Um der Authentizität willen füge ich hier ein paar Szenen aus meinen Briefen an Harald ein: 1970 in der ‚Postkutsche‘.

In der Nacht schneite es, und am nächsten Morgen schien die Sonne. Deshalb wurde ein Spaziergang unternommen, den zunächst meine Eltern wegen der Umfälligkeit meiner Mutter und dann Hasso und Karen wegen Faulheit abbrachen.

Ich wanderte frohgemut weiter und fand es herrlich. Durch Waldstücke über weißverschneite Matten, vorbei an flachdachigen Bauernhäusern mit aus dunklen Winkeln lugenden Katzen ging es an halb erfrorenen Bächen entlang, eine Unbeschwertheit: nicht wie in Stiefeln, sondern wie barfuß. Ich stapfte mir meine eigenen Wege und sah über Einsamkeiten hinweg ins Tal.

Die Sonne blendete, und ich war frei und froh und sorglos. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war und kletterte höher und weiter durch eine Mischung aus Idylle und Abenteuer.

Foto links: by Paul/Shutterstock | Foto rechts: Olha Sydorenko/Shutterstock

Ich ging nach oben im Dunkeln. Keine Spuren im Schnee, nur die Fährte, die ich mir schuf. Ich sah hinab auf den matt flimmernden Ort. Es war still und entrückt. Aber dann hangelte ich hinunter, badete genüsslich und wusch mir die Haare. Nach dem Essen saß ich mit meinen Eltern in der Halle und ließ mir Whisky Sour servieren. Es ist alles so schön und nutzlos. Ich genieße es sehr. Ich lebe immer am Rande, nie in der Mitte. Das war seit eh und je so. Immer glaube ich, dass ich wer-weiß-was versäume, und doch sagt mir mein Instinkt, vielleicht der Selbsterhaltungstrieb, ich müsse mich abseitshalten. – Wenn ich nachher dann das sah, was mich vorher gereizt hatte, war ich immer froh, mich nicht an diesen Dreck verschwendet zu haben. So wird es mir auch später gehen. Solange man die Möglichkeiten hat, kann man sie ruhig schießen lassen. Nur was passiert, wenn sie knapp werden? Das Beste ist gerade gut genug für mich. Aber was ist das Beste? Meine Schrift ist heute wirklich schauderhaft. Entschuldige! Aber wenn ich mich gehen lasse, müsste ich doch eigentlich auch ganz reizvoll sein … Übrigens schreibt all das, wie Du vielleicht schon ahnst, nicht Hanno Rinkelchen an Dich, sondern ich, die Medizinmannstochter Basalinia Wupapa Twombu aus Uganda. Extra, um Dir schreiben zu können, habe ich Deutsch gelernt und mir dann Deine Adresse ausgedacht.

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Noch ein Wort zu den neuen Gästen aus Amsterdam: Mein Vater berichtete heute Morgen entrüstet, im Zimmer neben meinen Eltern hausten jetzt zwei Warme Brüder, die nachts um halb drei mit Karacho durch den Flur gepoltert wären, laut gekichert und gequietscht und dann ein Schaumbad eingelassen hätten (mein Vater traut sich zu, dies beim Wassereinlaufenlassen von einem schaumlosen Bad unterscheiden zu können), in dem sie gejuchzt und geplantscht hätten. Doch ganz jäh und plötzlich sei es ganz still geworden und auch geblieben. ‚Herrlich, Doppelselbstmord‘, dachte ich sofort, sah mich aber insofern enttäuscht, als ich heute Morgen bereits einen der beiden in der Diele wahrnahm, und zwar den Groben. Er ist so’n richtjer Kerl, wie sich’s jehört. Der andere hingegen ist feingliedrig und ruhte sich wohl noch im Bette aus. Meine Mutter wusste zu den Schilderungen meines Vaters lediglich beizutragen, dass sie ‚das‘ bereits geargwöhnt hatte, als die beiden Herren gestern ins Restaurant getreten waren. Wenn zwei Frauen oder zwei Männer zusammen reisten, hätte sie immer gleich den Verdacht. – Was für ein ausgewogenes Urteil! Da weiß ich ja, woher ich sie habe, meine voreiligen Schlussfolgerungen.

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Nach dem Abendessen saßen wir in der Halle rum, und ich wartete schon ungeduldig, als Schritte die Amsterdamer ankündigten, die vornehmerweise erst um halb zehn essen. Sie gingen die Treppe runter, und ich stellte fest, dass der eine nur wegen seiner Breitschultrigkeit mächtiger wirkte und blond gelockt war. Der andere schwarz und zierlich, aber beide völlig normal, obwohl meine Prüfung sicher nicht die leichtfertigste auf diesem Gebiet ist. Aber meine Eltern, für die der Fall schon abgeschlossen war, kicherten nur einmal flüchtig.

