

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass ich diesen Brief – damals wie üblich an meinen Freund Pali – geschrieben habe. Pali war es gewohnt, an meinen Briefen eine ganze Nacht lang zu lesen, zu lachen, zu weinen, pausenlos zu rauchen und sich aufbrausend über mich zu ärgern.

Foto: mit freundlicher Unterstützung des Archivs Flottbek-Othmarschen e.V./Bürgerverein Flottbek-Othmarschen e.V.
Zwei Jahre später war Pali tot, mit 72: die Lunge. Guntram überlebte ihn – um zwei Monate. Beide waren einverstanden. Sie wollten nicht mehr. Guntram wurde 92 – aus seiner Sicht vier quälende Jahre zu viel. Irene wurde auch 92, und weil sie zehn Jahre jünger war als Guntram, starb sie zehn Jahre nach ihm: 2012. Drei Jahre zu spät, meine ich. So lange schon war sie ganz dement. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in dieser Zeit noch irgendetwas genossen hat. Hätte sie zehn Jahre früher gewusst, was ihr bevorstand, dann hätte sie sich sofort umgebracht. Sie hat es aus geringerem Anlass versucht.

Foto: mit freundlicher Unterstützung des Archivs Flottbek-Othmarschen e.V./Bürgerverein Flottbek-Othmarschen e.V.
Wir sind alle zum Tode verurteilt, aber wenn uns kein Hinrichtungsbeschluss verlesen wurde, wissen wir wenig über das Datum. So viele Menschen, die mir wichtig waren, sind tot. Es ist nicht eine(r) dabei, von dem ich sagen könnte, er ist nach einem erfüllten Leben schmerzlos im Bewusstsein seines Endes von uns gegangen. Erst jetzt spüre ich, dass mit den Lieben auch die Liebe gestorben ist. Von Mal zu Mal ein wenig mehr. Aber auch die Trauer wird von Mal zu Mal weniger. Abebben – früher ein schrecklicher Gedanke. Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran. Wie schön es war, gebraucht zu werden, merkt man erst, wenn man das Gefühl hat, nicht mehr gebraucht zu werden.

Foto: mit freundlicher Unterstützung des Archivs Flottbek-Othmarschen e.V./Bürgerverein Flottbek-Othmarschen e.V.
Im Jahr 2000, mit neunzig, saß Guntram zum ersten Mal im Rollstuhl. Zehn Jahre später hatte ich den Rollstuhl erreicht, bereits mit vierundsechzig. Ein deutlicher Fortschritt. Allerdings habe ich mich nach meinem Schlaganfall auch wieder aus ihm herausgemüht, und meine Treppe macht mir keine Probleme. Vieles andere schon. Beim Lesen und Ergänzen dieses ‚Briefes‘ hat die Rollstuhlfahrt zum Teich natürlich aus dem – wörtlich – anderen Blickwinkel eine neue Bedeutung für mich bekommen. Déjà-vu.

Foto: Privatarchiv H. R.
Mein Text klingt wohl eher respektlos als sentimental, aber in der Rückschau kann ich sagen: Wir waren eine glückliche Familie, mit Achtung voreinander, mit Wut, mit Witz, im Bewusstsein, immer füreinander da zu sein. Nach Rolands Tod schlossen wir drei Hiergebliebenen uns noch enger zusammen, und das Unverständnis der Außenstehenden dafür bekam verständlicherweise nur ich ab. Ja, als Roland starb, war ich vierundvierzig. Da hätte ich weiß Gott noch mehr und anderes tun können als das, was ich getan habe: mehr wagen, mehr erobern, mehr scheitern. Blick zurück ohne Zorn. Auch ich bin einverstanden.

