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Winterreise (mit Sommern)  —   Teil 2 - Langläufe, anstrengend

#2.11 Im mächtigen Schatten des Gipfels

Nach Jahren intensiven Beisammenseins in Kitzbühel, Hamburg und Meran schlief die Bekanntschaft zu Rumpoldt und Dora allmählich ein. 1988 trafen Irene und ich ihn nochmal im Sommer. Das war’s. Immerhin gibt es einen knappen Filmausschnitt von dieser letzten Begegnung:

Das reicht ja nun wohl. Jetzt sind alle genügend vorbereitet auf 2018 und schleppen mit mir den Ballast der Erinnerung durch die Tiroler Alpen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Als Erstes wollte ich Rumpoldts Haus am Fuß der Hahnenkammbahn abhaken. Das gelang so eben und eben: Die Fenster waren schon herausgerissen, aber die Mauern standen noch. Seh’ ich ein. Ein so großzügig aufgerichtetes Haus für eine Familie passt nicht mehr in die Zeit. Auf diesem Grundstück lassen sich leicht sechs Parteien unterbringen, mit denen man das Sechsfache verdienen kann. Ich bemühte mich, nicht allzu deprimiert zu sein und mich auf die Zukunft zu freuen.

Dazu war es nötig, etwas Gefälligeres zu betrachten als den Abriss eines Hauses, in dem ich schon so dies und das erlebt hatte, wie der Filmausschnitt andeutete. Den Ortskern mit dem Auto anzusteuern, war unmöglich. Keine Überraschung. Es galt nur, Silke, Carsten und mich möglichst dicht an der Flaniermeile aussteigen zu lassen; dann konnte Rafał sehen, wo er blieb – und vor allem: wo der dicke Mercedes.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Nichts schien mir verändert, nur ungewöhnlich leer war es. Alle auf den Pisten? Genüsslich schlenderte ich an der ‚Tenne‘ vorbei. Es gibt ein Foto von Irene und mir in der Jagastube dort, Anfang Januar 1975, kurz vor meinem beruflichen und privaten Aufbruch. Guntram war lieber ‚zuhause‘ geblieben. Jetzt verstehe ich ihn, und ich denke: ‚Ätsch, in Kössen ist es genauso schön und viel billiger.‘

Foto: Privatarchiv H. R.

Wir setzten uns vor etwas, das wohl Bar, Café und Konditorei war, in die Sonne und warteten auf Rafał. Die WhatsApp-Verbindung kam nicht zustande, und so versuchte Carsten es zu Fuß. Sonst war alles friedlich. Die bepelzten Russinnen dösten, der Espresso und das Wasser ließen auf sich warten, aber sie dienten ja sowieso nur als Ausrede, um hier sitzen zu können, die ebenmäßigen, dezent-bunten Fassaden mit den Augen abzutasten und zu wissen: Ich bin hier, es geht mir gut, die Welt ist fern.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Carsten hatte Rafał aufgegabelt, gar nicht so weit weg. Alles musste nur noch im Smartphone bildhaft festgezurrt werden, dann konnten wir gehen. Wer im ‚Natascha‘-Glashaus rumsitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, aber diese wohlig wärmenden Daunenmäntel in tristen Farben sind wirklich kein erfreulicher Anblick. Alle sehen aus wie Michelin-Männchen auf Urlaub.

Beherzt legte ich den Weg zum Wagen zu Fuß zurück und verkniff mir ärgerliche Erinnerungen an meine ehemalige Behändigkeit, um nicht zu stolpern.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Als nächste Station war Schloss Lebenberg dran. Während wir in der Halle saßen und uns bedienen ließen, genoss ich es, in diesem Riesenluxusschuppen nicht wohnen zu müssen. Ich hatte mich an Essen mit meinen Eltern und Ausflüge um den Schwarzsee erinnert, zu Fuß und – anstrengender, aber glorreicher – auf Langlauf-Skiern, doch ich hatte mir auch den heutigen Zustand im Internet angesehen. Da verging mir die Liebäugelei. Für die Melange aus ‚unpersönlich, bombastisch und höchstpreisig‘, die ich sah, bin ich nicht sehr empfänglich.

Foto: Privatarchiv H. R.

Allerdings lese ich auch schon in meinem Brief an Harald von 1970:

Ich lebe in Luxus, Chic, umsorgt und umhöflicht, beflissen umkuscht, mit Verbeugung und „Junger Herr“ bedacht. Zu allen Wünschen heißt es: „Aber selbstverständlich. Bitte höflichst.“

Heute Vormittag waren wir kurz im ‚Schloss Lebenberg‘, dem bekanntesten und nach der ‚Postkutsche‘ zweitteuersten Hotel hier. Es war elegant, aber anonym, unverbindlich. Die Leute ältlich; vertrocknete, reiche Spießer aller Damen Länder.