Als wir vor etwa einer halben Stunde nach oben gegangen waren, hatte mein Vater mit einer karikierenden Handbewegung an der Tür der beiden piepsstimmig gesagt: ‚Na, ihr Kleinen!‘ Der reine Spott. Und irgendetwas in mir verhöhnte plötzlich diesen Hohn, irgendetwas in mir wurde widerspenstig, rachsüchtig, besserwisserisch. Seltsam, welche Kleinigkeiten uns beeinflussen, bestärken, verletzen, unseren Dünkel und unseren Ekel wecken – uns zu Fremden machen, überall. Man kann Frauen durch Männer und Männer durch Frauen ersetzen, am Arbeitsplatz sowieso, Moral durch Stolz und Pflichtgefühl durch Ehrgeiz. Nur eins ist unersetzlich unersättlich: der Basalinia Wupapa Twombu ihre Gier nach mir.

Ach, und übrigens, mein Junge: Wenn ich ein Verfahren entwickelt hätte, sich rings um die Taille lauter Geschlechtsteile anoperieren zu lassen und somit in der Lage zu sein, wie auf der Tastatur eines Klaviers ewig rauf und runter zu spielen, so dass die Kette der Orgasmen nie abreißen würde, weil man, ähnlich einem Jongleur, der den einen Teller in die Luft wirft, bevor er den anderen fängt, stets vor Beendigung des Lustkrampfs eines Organs das nächste bereits dazu gebracht hätte, seinerseits zu lustkrampfen – ich würde es Dir nicht verraten. Denn wer weiß, ob Du solcher Seligkeit gewachsen wärest. Schlaf lieber! Licht aus.

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Im Januar 1970 schrieb ich aber nicht nur solche Briefe an Harald, sondern auch mein erstes Theaterstück, ‚Stromabwärts‘, eigentlich, um Herrn Bertz eine Freude zu machen: Es sollte zur Abschlussfeier unserer Ausbildung aufgeführt werden, und ich hatte sogar schon die Besetzung im Kopf. Aber es kam anders. Erst jetzt, 2018, werden die Gedanken, das Stück aufzuführen, weiterverfolgt.

Von diesem Jahr 1970 an fuhren wir regelmäßig nach Kitzbühel, Irene noch etwas regelmäßiger, aber auch Guntram und ich bekamen Unterkunft und Injektionen im Arzthaushalt. Herr Doktor Rumpoldt gefiel zwar besonders meiner Mutter, und seiner Meinung, dass die Menschheit immer dümmer würde, weil sich die Doofen viel krasser vermehrten als die Klugen, konnte sie nur beipflichten, aber auch mein Vater überwand seine Eifersucht, um sich gesundspritzen zu lassen. Ich wollte mich nicht ausschließen, immerhin hatte ich es mindestens so nötig, fit zu sein: In die Vene gab’s sofort was, mit Zäpfchen für unten und Tropfen für oben überbrückte man dann die Zeit bis zur nächsten Kur.

Foto: Olga Kuzyk/Shutterstock

14 Kommentare zu “#2.9 Ausschnitte, Eindrücke

  1. Warum schreibt heutzutage eigentlich kaum mehr jemand Briefe?! Was für eine wunderbare Art seine Gedanken festzuhalten und mit seinen Liebsten zu teilen. Weder Email noch SMS können da mithalten.

    1. Email, SMS, Whatsapp etc. sind natürlich viel direkter und haben dadurch sicherlich auch einen großen Nutzwert. Ein Ersatz für einen Brief sind sie sicherlich nicht. Dass sich niemand mehr Zeit nimmt ein wenig reflektierter zu kommunizieren ist tatsächlich schade.

  2. Die Doofen vermehren sich schneller. Hahahaha, das scheint mir bei dem ein oder anderen Wahlergebnis dieser Tage auch so…

    1. Die vielen schlimmen Wahlergebnisse liegen ja vor allem auch an den Unmengen an Protestwählern. Die Politik sollte vielleicht langsam mal anfangen zu überlegen woran das liegt.

  3. Oooh verstehe ich das richtig, ein Theaterstück von Hanno Rinke soll zur Aufführung gebracht werden? Wo wird man das denn sehen können? Respekt!

  4. Die Zeichnung zu diesem Thema ist genial. Immer wieder eine Überraschung und
    grosse Freude! Die Körperhaltung von Irene – dazu der Blick – ich sehe sie vor mir.

  5. Der Geschlechtsteilgürtel klingt eher nach Folter als nach Lust. Außer im Horror-Snuff-Film sollte wohl auch niemand auf die Idee kommen dies weiter auszuführen.

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