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#3.11 Leisetreter und Lautsprecher
Der letzte Tag, an dem wir von Anfang bis Ende ‚unterwegs‘ sein würden. Ich versuche, das Zurücklegen von Strecke genauso zu genießen wie das Abbummeln ereignisloser Tage: das ‚Verweilen‘. Genießen Nonnen ihre Keuschheit und Flagellanten ihre Hiebe? Vermutlich. Wenn man für etwas einen anderen Namen (er)findet, darf man fast alles. ‚Scheiße fressen‘ wäre ja grässlich, ‚Exkremente verspeisen‘ auch, klingt aber viel appetitlicher.
Foto: Erik de Castro/REUTERS/Fotolia
Von München aufzubrechen, bedeutete eine neue Aufgabenstellung. Am Mittag wären wir nun nicht wie von Meran aus in ‚Nußdorf‘, sondern in … Ich machte Pläne ab dem Autobahnschild ‚Nürnberg Feucht‘ und kam auf Fulda. Eigentlich kannte ich Fulda nicht. Aber im April 1984 – ich war bei meinen Eltern in Meran – da passierte, wie ich Pali schrieb, Folgendes:
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Als das Telefon morgens um neun klingelte, wusste ich schon, wer es war: Roland. Und ich wusste auch schon, was es war. Nur nicht wo. Es war bei Fulda. Der Wagen lag, angeblich schrottreif, an einer Autobahn-Raststätte. ‚Nichts zu machen‘, hatte der Mann vom ADAC gesagt. Der Mann von der Tankstelle war bereit, das Wrack auf eigene Kosten abschleppen zu lassen. Roland und Mutter wollten aufgeben und zurückfahren nach Hamburg.
Der Wagen interessierte mich einen Dreck. Aber Roland und Margot wollte ich unbedingt hier haben. Alles war geplant: die Essen, die Ausflüge. Die Überraschung, die Freude, die Hingerissenheit (meine über deren). Das familiäre Osterfest hatte stattzufinden. Roland jetzt nicht zu sehen, das bedeutete mehr als drei Wochen Trennung vor weiteren drei Wochen Trennung. All das ging nicht. Ich verwies auf Züge. Roland sagte: ‚Ja ja.‘ Eher nicht. Er würde sich wieder melden. Aber so kann man sich seine Planung nicht aus der Hand nehmen lassen. Ich rief meine Sekretärin Carin von Scheibner an. Sie musste Züge raussuchen. Es gab noch einen: 10.40 Uhr. Nur so konnten die beiden den letzten Zug ab München über den Brenner erreichen. Jetzt kam es darauf an, dass Roland schnell zurückrief, schnell das Auto verscheuerte, schnell von der Tankstelle zur Ausfahrt und von der Ausfahrt zum Bahnhof kam.
Nichts passierte.
Ich wurde immer kribbeliger. Noch eine Stunde Zeit, dann würde der Zug abfahren – weg, verpasst: meine Träume, meine Pläne, mein Zusammensein mit Roland. Dann würde es für zwei Wochen keine Unterbrechung geben – immer angewiesen auf Meran mit Eltern.
Ich rief noch mal Carin von Scheibner an und ließ sie wegen ‚Hertz‘-Wagen anfragen. Rückruf von ihr, nicht von Roland: Nach Telex-Bestätigung durch Menzell-Reisebüro wäre Wagen von ‚Hertz‘ Fulda auf meine ‚Hertz‘-Kreditkarte möglich. Das Auto würde zur Tankstelle gebracht, genaue Ortsbezeichnung erforderlich. Na also! Aber warum ruft Roland nicht zurück? Der ist imstande und fährt – irgendwie – einfach nach Hause.
Das muss ich unbedingt verhindern. Aber wie? Noch einmal Carin von Scheibner: Können Sie nicht über ADAC …? Abschlägiger Bescheid.
Das ginge nicht, das machten sie nicht, das brächte nichts. Sie hat vielleicht recht, aber ich habe Instinkt. Was bleibt? Meine Alt-Damen-Riege. Nu mal ran. Dorothee – zurzeit nicht on speaking terms und wer weiß wo. Hildegard – vermutlich schon in Salzburg und konfus. Natürlich: die engste, die liebste.
„Wie ich gesagt habe“, triumphiert Helen, „Abbado geht nach Wien und Muti an die Scala. Wie geht es dir?“ – „Na, es geht, eigentlich gut, aber: ein Problem – Roland.“ Ob sie wohl beim ADAC in München die Telefonnummer der Autobahntankstelle vor Fulda rauskriegen könnte. Sie wollte es versuchen.
Und dann – nichts. Irgendjemand muss sich doch melden! Roland endlich, oder die Scheibner, und warum ruft Helen nicht zurück? Warten macht wahnsinnig. Meine Eltern sind einkaufen. Ich renne durch die Wohnung und sehne mich nach einer dritten Hand, um noch wilder in meinen Haaren drehen zu können.