Hier hingegen herrscht die Atmosphäre eines Françoise-Sagan-Romans. Ein paar ständig drehende Präsentierteller wirbeln gegeneinander. Ein paar Seiten ‚Madame‘, gepflegte Schönheit, Klatsch, ein gut geschüttelter Cocktail aus Diskretion und Indiskretion, eisig gekühlt. Dazwischen, als Erholungspausen, beschauliche Spaziergänge und viel Schlaf. Zur Stärkung vorzügliches Essen und Unmengen vollgeschriebenes Papier. Das ist so ganz anders als bei uns im Urwald, schlaf schön, Deine Basalinia Wupapa Twombu aus Uganda

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Die ‚Postkutsche‘ ist längst kein Hotel mehr, sondern eine ‚Residenz‘. Höhere Einnahmen und keine Scherereien mit dem Personal: der einfachere Weg. Den gehe ich selten. Zu langweilig. Nun war auch Mittagszeit, und da hatte ich mir – wie bisher jedes Mal – einen einmaligen Weg ausgedacht. Wenn es ein unverwechselbares Zeichen an mir gibt, etwas, das so typisch für mich ist, dass man mich daran jederzeit und überall erkennen kann, dann ist es mein Instinkt, Übernachtungs- und Essstätten ausfindig zu machen, die mit dem Auto entweder nicht angesteuert werden dürfen oder gar nicht erst angesteuert werden können. Als ich noch laufen konnte, kam dieses Talent nicht genügend zur Geltung, jetzt erst offenbart es seine volle Tragweite, bloß, dass mich keiner trägt.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Zum ‚Berggasthof Hagstein‘ führte eine schmale Straße, schön steil und vereist, solange, bis sie aufhörte. Dann galt es, eine sehr breite Schneepiste zu überqueren, aber nicht besonders viele Skiläufer flitzten da knirschend bergab. Silke lief wie auf Eiern, ich fand, dass sie sich anstellte. Der Himmel war strahlend blau, jenseits des Tals lagen die Hänge in gleißendem Glanz. Bei uns herrschte der mächtige Schatten des Hahnenkamm-Gipfels, an Draußensitzen nicht zu denken; aber den tollen Blick konnten wir ja schon zwischen Wagen- und Hüttentür genießen, wenn die Skiläufer uns ließen. Um zu veranschaulichen, wie ich mir unseren Aufenthalt eigentlich gedacht hatte, füge ich hier einen Clip von 1988 ein, als ich mit Roland in Kitzbühel war.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Drinnen war es aber auch nett, und ich versuchte, nicht dauernd daran zu denken, dass wir, so gesehen, genauso gut unten hätten bleiben können. Na ja, aus dem Fenster zu gucken, ist ja wohltuender als zu frieren. Am Himmel vollführte ein Sportflieger Wahnsinns-Loopings, aber auch die hätte er sich sparen können, denn Rafał hat seine Aufnahmen davon aus Versehen später gelöscht.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Auf dem Rückweg lief Silke wieder so, dass ich fand, sie stellt sich an, bis ich selber hinfiel. Also nein, leider fiel ich gar nicht schön platt aufs Eis, sondern Rafał hielt mich eisern am Arm gepackt. Da blieb ich auf halber Strecke hängen und meine rechte Seite wurde dermaßen gezerrt, dass ich noch kaumer laufen konnte als ohnehin schon.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

So gesehen stellte die Hoteltreppe in Kössen eine gewisse Herausforderung an mich dar. Auf Schloss Lebenberg hätte es einen Fahrstuhl gegeben. Doch: unverzagt!

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Zum Jagatee am flackernden Kamin mit Rafał mühte ich mich wieder herunter, und ab 19 Uhr saßen wir zu viert und machten einen zufriedenen, gut durchgebratenen Eindruck.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Der Tisch im Restaurant war liebevoll dekoriert, und ich achtete darauf, neben der Schwammerl-Rahmsoße nicht zu viel Wein die Kehle hinabrollen zu lassen. Mir lag sehr daran, anschließend die Treppe in den ersten Stock zu erklimmen und in meinem Bett zu übernachten.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

11 Kommentare zu “#2.11 Im mächtigen Schatten des Gipfels

  1. Ein Urlaub ist nichts wert, wenn die Erinnerungen nicht im Smartphone abrufbar sind. So ist’s es tatsächlich.

    1. Und das schlimmste ist wenn man alle Beweise aus Versehen wieder löscht. Passiert mir auch viel zu häufig. Armer Rafal!

    2. Ich habe neulich die Hälfte meiner Fotos durch eine kaputt gegangene Festplatte verloren. Wahnsinnig schade, aber irgendwie auch eine richtige Erleichterung.

    3. Von den vielen Fotos, die man heute macht, dürfen ruhig ein paar wegfallen. Bei den Faminienfotos aus dem vorigen Jahrhundert wäre ich über den Verlust schon ziemlich traurig.

  2. Unpersönlich, bombastisch und höchstpreisig klingt furchtbar (und sieht furchtbar aus, wenn das Foto rechts Schloss Lebenberg darstellt). Warum moderner auch gleich besser sein soll, verstehe ich nie.

  3. Ganz altmodische Menschen behaupten, dass Erinnerungen im Kopf stattfänden. Ein Bild spricht dagegen schon für sich. Die Bilder im Kopf kann man oder muss man – wie ich – nachträglich erst be’schreiben‘, wenn man sie öffentlich machen will. Ich beneide niemanden um seine zehntausendfach ge-liken Instagram-Fotos, sondern bleibe lieber bei meinen illustriertene Wahrheiten.

    1. Das tolle an Erinnerungen ist ja auch, dass sie sich ständig verändern, weiterentwickeln. So entstehen spannendere Geschichten als es die Wahrheit je geplant hatte. Ganz ironiefrei.

    2. Am Beispiel Grass (und aktuell auch wieder Walser) lässt sich vor allem sehr gut sehen, dass auch große Schriftsteller unendlich blöden Mist schreiben können.

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