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#3.10 Bei voller Fahrt im Wartesaal
Silke, Rafał und ich sollten es, sechzehn Jahre danach, besser haben. Wir saßen im oberen Stockwerk des ‚Spaten-Hauses‘ eher ‚gehoben‘, also mit vornehmerer Speisekarte und Blick auf die Operntreppe. Alles etwas teurer. Ach ja, um Geld ausgeben zu können, muss man zunächst welches haben, und um es vermehren zu können erst recht. Aber wenn man keine Nachkommen hat, dient Geld überwiegend dazu, Gutes zu tun. Für die Umwelt, für die Bedürftigen und für sich selbst.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Nach dem Rückweg zum Hotel hatte ich erst mal genug geleistet, zumindest mit den Füßen. Im Liegen durfte der Kopf weitermachen. Im Kopf findet immer noch etwas statt, das den Körper hilflos macht. Oder umgekehrt. Treibend getrieben. Lebenswillen und Todessehnsucht kann ich nicht mehr unterscheiden. Das Thema ‚Ausgeschlossen‘ betrifft mich wie kein anderes, vor allem, weil ich eben so eingeschlossen in mir bin. Ich will so gerne nichts wollen. Aber dann will ich doch wieder alles. Mein Gemüt radebrecht sich durch alle ihm einigermaßen bekannten Emotionssprachen, und dann muss ich mit dem Kauderwelsch, das dabei herauskommt, leben.
Foto links: lassedesignen/Fotolia | Foto Mitte: Tithi Luadthong/Shutterstock | Foto rechts: ImageTeam/Shutterstock
Die völlige Entäußerung – ich kann ihr nicht widerstehen. Aber das Problem der ‚Glückseligkeit‘ ist – nicht nur bei Herrn Gerisch – die Frage, wie weit Wiederholung ohne Steigerung ausreicht. Das frage ich mich deshalb bei der Planung all unserer Reisen. Zum einen will ich mich zwingen, noch etwas zu unternehmen, zum anderen muss es doch neben dieser eigenpädagogischen Maßnahme noch etwas anderes geben. Das besteht überwiegend darin, meinen Begleitern etwas bieten zu wollen. Gelingt das? Ich öde sie möglichst wenig mit meinen Erinnerungen. Wenn sie meine nachträglich verfassten Vergangenheitsbeschreibungen nicht lesen, bleiben ihnen nur die Basiliken und Boutiquen. Und die Natur natürlich. Und für mich? So etwas ganz Neues? Lieber nochmal San Diego oder zum ersten Mal Schanghai? Gänzlich Neuem bin ich wohl nicht mehr gewachsen und würde mich dem nur aussetzen, wenn ich mich durch meine Leser dazu genötigt fühlte.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
‚Glückseligkeit‘. Wenn die Wirkung nachlässt – ist man dann zufrieden oder enttäuscht? Drogen. Das Wissen, es gibt die Seligkeit, sofort, macht verwundbar. Diesen Zustand einmal erreicht zu haben, bedeutet, ihn immer wieder zu wollen. Diesem Verlangen nachzugeben, bedeutet zu scheitern, von außen betrachtet. Ihn sich zu versagen, lässt Auswege suchen: berühmt, gebildet oder ein guter Mensch werden, zum Beispiel. Zwischen den beiden Polen Selbstverwirklichung durch Aufgabe oder Selbstverwirklichung durch Hingabe gestaltet sich das Leben all derer, die darauf verzichten, im Rausch unterzugehen. Ich bin nicht untergegangen, bisher. Aber vernünftig verhalte ich mich auch nicht.
Foto oben: Dmytro Zinkevych/Shutterstock | Foto unten: Jürgen Fälchle/Fotolia
Silke will mich beschützen, vor allem natürlich vor mir selbst. Das achte ich. Rafał will mir Wünsche erfüllen, egal, ob sie mir nach irdisch-medizinischem Standpunkt schaden oder nicht. Natürlich hätte ich es gern, wenn Rafał mich am Morgen mit den auswendig gelernten Texten meiner Vortagsabsonderungen wecken würde, aber wichtiger ist, dass er mir die Entscheidung überlässt: egal, ob aus Vernunft oder aus Unvernunft. Und wenn ich nun ganz in den Rollstuhl muss? Auch da hätte ich als Betreuung lieber einen schwulen Fickschwanz als eine aufopfernde Betschwester. Nichts davon trifft auf uns Beteiligte hier und jetzt zu. Aber wenn man die Extreme außer Acht lässt, verliert man das Gefühl dafür, wie normal das Normale ist.
Rafał kam im Smoking. Das war eher nicht normal. Er ist ja kein Kellner in einem Feinschmeckerlokal. Aber für einen Theaterbesuch wollte er seine Silvester-Verkleidung nochmal zur Geltung bringen – das ist ökonomisch. Ich begnügte mich mit gedeckten Farben; Silke: prächtig wie immer.
Um 17.30 Uhr begann die Einführung, um 18.00 Uhr die Vorstellung: ‚Wartesaal‘ in den Kammerspielen. Dreieinhalb Stunden. In der Pause ein Glas Wein in der angrenzenden Bar.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Manchmal habe ich stundenlang im Lokal der Kammerspiele, schräg gegenüber dem ‚Vier Jahreszeiten‘, gesessen und geschrieben. Früher. Es beruhigt zu wissen: Ich habe nicht nur erlebt, sondern auch erfahren, spätestens, wenn ich das Erlebte aufschrieb und meine Filme schnitt.