Nun sind geschlagene vierzig Minuten vergangen. Es ist nach elf, der Zug ist weg. Sitzen sie drin? Haben sie sich erkundigt? Den Weg gefunden? Rechtzeitig?
Endlich klingelt es. Helen. Auch schon was. „Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Der ADAC war immer besetzt, und dann haben sie mir gesagt, Telefonnummern von Tankstellen haben sie nicht. Aber ich habe nochmal angerufen und einen anderen Sachbearbeiter erwischt. Er hat mir die Nummer gegeben, und ich habe auch schon angerufen. Der Tankwart sagte, sie sind per Anhalter zum Bahnhof Fulda gefahren und müssten jetzt bald eintreffen. Das heißt, sie haben den Zug nicht mehr bekommen. Ich habe beim Bahnhof in Fulda angerufen, sie werden Roland ausrufen und ihm sagen, er soll sich sofort in Meran melden.“
Oh Helen, dafür darfst du die nächsten Jahre lang zu jeder Verabredung zu spät kommen. Obwohl ich das mit dem Ausrufen für überflüssig hielt. Roland würde mich doch nicht hängen lassen und sowieso anrufen, wenn er am Bahnhof wäre.
Als er um halb zwölf noch nicht angerufen hatte, wurde ich ruhiger. Er musste den Zehn-Uhr-vierzig-Zug wohl doch bekommen haben und saß schon im Abteil nach München. Kurz vor zwölf klingelte das Telefon.
Roland, leicht verstört. „Ich bin noch nie auf einem Bahnhof ausgerufen worden. Dass es das gibt! Wir wollten eigentlich nicht mehr kommen.“ – „Ich habe ein Auto für dich. Warte vor dem Haupteingang auf den ‚Hertz‘-Mann!“
Carin von Scheibner grad noch vor der Mittagspause erwischt. Standort durchgegeben. Auftrag raus. – Abends um kurz vor acht waren sie da, wir hatten noch nicht mal das Abendessen fertig.
Halb elf waren sie, per Lastwagen, am Bahnhof in Fulda gewesen, sie hätten also, wenn sie sich gekümmert hätten, sogar den Zug noch bekommen. Stattdessen waren sie ins Café gegangen, um zu beratschlagen. Ergebnis: Es lohnt sich alles nicht, zurück nach Hamburg. Von dort wollte Roland mir dann Bescheid geben. Nur weil er ausgerufen worden war, kam es anders. Manchmal denk’ ich doch, dass wir sehr unterschiedlich sind.
Den Lastwagenfahrer, der die beiden nach Fulda gebracht hatte, hatte der Tankwart angesprochen. Der war überhaupt ein sehr hilfsbereiter Mensch gewesen. Er hatte sich bereiterklärt, das Auto zu verschrotten. Was Roland sonst allein fürs Abschleppen hätte zahlen müssen! Die Reifen waren ja auch nicht mehr ganz neu, und was kann man mit einer alten Stereo-MC-Anlage schon groß anfangen? Trotzdem war der Tankwart bereit, Roland 50 DM zu schicken, sobald er den Kraftfahrzeugbrief bekäme.
Ich sagte nichts weiter, schlief aber nicht gut. Am nächsten Morgen rief ich Helen an, halb neun, die arme Helen.
„Nein, nein. Ich war schon wach.“ Ob sie wohl die Telefonnummer der Tankstelle noch hätte. „Eigentlich wollt’ ich sie wegwerfen, aber dann hab’ ich es doch nicht getan. Moment.“
Nächster Anruf: Raffay Mittelweg. Bitte um Telefonnummer einer VW-Werkstatt in Fulda: ‚Aut&Sohn‘, na schön. Herr Aut und sein Sohn waren bereit, den Derby von der Tankstelle Großenmoor abzuschleppen und zu reparieren. Nun kam das Schlimmste. Anruf Großenmoor. „Mein VW Derby ist gestern bei Ihnen liegen geblieben. Die Firma ‚Aut‘ wird ihn im Laufe des Vormittags abholen.“ Widerrede? Schon weg, ausgeschlachtet, versprochen? – Sie haben kein Recht, Sie haben keinen Fahrzeugbrief. Ich werde meinen Anwalt …
Nichts da! Keine Widerrede. „Sie haben die Schlüssel, die Papiere?“ – „Ja.“ – „Sind Ihnen noch Kosten entstanden?“ „Nein.“ „Danke für Ihre Hilfe.“ Schluss.
