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Winterreise (mit Sommern)  —   Teil 2 - Langläufe, anstrengend

#2.1 Schon mittags wissen, wo man abends sein wird

Foto: Robert Kneschke/Shutterstock

Selbst mein Sadismus kennt Grenzen. Dem Leser und seiner Frau ist es nicht zuzumuten, sich durch die kompletten Tagesabläufe und die komplexen Restaurantbesuche unseres Meran-Aufenthalts durchzulangweilen. Stattdessen pinsele ich für die Leserin und ihren Mann ein Gemälde, das zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion wie besoffen hin und her schwankt; meine übliche Vorgehensweise also: Zusammenfassungen, die durch ausufernde Abschweifungen in die Länge gezogen werden.

Meran ist mir vertraut. Immer noch? Große Städte behalten weiterhin ihren Eiffelturm und ihren Big Ben, auch wenn es an der Seine und an der Themse jetzt ganz anders aussieht als in den Zeiten von John Lennon und Édith Piaf. Kleinere Orte haben weniger Einzel-Eigentümlichkeiten, also mehr zu verlieren. Aus ihnen wird Rothenburg ob der Tauber oder Karl-Marx-Stadt. Meran liegt dazwischen, Chemnitz ob der Passer.

Foto: LaMiaFotografia/Shutterstock

Zum ersten Mal war ich 1954 in Meran, auf der Rückreise von der Adria mit meinen Eltern und Großeltern. Schulferien in der dritten Klasse. Es gab schon die beiden Wasserfälle zwischen Promenade und Kurhausstraße, und an nichts anderes im Ort erinnere ich mich. Mit der Drahtseilbahn flogen wir über Wiesen und Weinreben hinweg auf den Hafling. Es war das erste Mal, dass ich ‚Natur‘ bewusst und bewundernd wahrnahm. Daneben haben sich mir mehr als das Stadtbild meine Bauchschmerzen eingeprägt. Dagegen gab es natürlich keine Pillen für einen Achtjährigen, aber immerhin die rotblonde Angelegenheit, die meine Mutter ‚Stola‘ nannte, wenn sie den Fetzen um die Schultern trug. Das undefinierbare Material war porös und kratzig am blanken Leib, eine Art Sabinchen für Arme, das ich widerwillig durch die Gassen schleppte.

Fotos (3): H. R./Privatarchiv

Zum zweiten Mal war ich 1965 in Meran. Im Herbst nach dem Abitur. Ich war meinen Eltern hinterhergeflogen. Sie holten mich in Venedig ab, zeigten mir neben der Lagune auch Padua und beendeten ihre Kur in Abano Terme, das sie danach nie wieder besuchten, weil die Kur wohl nichts genutzt hatte, eventuell deshalb, weil ihnen beiden nichts fehlte. „Wenn Venedig untergeht, dann kann ich ab jetzt sagen, dass ich es dir noch gezeigt habe!“, verkündete meine Mutter stolz auf dem Vaporetto. So war sie. Immer mit dem Schlimmsten rechnen und es umfunktionieren zum Triumph. Dann gingen wir in die Guardi-Ausstellung, wo Guntram, wie bei Kunstbetrachtungen üblich, Fußjucken bekam.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Anschließend an Abano fuhren wir nach Meran. Oktober – Zeit der Traubenkur: gegen Darmträgheit. Hatte ich immer schon so nötig wie Rollstuhlfahrer Wanderstiefel. Aber alle anderen Menschen sind wohl verstopft und finden Traubenkuren herrlich. Sie belegten die Hotelzimmer, und sie besaßen die Toiletten. Tutto occupato.

Foto: Pasko Maksim/Shutterstock

Guntram weiß mittags immer furchtbar gern, wo er übernachten wird. Das klappte diesmal nicht. Damals teilte ich meines Vaters Verlangen nach einer sicheren Unterkunft noch. Nicht mehr für lange. Ach, wie viele Hotelbetten, Gästebetten, Wasserbetten, Gummi-Matratzen, Liegewiesen, Strände, Sträucher, Höhlen und Tiefen, Überraschungen und Enttäuschungen lagen noch vor mir! So viele Betten, so viele Stätten! Es hätte mich freudig entsetzt, das zu wissen, als wir in der hereinbrechenden Dämmerung erwartungslos auf dem Theaterplatz im ausverkauften Meran standen.

Glücklicherweise hatte Guntrams Bruder Hasso meinem Vater von der Fahlburg erzählt. Die Fahlburg wurde von einem Baron, der Hassos faschistische Weltanschauung teilte, um der Einnahmen willen als Beherbergung für Besserbemittelte geführt. Wir fanden, Hassos kluger Wegbeschreibung folgend, dorthin und Unterkunft.