‚Wartesaal‘ ist eine Metapher und schildert das Leben der deutschen Emigranten in Paris nach Feuchtwangers Roman ‚Exil‘, ein weiteres, effektvoll inszeniertes Kapitel zum Thema ‚Ausgeschlossen‘. Meine Nachdenklichkeit während der letzten Stunde wich mehr und mehr der Frage: ‚Wie soll ich bloß das anschließende Essen runterkriegen?‘ Als wir ins Foyer traten, sagte Rafał „Ich kann nichts essen!“ Ich hätte ihn küssen können. Silke rief in den michelinsterngekrönten ‚Südtiroler Stuben‘ an, um die Reservierung, die sie noch wegen Stücklänge während der Pause auf 22.00 Uhr verschoben hatte, nun ganz abzusagen, erreichte aber niemanden. Silke war verdrossen. Zwar liebt sie es, nichts zu essen, aber sie sitzt gern elegant vor gut geputztem Besteck. Stattdessen kehren wir doch noch auf einen unprätentiösen Happen vom Hotelempfang aus direkt ins ‚Il Tenore‘ ein, das Silke natürlich missfiel. Früher, als es noch ‚Bouillabaisse‘ hieß, war es schön verkramt, jetzt ist es allerweltssteril, aber mir war das ziemlich egal. Der Snack war ja bloß die Eintrittskarte für das Getränk. Ein Glas Wein auf dem Tisch ist mir nie genug. Die Flasche im Hintergrund beruhigt mich. Schlimm, denn abwarten zu können ist sehr wichtig. Aber wenn danach nichts mehr kommt – worauf wartet man dann? Außerdem: In so einer Flasche ist doch gar nicht besonders viel drin. Gott sei Dank, es gibt ja die nächste. Aber – auch das gibt es – ich beließ es bei einem Glas und ging schlafen.
#3.9 München 2001: Am Stück#3.11 Leisetreter und Lautsprecher
Allerweltssteril und Allerweltsstil sind das Schlimmste. Schlechten Geschmack kann ich sehr viel besser ertragen als irgendeinen Gedankenlosen massentauglichen Kram. Aber was soll man sich beschweren. Die Masse mag’s ja trotzdem.
Über Geschmack läßt sich ja bekanntlich nicht streiten.
…und trotzdem wird so wahnsinnig viel darum gestritten 😂
Man kann fast nur über Geschmack streiten. Worüber sonst? Soll mit Assad verhandelt werden? Dürfen katholische Priester heiraten und Juden Schweinefleisch essen? Schade ich mit allem, was ich tue, jemandem, der von mir als Verbraucher lebt? Da ist es einfacher, die neue Modefarbe zu begrüßen oder abzulehnen.
Natürlich. Über Fakten streite sich auch viel schlechter. Wobei in Zeiten von Fake News geht das ja mittlerweile auch.
Genau anders herum wird ja ein Schuh draus. In Zeiten von Fake News wird ja eben nicht mehr gestritten oder argumentiert. Sondern gleich FAKE NEWS geschrien wenn einem etwas nicht in den Kram passt. Das ist doch das eigentlich Gefährliche.
Was ist denn eigentlich das kleinere Übel – wenn der Körper schlapp macht und der Kopf noch fit ist oder wenn der Geist aussetzt und der Körper weitermachen will? Sehr schwierige Frage.
Oh was für eine komplizierte Frage. Vor beidem habe ich Angst. Ansonsten finde ich das Älterwerden toll. Nur die Aussicht irgendwann vielleicht nicht mehr richtig ich selbst zu sein, macht mir zu schaffen.
Zwischen ein bisschen schlapp und völlig schlapp gibt es ja viele Abstufungen. Wenn der Körper total versagt – gewindelt, gefüttert, unbeweglich – dann mag wohl der „Geist“ auch nicht mehr. Dann ist ein geistloser Körper wohl erträglichen. Totsein wäre natürlich noch schöner …
Man mag es ja kaum sagen, aber ich stimme zu, in dem Falle wäre mir der Tod auch der angenehmste Ausweg.
Shanghai ist architektonisch, historisch, städtebaulich ja tatsächlich sehr interessant. So viele unterschiedliche Einflüsse, Stile und Kulturen prallen da aufeinander. Hab mich während meiner kurzen Aufenthalte vor vielen Jahren sehr wohl gefühlt. Wäre spannend zu sehen wie sich in den letzten Jahren alles weiterentwickelt hat…
Und hier direkt ein Beispiel für den Geschmäcker-Streit: Mir gefällt Peking viel besser. Gerade historisch hat die Stadt doch sehr viel mehr zu bieten. Shanghai ist deutlich überbewertet.
Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Man kann ja noch soviel streiten, bei Geschmack kommt man ja nicht weiter.
Die dankeswerter Weise eingeblendete Busitur wird wohl eher nicht von Frau vF. getragen… oder? Fragt Frau Schmoller
Die dankeswerter Weise eingeblendete Busitur wird wohl eher nicht von Frau vF. getragen… oder? Fragt Frau Schmoller erschüttert
Von Rafal festgehaltene Postkarte aus einem verflossenen Jahrtausend.