Teilen:
#3.9 München 2001: Am Stück
Wieder zehn Jahre weiter. Roland ist tot, Guntram vegetiert im Altersheim, zuhause ging es nicht mehr. Irene lebt mit mir im ‚Kutscherhäuschen‘: sie unten, ich oben. Aber irgendwann müssen wir – nun zu zweit – auch mal wieder nach Meran. Gerade waren wir in Köln, wegen der Finanzen, nun ist das Anwesen in Südtirol dran. Margot, Rolands schrillstimmige Mutter, passt derweil auf Guntram auf. Seit Rolands Tod hat Margot ja außer Grabpflege nicht viel zu tun. Wir arrangieren uns. Wie, kann man hier lesen:
Foto: Privatarchiv H. R.
Vor die Reise nach Italien hatte ich, zu Irenes Verdruss, München gesetzt. Ich wollte einfach ‚München im Sommer‘ wiedererleben. So viele unvergessliche Erinnerungen mussten da auf ihre Beständigkeit geprüft werden! Also ließ ich Irene wissen, dass sie zu hinfällig sei, die Reise an einem Tag durchzustehen. Da ihre Kraftlosigkeit ihre mächtigste Waffe ist, konnte sie gegen meinen Vorschlag schlecht anargumentieren. Zudem: Wer Margots Kreischen durchsteht, kann mir nicht weismachen, dass ihm Helens glockenhaftes Lachen unzumutbar sei.
Ich hatte Helen die Wahl des Lokals für den Abend überlassen, nicht um sie zur Verzweiflung zu treiben, sondern um ihr eine Freude zu machen. Zu meinem Befremden entschied sie sich für den unüberdachten Innenhof des ‚Bayerischen Hofes‘, für den ich dann auch achselzuckend schon von Hamburg aus einen Tisch bestellte, und zwar für vier Personen: nicht weil Helen immer wen mitbringt oder besonders viel frisst, sondern weil man zu viert meiner Erfahrung nach deutlich besser positioniert wird als zu dritt, so dass Irene dann vielleicht nicht gleich mehrfach, sondern nur einmal den Tisch wechseln müsste, um zufriedengestellt zu werden.
Dank Gepäckträger-Service klappte die Verbringung unserer Mitnehmsel von Othmarschen zum ‚Hotel an der Oper‘ problemlos. Vier, fünf Fingernägel bricht man sich dabei ja sowieso immer ab. Sogar mein verschollener Laptop fand sich auf dem von mir reservierten, aber von Irene verschmähten Eisenbahnsitz wieder ein, nachdem Candido, der rührige Hausmeister des stattlichen Herrenhauses, dessen schmächtiges Anhängsel unser ‚Kutscherhäuschen‘ einst war, also schon wieder zum Auto gerannt war, um das Notebook zu suchen; aber bevor er zurückkommen und uns mitteilen konnte, dass nichts im Wagen geblieben sei, war der Zug sowieso bereits losgefahren.
In München war es heiß, und es drängte mich, Irene zum Chinesischen Turm zu führen. Doch zunächst mal musste die Verabredung mit Helen bestätigt werden.
„Hanno, ich werde nicht am Marienplatz aussteigen. Dort findet eine Homosexuellen-Veranstaltung statt, da will ich nicht hineingeraten.“
„Das kann ich verstehen“, sagte ich, „dann treffen wir uns direkt im ‚Hotel an der Oper‘, wir geleiten dich dann sicher über die Straße.“
Bachforellenflink änderte ich die Richtung und ging mit Irene schnurstracks zum Marienplatz. Dort war in der Tat alles in Gange, was ich die Woche zuvor in Köln versäumt zu haben meinte, als ich mit Irene kleinmütig in den Zug nach Hamburg gestiegen war, während sich die Jubeltrinen für die Parade aufputzten.
Es gab am Rathaus volksfestübliche Buden, Straßentheater, knutschende Pärchen, nur eben alles schwul. Irene stellte keine Fragen, sie war es ja nicht mehr anders gewohnt, wenn sie ihr Haus verließ, und, streng genommen, wenn sie daheim blieb, auch nicht.
Es war drollig anzuschauen, aber mehr auch nicht. Selbst meine Mutter war vom Christopher Street Day in New York viel zu abgehärtet, als sich über irgendetwas zu wundern. Der Tuntentanz reichte bis an die Oper ran, dort bestiegen wir ein Taxi, denn ich glaubte, den Chinesischen Turm doch noch in den Tag hineinpressen zu können. Dass der iranische Fahrer einen etwas ungewöhnlichen Weg nahm, sah ich schon, aber ich war ja eine Zeit lang nicht mehr in München gewesen, und die rege Bautätigkeit in Deutschland erschöpft sich wohl nicht in Maßnahmen für die Berliner Mitte. Vielleicht hätte mich das Starnberger Nummernschild stutzig machen sollen, aber will man sich, kaum unterwegs, gleich von seiner ausländerfeindlichen Seite zeigen?