Foto: mit freundlicher Unterstützung des Archivs Flottbek-Othmarschen e.V./Bürgerverein Flottbek-Othmarschen e.V.
Was ‚Am Teich‘ mir bedeutet, fragte sich schon auf der siebten Etappe ein Leser in seinem Kommentar. Im Jubiläumsbuch des Bürgervereins las ich: ‚Othmarschen galt als wasserreiche Gegend, bevor immer mehr Teiche, Seen und Bäche zugeschüttet und verrohrt wurden.‘ Der Teich als Metapher für Verschüttetes, Verworfenes? Ideen werden verworfen. Menschen sind verworfen. Oder lauter. Oder die bewährte Mischung aus beidem. Gertrude Stein hätte recht: Ein Teich ist ein Teich ist ein Teich. In diesem Abschluss habe ich dem unerheblichen, plattgemachten Othmarscher Teich bildlich noch eine letzte Reverenz erwiesen: sechsmal. Die verlorene Zeit – mehr oder weniger habe ich sie gefunden.


Fotos (2): mit freundlicher Unterstützung des Archivs Flottbek-Othmarschen e.V./Bürgerverein Flottbek-Othmarschen e.V.
Aus Guntrams Hockstübchen ist ein Büro geworden, von dem aus Silke mich verwaltet. Das Bistro in der Waitzstraße, das unsere Eisdiele abgelöst hatte, wurde inzwischen selbst von einer Weinhandlung abgelöst. Das zeigt: Man kann auch zu Hause saufen; dafür braucht man nicht erst auswärts essen zu gehen. Zurzeit darf man es nicht mal. Und ‚Am Teich‘? Da, wo der frühere Feinkostladen geschlossen hat, ist jetzt ein Fitness-Studio geschlossen – wegen Corona.

Foto: Privatarchiv H. R.
Die Tankstelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde abgerissen. Ein Wohnhaus soll demnächst an der Stelle errichtet werden, hörte ich. Die Ampeln zwischen Tankstelle und Einkaufszeile gibt es nicht mehr. Stattdessen Kreisverkehr – erinnert an die ampellosen Fünfzigerjahre. Und noch ein weiterer traditionsbewusster Fortschritt: Wenn man von meinem Privatweg aus die Bernadottestraße geradeaus runterläuft zum Alexanderplatz, dann kommt man nicht mehr am Palast der Republik vorbei – da steht jetzt wieder der vom Kaiser.
Hanno Rinke
Im März 2021
Der neue Teich

