aus beruflichen oder familiären Gründen ja geben. Aber die Freude über solch einen Umzug würde mich wohl auch stutzig machen.

  3. Ich bin ja nie so richtig sicher, ob dieses wiederkehrende Motiv der verpassten Abtreibung eher Koketterie oder eine reale Beschwerde ist. Sie scheinen mir ja eigentlich jemand zu sein, der gerade besonders viel aus seinem Leben macht. Da gibt es doch sehr viel bedauerlichere Existenzen.

  4. Ich bin eigentlich recht froh, dass mein Zimmer nicht erzählen kann 😉 Die Welt muss ja auch nicht alles wissen.

  5. Dieses Herrenhaus zu dem das niedliche Kutscherhaus gehört ist auch nicht ganz unhübsch. Schade, dass das Grundstück später so zugebaut wurde.

    1. So etwas passiert ja leider viel zu oft. Aber wie es in dem kurzen Filmausschnitt heißt: ein Abriss ist leider oft rentabler als eine Sanierung.

    2. Inzwischen versterben die Witwen aus den hässlichen neuen Häusern und es werden schönere, treurere, größerere an deren Stelle gesetzt: Geld schließt Geschmack weder ein noch aus.

      1. Vielleicht sollte man eine Art Geschmacksprüfung einführen bevor man für viel Geld ein hässliches Gebilde baut. Ähnlich wie Sie es in einem früheren Beitrag einmal für das Kinderkriegen gefordert haben.

      2. Ah da müsste dann aber jeder den gleichen Geschmack haben. Sonst funktioniert das ja nicht wirklich.

      1. Die Überschrift „Ein Umzug“ bezieht sich auf Berlin – Hamburg. Die beiden anderen Wohnungswechsel blieben im Abstand eines Quadradkilometers, und weiter bin ich mit dem Hausstand nie gekommen. (Wenn auch mit dem Pass durch die ganze Welt.)

      2. So hätte ich das auch verstanden. Eine neue Wohnung ist ja meistens kein so großer Einschnitt wie eine neue Stadt.

  6. Dieser Garten ist ja fast das tollste an diesem Grundstück. Kein Wunder, dass es Sie dorthin gezogen hat Herr Rinke.

    1. Wenn man dann allerdings sieht, was die Arbeiter (bzw. natürlich die Planer, also vermutlich hauptsächlich Mutter Irene) aus diesem Anwesen gemacht haben. Das hat sich doch wohl sehr gelohnt.

  7. Zwei stramme Maxe (einer für den Magen, der andere für Seele und Körper) sind natürlich besser als einer.

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