„Du kannst dich nie von was trennen“, sagte Roland. Herr Aut sagte heute: „Es war kein neuer Motor nötig. Ein paar Teile.“ Am Montag, auf der Rückreise, hole ich den Wagen in Fulda ab. Fest steht für mich, dass das Auto nicht kaputt gegangen wäre, wenn Roland nicht die ganze Zeit mit durchgetretenem Gaspedal gefahren wäre. – „Wieso? Das muss er doch aushalten! Dazu ist er doch da. Ich hab mich nicht mehr nach ihm umgesehen, so wütend war ich auf diese Kiste. Weg auf den Schrott!“ Ja, so hatte er es mit den beiden Katzen auch gemacht. Ab ins Tierheim. Aber den Wagen wird er wiedersehen, für mindestens ein Dreivierteljahr, dann bekommen wir Guntrams Mercedes. Der neue ist für ihn schon bestellt. Vielleicht kann ich ja Roland auch überreden, den Derby zu behalten, für seine Zwecke. In der Stadt wird er ihn ja vielleicht nicht durchtreten. Obwohl die Aussicht auf den Mercedes ihm schmeichelt.
„Ja, den nehmt euch mal!“, sagte seine Mutter nach ihrer ersten Fahrt. Sie weiß, was gut ist. Wenn wir Ausflüge zu dritt machten während dieser Tage, saß ich allerdings am Steuer, sonst hätte Guntram uns sein Auto nach den einschlägigen Erfahrungen nicht zur Verfügung gestellt. Roland setzte sich dann neben mich und wies seiner Mutter den Platz hinten an, das war Erlebnis genug für die gute Frau. Überhaupt, die Höflichkeit. Irene monierte, dass er nichts anerkennt, nichts lobt, sich nie bedankt, alles selbstverständlich nimmt, seine Mutter auf dem Hocker sitzen lässt, um sich den Sessel zu nehmen, auf dem Balkon den letzten Liegestuhl belegt, so dass Irene stehen muss, was ihr auch vor Karen und Hasso ‚unangenehm‘ ist.
Schlimmer noch finde ich, dass er jetzt, wo er seine Mutter nach Hamburg geholt hat, an ihrem Mittagstisch zu verspießern scheint, zumindest fällt es mir jetzt besonders auf. Manches kommt mir wirklich klein gedacht vor – und klein empfunden.
An einem der Abende waren wir noch zusammen in einer Weinstube, dem einzigen Abend, den wir für uns hatten. „Wir sollten mal wieder allein verreisen, das ist immer schön“, sagte Roland. Und er beklagte sich, dass ich so viel weg sei, so habe er sich eine Partnerschaft nicht vorgestellt. Das solle keine Drohung sein, aber vielleicht eine erste Warnung. Ich hörte aufmerksam zu und wusste nichts zu entgegnen, auch das Versprechen, etwas zu ändern, mochte ich nicht geben.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Das Bild von Roland’s Mutter ganz unten 💙 Everything! Mehr Stil geht nicht.
Ein wahres Wort!
Ist der ganze Punkt mit der Keuschheit nicht, dass man sie eben nicht geniesst? Ich dachte das soll eine Art Opfer sein. Wobei es die katholischen Priester ja eh nicht sonderlich genau damit nehmen…
Der Zölibat ist eine Fiktion: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/katholische-kirche-der-zoelibat-ist-eine-fiktion-a-683730.html
Der „Wir-sind-Papst“-Ratzinger sagte also, dass der Zölibat „ein heiliger Wert“ sei, „ein großes Geschenk“, das bewahrt werden müsse, wie ich Mimi Kästners Hinweis entnehme.
Dass der zurückgetreten ist, war doch sehr nobel …
Wieviel Leid dieses idiotische Verbot hervorgebracht hat…
So sehr ich Reisen liebe, das „das Zurücklegen von Strecke“ ist allenfalls ein notwendiges Übel. Spaß macht es mir definitiv nicht. Aber ohne Anstrengung auch keine Belohnung.
Dabei gehört gerade das doch dazu. Sonst endet man ja doch nur als Tourist im All Inclusive Hotel oder sitzt im Reisebus von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten.
Das stimmt natürlich, aber ein 30h Flug nach Australien ist beispielsweise recht unangenehm. Auch wenn man kein Pauschaltourist ist.
Das Zurücklegen von Strecke, muss die Vorfreude steigern. Wenn am Ziel dann alles in Enttäuschung mündet, hatte man wenigstens vorher die anregende Erwartung.
Ich nehme für eine spannende Reise auch gerne jegliche (fast jegliche) Unannehmlichkeit in Kauf. Es gibt ja nicht viel was mehr inspiriert als neue Orte, neue Kulturen, neue Eindrücke…
Auf die Idee, dass man in Anwesenheit seiner Eltern verspießert, bin ich noch nie gekommen. Klingt gar nicht so abwegig.
Oder man rebelliert. Das geht auch nach fünfzig Jahren noch ganz gut.
Die neue Generation wird ja eh wieder total spießig. Da braucht’s die Anwesenheit der Eltern dann gar nicht mehr.
Zurück in die Fünfziger. Schlimmer geht’s nimmer.
Das Gefühl, im Beisein der Eltern zu verspiessern, kenne ich als Kind und als Eltern im Beisein des Kindes…