Keine Frage, dass Rafał sehr andere Assoziationen mit Fulda verband als ich, und Silke gar keine, sie kannte es nicht. Ich will die Geduld meiner leidgeprüften Leseleute jetzt nicht überstrapazieren, indem ich seitenlang nicht nur von meinen Briefen, sondern auch von Wikipedia abschreibe, nur so viel:

Bilder oben (2): gemeinfrei/Wikimedia Commons | Foto unten: Ansgar Koreng/CC BY-SA 3.0 (DE)

Erste Besiedlungen sind, wie ich finde, recht früh, nämlich in der Zeit um 5000 vor Christus nachweisbar. 1114 wurde Fulda das erste Mal als Stadt erwähnt. Unter Abt Markward I. (1150–1165) erlebte die Stadt einen Aufschwung. Dabei half dem Abt einer der bekanntesten Urkundenfälscher des Mittelalters, der Fuldaer Mönch Eberhard. – ‚Fake‘, wo man hinsieht, schon immer. Markward legte Burgen an und befestigte die Stadt 1162 mit einer Stadtmauer, zwölf Türmen und fünf Stadttoren: Heertor, Peterstor, Florentor, Kohlhäusertor und ‚Frauentörlein‘. Ob das jetzt noch so genannt werden dürfte, ist eine Frage, die, nachdem Negerküsse und Mohrenköpfe aus dem Sprachschatz verbannt worden sind, an Relevanz gewinnt, und ich darf mir über solch diskriminierende Wortwahl schon insofern Gedanken machen, als ich diese Stiftung, die der Sprache gewidmet ist, ins Leben gerufen habe. Zwar ging es mir dabei – damals – mehr um Klarheit als um Idiotie; sollte mich allerdings auf unserer nächsten Reise ein Pirat oder ein Diktator als Geisel nehmen, dann bestehe ich darauf, in den Medien als der Geisel Zuspruch und Beobachtung zu finden. ‚Die‘ Geisel verstieße gegen meine Mannesehre.

Wichtig war jedoch im Augenblick dieser Reise nicht, wo 1604 Balthasar Nuß die Hexen verbrennen ließ, sondern wo wir 2018 was Anständiges zu essen bekämen.

Ich ergoogelte auf meinem sonst selten benutzten Smartphone das Restaurant ‚Dachsbau‘ als vielversprechendste Speisestätte. Dass es in einer verkehrsbeschränkten Straße lag, passte ins Bild, anders schlafen und schlemmen wir nie. Ich wurde vor der Lokaltür abgesetzt und saß schon beim Aperitif, als Silke und Rafał eintrafen und eintraten. Das Essen war sehr gut, aber die Hauptattraktion, die dem Koch die Show stahl, war der Karneval vor unserem Fenster: ein nicht enden wollender Umzug adrett kostümierter Herr- und Damenschaften, keine Kölsche Jecken, sondern Fuldaer Honoratioren. Gut, dass unser Wagen in einer Seitenstraße stand, sonst wäre der Abgang noch schwieriger geworden als in der Türkensauna 1981. ‚Fasching in Fulda‘: Wer da nicht ausflippt, der ist auch für den Karneval in Rio nicht zu gebrauchen!

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Es wäre durchaus möglich gewesen, bis Hamburg ‚durchzunageln‘, bei Rafałs Tempo sowieso. Aber nein, als Abschluss stand eine Nacht im ‚Burghotel Hardenberg‘ auf dem Programm. Als Silke und ich einmal erst nachmittags in Hamburg losfahren konnten, kamen wir am Abend gerade bis hierher und waren angetan bis begeistert. Mit Rafał waren wir dort auch schon vor zwei Jahren, und mein Kameramann Martin Deja hat das Areal mit unserer Drohne aufgenommen. Deshalb folgt jetzt ein erfrischend kurzer Filmausschnitt.