Es war natürlich alles wahnsinnig romantisch, aber auch schrecklich kalt, im Flur und im Bett. Nur in der riesigen Küche mit ihrem Feuerherd war es warm. Am Morgen war meine Mutter etwas verblüfft, weil ein mittelgroßer Skorpion im Waschbecken schlief. Die Burg war voll von Skorpionen. Der Grappa ausschenkende Baron behauptete, ihr Stich sei nicht besonders giftig. Da mich schon Mückenstiche wahnsinnig machen, war ich trotzdem vorsichtig.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Die Tiroler lieben bereits seit dem Mittelalter ihr gutes ‚Skorpenöl‘. Dafür werden lebende Skorpione in Olivenöl getaucht, dann werden beide, Tier und Öl, erhitzt. Das halte ich für tödlich. Es ging bei dieser Verfahrensweise aber nicht um das Rezept für eine ausgefallene Delikatesse, sondern um die Gesundheit: Mit dem Öl sollten sich Wunden, Koliken, Gicht und Ohrenschmerzen heilen lassen. Besonders beliebt war die Anwendung bei Harnwegsbeschwerden und der Pest. Nichts davon hatten wir 1965.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ich liebte alles um mich her. Die Worte Intellekt, Sensibilität, Eleganz standen hier gar nicht auf dem Koordinatensystem. Nichts war hier kosmopolitisch, urban, geistreich – aber dafür konnte ich weiterhin die versunkene Welt meines Geisteszustandes zur Abiturzeit nachkosten: Goethe, fast in Italien; Jesus, fast an jeden Spazierweg genagelt; und vor allem Schubert. In der Tankstellenwirtin in Tisens erkannte ich auf Anhieb die schöne Müllerin. Das war sie! Ich brauche keine Madonna, keinen Messias, nicht Mohammed, nicht Marx oder Mao. Hier war ich glücklich. Diese ganzen Trachten waren mein ganzes Sinnen.

Seither war ich fast jedes Jahr in Meran, später manchmal auch ohne meine Eltern, und seit sie tot sind, sogar immer. Na ja – eigentlich grüßen sie doch aus jedem Winkel meiner Erinnerung und aus jedem Wasserglas meines Haushalts, vor allem, wenn Wein drin ist. Sogar im Winter. Einmal, 1978, verbrachten wir Weihnachten in Meran. Drei Ausschnitte davon füge ich hier ein, damit der Anteilnehmer mit seinem Mann nicht nur altmodisch lesen muss, sondern zeitkonformer auch bewegte Bilder angucken kann. Hoffentlich bewegen sie die Leserin und ihre Frau genauso wie mich.

17 Kommentare zu “#2.1 Schon mittags wissen, wo man abends sein wird

  1. Der Gedanke, dass kleinere Städte es mit dem Bewahren ihrer Identität trotz Weiterentwicklung schwerer haben, ist mir noch nie gekommen. Leuchtet aber völlig ein. Interessanter Gedanke.

    1. Das liegt vor allem an Herrn Rinke’s Auswahl 😉 Kommen sie mal nach Bayern. Der Durchschnitt sieht anders aus…

  2. Wer der Meinung ist, Familienvideos mit dem Camcorder seien überholt und verpönt, hat Hanno Rinke’s Aufnahmen nicht gesehen. Vielen Dank!

    1. Danke! Ich liebe Ermutigungen. In diesem und später im dritten Teil wird es noch einige weitere Clips geben. Schnitt und Vertonung sind allerdings mindestens so wichtig wie die Aufnahme.

    2. Skorpione in der Wohnung, oh Gott! Dabei sieht die Burg wirklich hübsch aus. Aber dafür wäre ich dann wohl doch zu schreckhaft.

    3. Skorpione sind ja wirklich nicht so schlimm. Solange es keine australischen Riesenkakerlaken oder Taranteln sind bin ich unempfindlich.

  3. Weihnachten in Meran klingt erstmal abenteuerlich. Ist Meran nicht eher ein Sommerurlaubsort? Aber Sie machen ja gar keinen Urlaub. Ich erinnere mich. Für mich fühlt sich Winter im Süden jedenfalls fast noch kälter an, als hier bei uns. Mich stören immer die dünnen Laken und die schlechte Isolierung.

    1. Das ist natürlich nörgeln auf hohem Niveau. Im Süden ist’s ja trotzdem in der Regel ein wenig sonniger. Für die richtigen Winteraffinados empfiehlt sich dann vielleicht eher ein Urlaub auf Grönland.

    2. Wenn unser Klima weiter so verrückt spielt wie bisher, kann man bald eh in Süditalien rodeln und in Skandinavien seinen Sommerurlaub verbringen.

  4. Schnee auf unserer Palme im Garten, täglich strahlend blauer Himmel, beste Ski-Bedingungen oben in Meran 2000. So war Weihnachen auch fern dem heimatlichen Grau schön.

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