Der ‚Schneiderwirt‘ in Nußdorf ist ursprünglicher geblieben. Wir hatten uns im Tief vor München, das Rafał mit 180 Sachen durchmaß, ohnehin auf Nußdorf eingestellt und waren zu alt um umzudisponieren.

Der ‚Schneiderwirt‘ verdankt unsere Treue einem Malheur. Am 19. Juli, genau einen Monat nach meinem Geburtstag, waren Harald und ich in die Sommerferien aufgebrochen, mit Irenes perlweißem VW Käfer, aber ohne sie selbst. Im ersten Lehrjahr bei Deutsche Grammophon standen mir nur drei Wochen Urlaub zu, damit musste sich Harald, der nach seiner Militärzeit noch mitten im Studium steckte, abfinden. Natürlich sollte es wieder nach Italien gehen, morgens um fünf. Den Elbtunnel gab es noch nicht, die Brenner-Autobahn auch nicht. An der Werratalbrücke in Süd-Niedersachsen standen wir eine Stunde im Stau. Das Wetter war schön. Am Biebelrieder Dreieck standen wir zwei Stunden im Stau. Das Wetter war herrlich. Am Abend, auf der Inntalautobahn hinter Rosenheim fuhr Irenes Wagen einfach nicht weiter. Wir erreichten so gerade eben noch eine Tankstelle. Der Tankwart war schon von seiner Kundschaft überfordert, von unserem Problem erst recht. Ein Abschleppdienst kam und tat das, wofür er bezahlt wird. Er brachte uns über die Autobahn zur nächsten VW-Werkstatt und die war in, eigentlich vor, Nußdorf. Es war Samstagabend im Hochsommer. Das Wetter war wunderbar. Der Werkstattbetreiber war noch da und erkannte: „Der Motor ist hin. Ein neuer kostet …!“, wie viel, weiß ich nicht mehr. Der mitleidige Abschlepper brachte uns zur Dorfgastwirtin, und die hatte sogar noch ein Zimmer für uns. Wir saßen im Garten, tranken Bier und grämten uns. Es gab keine Handys, keine Kreditkarten, keine Bankautomaten. Und morgen war Sonntag. Wenn einem das mit siebzig passiert, wird man verrückt. Mit Mitte zwanzig wird man nur betrunken.

Foto links: Alexander Raths/Shutterstock | Foto rechts: Peter Atkins/Fotolia | Foto unten: Kzenon/Shutterstock

Am nächsten Morgen gingen wir wie verabredet zur Werkstatt. Der Eigentümer wohnte dort, was das Treffen vereinfachte, jedenfalls für ihn. Inzwischen hatte ich mit meinen Eltern gesprochen, die nicht erfreut, aber bereit gewesen waren, die Summe zu überweisen. Wenn man selber nicht dabei war, denkt man ja leicht: Wer einen Schaden hat, hat wohl was falsch gemacht; nur Helikopter-Eltern denken, der dumme Lehrer gönnt es ihrem klugen Sohn nicht, Klassenbester zu sein, und gibt ihm deshalb Vieren statt Zweien.

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Der Werkstättler hatte sogar einen gebrauchten VW-Motor auf Lager und sagte zu, ihn am Montag auszutauschen. Wir hatten unsere Ankunft in Venedig schon um eine Nacht verschoben, zu mehr war ich nicht aufgelegt. „Heute ist Sonntag“, sagte der Mechaniker zu mir, obwohl er wusste, dass ich das wusste. Dann eben mit Erpressung: „Wenn Sie es nicht heute machen können, lasse ich den Wagen morgen abholen und nach Hamburg bringen“, sagte ich so gleichmütig wie möglich. – Während die Kirchenglocken zur Messe riefen, setzte der fromme Bayer den neueren Motor in Irenes älteren Käfer ein. Dann fuhren wir behutsam über die Alpen.

Von da an hatte ich Nußdorf liebgewonnen. Ich sah mehr die Hilfe als die Panne: Wenn etwas gut ausgeht, kann man es positiv sehen, nachträglich. Auf unserem Weg von Italien machten wir hier oft Rast. Als Beispiel füge ich hier einen Clip von 1979 ein.

Am Mittag des 20. Dezember 2017 empfing das für den Schlechtwetterfall vorgesehene Nußdorf uns mit strahlendem Sonnenschein, was ich hübsch, aber ein bisschen niederträchtig fand. Beim ‚Schneiderwirt‘ war es urig wie eh; ich aß, wie ich es mir vorgenommen hatte, Schweinsbraten, Silke wie immer die Hälfte von was Leichtem, und Rafał rauchte draußen, wenn es drinnen nichts zu essen gab.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Die Grenze erreichten wir in einer Viertelstunde. Sie war bis auf ein kleines Schild nur daran zu erkennen, dass es auf der Gegenfahrbahn einen längeren Stau gab: nach Deutschland rein war schwieriger als aus Deutschland raus. Wir versuchten, nicht allzu schadenfroh zu sein; die AfD hätte sich gefreut.