Einziger Ärger: Sonntags ist das Restaurant ‚Novalis‘ geschlossen. Unverständlich. ‚Novalis‘ ist der Künstlername, den sich der Dichter Georg Philipp Friedrich von Hardenberg gab – fand er wohl flotter, als seine Herkunft preiszugeben. Geboren wurde Georg Philipp Friedrichchen am 2. Mai 1772, das war ein Samstag. Sterben tat Novalis ziemlich jung, am 25. März 1801, einem Mittwoch. Da hatte Beethoven genau einen Monat zuvor sein erstes Klavierkonzert uraufgeführt, an einem Donnerstag. Ich bemühe mich ja immer, Zusammenhänge zu erkennen, aber hier fällt mir keiner ein. Nachdenklich saßen wir am Kamin.

Na schön, immerhin, nebenan die ‚KeilerSchänke‘, die zum Hotel-Komplex gehört, hatte geöffnet, und weil Silke beim Reservieren bereits erfahren hatte, dass ‚Novalis‘ geschlossen sein würde, hatten wir voraussichtig mittags schon fürstlich gespeist und gaben uns mit der bürgerlichen Bewirtung zufrieden.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Rafał war bei unserem vorigen Besuch dem Grafen etwas näher getreten und hatte mir während des morgendlichen Levers von der rötlichen Ganzkörperbehaarung des Adligen berichtet. Dieses Erlebnis wollte er nicht vertiefen, sagte er mir mehrfach, und so verschwanden wir alle auf unsere Zimmer zu unseren Bildschirmen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Die letzte Mahlzeit der Reise hätte am Rande der Lüneburger Heide im ‚Josthof‘ stattfinden sollen, aber schon bei der Planung im vergangenen Jahr musste ich entsetzt feststellen: Den ‚Josthof‘ gab es nicht mehr – abgebrannt. 1252 erbaut, 2017 vernichtet. Brandstiftung. Da der Laden Insolvenz angemeldet hatte, gibt es Gerüchte, und die Versicherung will nicht zahlen.

Als Ersatz hatte ich mir Lüneburg ausgedacht, das ‚Mälzer Brau- und Tafelhaus‘, und damit hatte ich mich selbst übertroffen. Ein solches Überhaupt-nicht-fahren-Dürfen wie dort haben selbst wir selten missachtet. Unter den Passanten, die wir beiseitedrängten, war glücklicherweise kein Schutzmann, wie wir früher ehrerbietig die Bullen nannten. Silke und ich gingen in das sehr bodenständige Brauhaus, Rafał fand um die Ecke eine freie Stelle, die er als Parkmöglichkeit zweckentfremdete.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Zu unserer Verblüffung entdeckten wir bei unserer Rückkehr zum Auto, dass es die Lüneburger Polizei versäumt hatte, den Mercedes abschleppen zu lassen oder ihm zumindest ein Strafmandat unter den Scheibenwischer zu klemmen. Dafür kam, als ich schon eingestiegen war, ein Mann vorbei und pöbelte: „Das hier ist Fußgängerzone!“ Ich öffnete meine Tür nochmal und schrie: „Ich bin schwerstbehindert. Denken Sie, das macht mir Spaß!?“ Dazu fuchtelte ich zur Verdeutlichung wild mit meinem Krückstock rum. Rafał glaubte, ich würde aufspringen und den Mann niederknüppeln, aber das wäre natürlich kein schlüssiger Beweis für meine Bewegungsunfähigkeit gewesen. „Entschuldigung, Entschuldigung …“, murmelte mein Widersacher und verschwand in der Menge. Wir klapperten alles ab, was man ohne allzu viele Verkehrsübertretungen aus dem Autofenster heraus von Lüneburg sehen konnte, dann fuhren wir staulos in Hamburgs Elbvororte zu unseren drei ‚Zuhauses‘.

Zuletzt war ich 1984 in Lüneburg gewesen. Eine Viertelerinnerungsminute reicht.