Foto: Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildmaterial des Archivs Flottbek-Othmarschen e.V./Bürgerverein Flottbek-Othmarschen e.V. und des Privatarchivs H. R.
Diese traurigen Abschiede, vom Leben und von der Liebe, beschäftigen mich sehr. Das einzig tröstende ist vielleicht, dass es uns allen gleich damit geht. Einfacher macht es diesen Prozess mit Sicherheit nicht.
Nein, das macht das Älterwerden beileibe nicht einfacher.
Die Herausforderung ist trotz all der Verluste und Abschiede nicht abzustumpfen und zu verhärten. Das erfordert immer wieder viel Einsatz und Kraft.
Diese mit der Wiederholung abnehmende Trauer ist doch sicherlich auch ein bisschen Selbstschutz. Sonst würde man an all den Verlusten ja doch irgendwann kaputt gehen.
Das Schwierigste sind die Erinnerungen: Man kann sie nicht mehr teilen. Darum teile ich sie mit.
Und das zur großen Freude Ihrer Leser 😉
Um die Tankstelle scheint es nicht schade zu sein, ob das Wohnhaus so direkt am Kreisverkehr Charme haben wird?
Gestern hörte ich, es soll doch wieder eine Tankstelle werden. Praktisch, also – wie meistens – nicht hübsch.
Hübsche Tankstellen gibt es tatsächlich wenige 😅 Die neumodischen Elektroauto-Ladestationen sind auch nur bedingt besser.
Hübsche Mc.Donalds gibt es auch nicht. Alles, was Markennamen bewirbt, scheint aufdringlich und scheußlich zu sein.
Ich würde sagen weder respektlos noch sentimental. Wer eine 30-teilige Serie über solch eine Zeit und die damit zusammenhängenden Menschen schreibt, dem kann man wohl schlecht mangelnden Respekt vorwerfen. Sentimental empfinde ich Sie allerdings ebenso wenig.
Diese „Respektlosigkeit“ kann man auch einfach Gelassenheit und (Selbst-)Ironie nennen. Beides Eigenschaften, die mir durchaus sympathisch sind, Herr Rinke!
Ich sehe die Teich-Reihe auch eher als Liebeserklärung. Da ist der Respekt doch schon grundsätzlich enthalten.
Ohne Frage! Wie wichtig dieser Ort war (und ist) ist doch offensichtlich.
Zugegeben: Ich wollte möglichst vermeiden, ‚Heimatkunde‘ zu schreiben. Da kommt dann eben wieder das heraus, was wohl mein Stil ist.
Die verlorene Zeit ist vielleicht gar nicht so verloren – so lebendig wie Sie sie bis heute halten.
Die Suche ist beendet.
Wenn man diese Fotos sieht, dann fragt man sich ja auch nach allen dreißig Teilen noch, warum sich die Stadt entschieden hat diesen hübschen Teich loszuwerden.
Oft werden solche Entscheidungen ja nicht aus ästhetischen Gründen getroffen.
Nun ja, zumindest gibt es selten längerfristige Planungen oder solche, die über individuelle Bauprojekte hinaus denken. Was (nicht nur) nach COVID mit den leeren Innenstädten / Fußgängerzonen passieren wird, ist ja ebenfalls eine interessante Geschichte.
Bei uns stehen so viele alte große Kaufhäuser und Einkaufszentren leer – Karstadt und Co – die werden auch nach der Pandemie nicht wieder anlaufen. Da muss tatsächlich ordentlich umgeplant werden.
Toll wäre, viel mehr Wohnraum in den Innenstädten zu schaffen. Dann lohnen sich auch wieder Lebensmittelgeschäfte und kleine Läden jenseits von Douglas und H&M. E-Autos ohne Lärm, shuttel-Nahverkehr. 2030 wird herrlich!
Witzig, genau so habe ich es gestern im Spiegel (?) oder einer anderen Nachrichtenquelle gelesen. Da wurde von einem Stadtplaner / Stadtarchitekten genau das gefordert. Mehr Wohnraum in den Innenstädten. Heidelberg wurde als Beispiel gelobt.
Unter diesem Teich befindet sich der Anfang vom Autobahn Elbtunnel Tunnel, das Gewicht von soviel Wasser wäre dafür zu schwer gewesen. Dort ist jetzt ein Spielplatz wesentlich leichter.
Glück, Achtung, Wut, Witz, Fürsorge. Viel mehr kann man doch eigentlich gar nicht erwarten. Wenn man überhaupt etwas im Leben erwarten kann. Meine Familie war immer irgendwie zerstritten. Nie ganz bitter, aber doch so, dass die Zusammenkünfte anstrengend wurden. Man kann es sich nicht aussuchen.
Bis zu einem gewissen Punkt kann man sicher daran arbeiten, aber was nicht sein soll, soll auch nicht sein.
Man kann die Menschen meistens nur so akzeptieren lernen, wie sie sind. Ändern kann man sie meistens nicht.
Man kann es sich nur aussuchen wegzubleiben. Das ist nicht gerade das Clanbewussteste, aber manchmal das Nervenschonendste
Das ist auf jeden Fall eine Option. Die Notlösung quasi.
Hätte man nicht immer mehr tun können als man es letztendlich hat? Aber was nützt so eine Einsicht?
Nicht bereuen, sondern sich genüsslich ausmalen, das bei den unterlassenen Aktivitäten alles hätte schiefgehen können.
Hahaha, ich mache mir ja grundsätzlich immer viel zu viele Sorgen über Aktivitäten oder Gegebenheiten, die tatsächlich noch stattfinden werden. Vielleicht sollte ich meine Aufmerksamkeit auch etwas zum genüsslichen Nachdenken über solche, die eben nicht stattfinden verlagern 😉
Das klingt, als ob es einen Versuch wert wäre!
viel erfolg 😉