Über den Pass kamen wir problemlos, auch wenn unser uralter Scherz, dass Silke nun zum Baden ihren Tanga rausholen müsse, am zugefrorenen Brennersee nicht recht funktionierte. In Südtirol war alles wie immer, bloß eben Winter, so dass die kahlen Rebstöcke zu frieren schienen. Oben auf den Bergen lag Schnee, und mehr konnten wir nicht verlangen.

Rafałs Mann Carsten war mit Beagle-Hündin Sally schon einen Tag eher eingetroffen, weil er in Österreich zu tun gehabt hatte. Es ist schön, empfangen zu werden, wenn man nach Hause kommt; mich erinnert es an alte Zeiten, und Rafał hatte jemanden, der ihm beim Gepäck half. Dafür falle ich ja aus. Dann komme ich mir immer so überflüssig vor, aber das muss ich aushalten, sonst käme ich überhaupt nicht mehr vor die Tür. Wenigstens konnte ich feststellen, dass Fernsehen und Computer, einschließlich Drucker, funktionierten; das war wichtiger als das Wetter. Andernfalls hätte ich wieder abreisen müssen – oder zumindest jemanden kommen lassen. Zum Abendessen war auch alles da, was Rafał per WhatsApp Carsten instruiert hatte zu besorgen. So saßen wir im Esszimmer und begannen schüchtern, uns auf Weihnachten zu freuen. Rafał gestaltete seine Pläne für Dekoration und Beköstigung aus, und ich dachte an das, was ich alles schreiben wollte. Vorweg: Schmuck und Schmaus würden unvergesslich werden; das Schreiben ertrank in Ausreden. Aber am ersten Abend war alles noch Erwartung.

Foto: Thaut Images/Fotolia

Silke ging die paar Schritte in ihre Wohnung, ich die noch wenigeren in den ersten Stock, und Carsten und Rafał gingen die hundert Schritte in den Ort, erst mit Sally, dann nochmal ohne Sally. Carsten kam früher zurück, Rafał später. Alles wie immer.

Manchmal sagen Menschen, mit denen ich in Hamburg zu tun habe, bevor wir nach Meran aufbrechen, zu mir am Telefon: „Ach, Sie fahren wieder in Urlaub, gute Erholung!“; dann antworte ich so wenig besserwisserisch wie möglich: „Ich fahre nicht in Urlaub. Ich fahre nach Hause.“

13 Kommentare zu “#1.9 Kurz vor der Grenze

  1. Motor tauschen und schwupps weiter. Klasse. Klassiker sind deshalb eben klassisch. Ansonsten ist ein Austausch immer kompliziert bei Motoren wie bei Menschen. Wie immer ein schöner Spass von Ihren Abenteuern zu lesen, ach wir sind ja per Du….

    Bis bald.

  2. Ah wie immer schön, zu den Bildern, die beim Lesen entstehen, ein paar Eindrücke von damals im Video zu sehen. Danke, dass Sie uns teilhaben lassen.

  3. Ist aber auch immer wieder interessant, wie sich scheinbar schlimme Situationen im nachhinein in positive oder witzige Erinnerungen wandeln können. Einige meiner liebsten Geschichten gehören in diese Kategorie.

  4. Ich mag Reiserituale sehr. Und ursprünglich gebliebene Gaststätten. Ohne Hipsterbashing betreiben zu wollen … aber Restaurants, Kneipen etc. mit ein bischen Geschichte und Menschen, die diese Geschichte verkörpern, sind mir lieber als auf Teufel komm raus im Trend zu sein.

    1. Trends sind immer der falsche Grund eine Entscheidung zu treffen. Mittlerweile ist es allerdings fast schon provokant nicht im Trend zu sein. Manchmal denke ich, trotzdem sich unsere Gesellschaft weiter entwickelt, machen uns die ganzen sozialen Medien und digitalen Informationswege viel konformer als noch vor zwanzig Jahren.

    2. Amen! Entgegen der landläufigen Meinung, dass bspw. durch Instagram junge Künstler eine einfache Plattform bekommen und somit alles vielfältiger und reicher an Ideen wird, beobachte ich viel mehr, dass immer mehr kopiert wird und sich alles immer weiter angleicht. Neue Stimmen sind rar. Leider.

    3. Die interessantesten Neuerungen gibt es heutzutage im technischen / digitalen Bereich. Wenn es um Kreativität und Kunst geht, wiederholt es sich tatsächlich eher.

    4. Das trifft auch aufs Erzählen zu. Alle Kontinente sind entdeckt. Der eine berichtet von seiner Safari im Dschungel – man langweilt sich zutode. Der andere berichtet vom Brötchenholen – man lacht sich scheckig. Das „Wie“ schlägt das „Was“.

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