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So, jetzt ist Sonntag, der elfte März 2018, 13.14 Uhr. Ich bin fertig. Einen Reisebericht kann ich das wohl kaum nennen, einen Straßen- und Seelen-Zustandsbericht vielleicht. Der Bericht über Schottland ist schon fertig; ich habe ihn wegen der vermeintlichen Aktualität dieses Textes zurückgestellt. Zum Veröffentlichungszeitpunkt meines Schluss-Absatzes am 30. April bin ich gerade zurück vom ‚Frühling in Florenz‘, den unverbesserliche Romantiker(innen) dem ‚Fasching in Fulda‘ womöglich vorziehen werden. Da habe ich nun genügend Luft, um mich der Schilderung unserer Polenreise zu widmen. Genügend Luft, aber genügend Lust? Ich hoffe, dass – wie man es vom Appetit und dem Essen sagt – die Lust beim Schreiben kommt. Mit Spannung lese ich die Kommentare zu meinen Blog-Bemühungen. Bleibt mir treu, meine Leser*innen, dann bleibe ich Euch auch *. Danke!

16 Kommentare zu “#3.12 Fasching in Fulda

    1. Ach lassen Sie den Menschen doch ein paar Tage Leichtigkeit. Nicht jeder schafft es das Jahr über. Manche brauchen diese Art von offiziellem Fröhlichsein. Macht doch nix.

  1. Vielen Dank zurück! Das Blog-Lesen versüsst mir die ein oder andere ansonsten langweilige Bahnfahrt 😉

    1. Ich schließe mich sofort an. Machen Sie gerne weiter. Ich lese ihre Beiträge immer wieder mit einem Lachen, Schrecken, Staunen oder Wundern. Freue mich auf Schottland!

  2. Karneval in Fulda – da lobe ich mir doch den Karneval im Südheidedorf Bargfeld, wo der Sprachfex Arno Schmidt lebte und gelegentlich auch lachte, aber immer auch die Heidegeister liebte. Und was den Hardenberg in Hardenberg betrifft – auch in Celle gab es einen Grafen Hardenberg, vermutlich der Bruder, dem gehörte dort der Fürstenhof. Auch das war immer schon und ist auch heute noch ein Ort des gehobenen Genusses, von Hamburg aus schnell zu erreichen! Ich sage nur „Entenfang“!

    1. Und Novalis hat den Karneval seiner Kindheit auf Schloss Oberwiederstedt im Südharz gefeiert. Im Jahr 1801 fiel Rosenmontag auf den 16. Februar. Fünf Wochen später war Georg Philipp Friedrich von Hardenberg tot.

  3. Restaurants ergoogeln gehört zu meinen liebsten Beschäftigungen wenn ich unterwegs bin. Immer wieder erstaunlich unter welchen Umständen bzw. in welchen Ländern man der Google/Tripadvisor/Foursquare-Community vertrauen kann und wann nicht.

    1. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, sagte Mario Adorf in der Rolle eines deutschen Philosophen (später England). Finde ich in Gegenden, die ich nie wieder besuchen werde, schwierig.

    2. Man lernt mit der Zeit ja auch ein wenig die Bewertungen zu entschlüsseln. Wenn die ausgezeichneten Bewertungen eines Sushi-Restaurants in Frankreich bspw. ausschließlich von amerikanischen Touristen stammen, vertraue ich dem nur wenig. Ein Satz wie „super essen, aber viel zu teuer“ macht mir dagegen nicht viel aus. Auf die Nase fallen kann man natürlich trotzdem. Nur der eigene Gaumen gibt einem letztendlich Sicherheit.

  4. Diskussion über unsere Sprache immer gerne. Das Ändern von literarischen Werken (also Eingriff in die Geschichte) geht gar nicht. Man sollte ein Gedicht wie die „Zehn kleinen Negerlein“ lesen und im heutigen Kontext diskutieren anstatt so zu tun, als ob es nie geschrieben wäre. Warum will man die Menschen denn immer mehr verdummen lassen?

  5. Was es für die Sprache bedeutet, wenn ihr in zunehmendem Maße außersprachliche Aufgaben und Lasten aufgebürdet werden – von der Neuordnung der Orthographie und Rechtschreibung über den politisch korrekten Ausdruck, das sogenannte Gendern oder zum inzwischen bei Behörden, Parteien und Rundfunk praktizierten Leichtdeutsch – dem empfehle ich „Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache: Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache“! Er lotet die Fallhöhen und Untiefen aus. Herausgegeben von der Deutscher Akademie für Sprache und Dichtung und den deutschen Akademien der Wissenschaften – 2017 im Tübinger Stauffenburg Verlag erschienen.

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