Wir wurden zwischen Büschen abgesetzt, und so weit war auch alles in Ordnung, aber als wir den Sandweg eine Weile entlanggeschritten waren, öffnete sich der Blick auf einen wunderschönen, langgestreckten See. Ich erholte mich verhältnismäßig schnell von dem Schrecken, als mir klar wurde, dass es sich nicht um den Starnberger handelte, denn sonst wäre dort ja Peter Maffay oder Heiner Lauterbach gewesen. Eine übersichtliche Tafel für rüstige Wanderer informierte uns darüber, dass wir vier Kilometer nördlich des Chinesischen Turms, aber durchaus noch im Englischen Garten waren. In fünf Stunden hätte ich vor zwanzig Jahren den damals um diese Zeit gut besuchten Treffpunkt für Abenteuersuchende, etwa tausend Schritte weiter südwestlich gelegen, in gut zweieinhalb Stunden erreichen können. Irene fing augenblicklich dermaßen an, über Hüftschmerzen zu klagen, als hätte sie jemand aufgefordert, Guntram zu besuchen.
Da kam – welche Fügung! – eine offene Pferdekutsche. Es war wie im Märchen, nur war die Geleitfrau als gute Fee zu jung, andererseits: Als Prinzessin war sie dann auch wieder zu stabil. Doch war es ohnehin nicht der Zeitpunkt, um Cinderellas Ballkleid-Verwandlung durchzuspielen. Stattdessen griff ich wie Kohl nach dem Mantel der Geschichte, also nach der Kutschentür, damit Mutter und Sohn doch noch das ferne Ziel erreichen würden. Nach einer herrlichen Fahrt durch etwas wie halb Oberbayern kamen wir tatsächlich zum Remmidemmi um den Chinesischen Turm, und ich zahlte, bevor der Gaul auskeilte. Unterwegs waren uns etliche Wandersleut’ begegnet, aber ich hatte darauf geachtet, dass Irene das Volk nicht huldvoll grüßte, aus Furcht, sie würde dann den Abstieg an die Holztische nicht verkraften.
Ich ließ sie sitzen, wo noch Platz war, und stellte mich nach einer Maß an. Dann rannte ich in zunehmender Panik mit meinem Liter Bier durch die Bankreihen, ohne eine einzelne Dame mit hochgestecktem Haar irgendwo zwischen den Zechern zu erblicken. Leicht beunruhigt malte ich mir aus, wie sich spätestens gegen elf die Reihen so weit gelichtet hätten, dass mir dann, wenn es nicht schon ganz stockfinster wäre, eine einsame Frau an ihrer Verzweiflung aufgefallen wäre. Inzwischen wäre der Rettungswagen längst mit Blaulicht vom ‚Bayerischen Hof‘ zum Krankenhaus Rechts der Isar unterwegs, weil der Oberkellner Helens Nachforschungsaktivitäten nicht gewachsen gewesen wäre.
Ganz woanders, als ich sie abzusetzen gemeint hatte, stöberte ich die völlig unbeunruhigte Irene auf, sie hatte keinen Augenblick früher mit mir gerechnet und schwor, sie habe sich nicht von der Stelle bewegt, was ich ihr angesichts dessen, dass ich aus derselben Richtung auf sie zukam, in die ich gegangen war, auch glaubte, zumal ihr nicht zuzutrauen war, dass sie den Brezelstand, an den ich mich nun wieder erinnerte, mitgeschleppt hätte.
Es blieb mir leider nichts anderes übrig, als Irene zu bitten, die heitere Sommerstimmung und den Inhalt des randvollen Kruges doch recht zügig zu genießen, um Helen nicht unnötig zu verärgern. Ein Liter Bier trinkt sich aber nicht für jede Kehle innerhalb von zehn Minuten weg, und das Schlimme war, dass in diesem speziellen Falle Irene die Reste nicht wie sonst papierserviettenumhüllt in ihrer Handtasche wegtragen konnte. So blieb eine ansehnliche Pfütze im Glas, auf die Irene noch wehmütig zurückblickte, als gerade eine Taxe drei Japaner ablud. Wieder Glück, und ein Wagen mit Münchner Nummernschild, so dass wir rechtzeitig im Hotel waren, um uns noch rasch den Schweiß wegzutrocknen, bevor wir Helen entgegenzueilen hatten.
Es blieb mir leider nichts anderes übrig, als Irene zu bitten, die heitere Sommerstimmung und den Inhalt des randvollen Kruges doch recht zügig zu genießen, um Helen nicht unnötig zu verärgern. Ein Liter Bier trinkt sich aber nicht für jede Kehle innerhalb von zehn Minuten weg, und das Schlimme war, dass in diesem speziellen Falle Irene die Reste nicht wie sonst papierserviettenumhüllt in ihrer Handtasche wegtragen konnte. So blieb eine ansehnliche Pfütze im Glas, auf die Irene noch wehmütig zurückblickte, als gerade eine Taxe drei Japaner ablud. Wieder Glück, und ein Wagen mit Münchner Nummernschild, so dass wir rechtzeitig im Hotel waren, um uns noch rasch den Schweiß wegzutrocknen, bevor wir Helen entgegenzueilen hatten.
Das Telefon klingelte.
„Hanno, ich kann nicht mitkommen, es tut mir leid, ich habe die ganze Zeit gespuckt. Es ist schon gar nichts mehr drin. Die Magenschleimhäute quetschen noch den letzten Saft heraus.“
Diese Formulierung habe ich mir sicherheitshalber sofort aufgeschrieben; denn ich befürchtete, am nächsten Tag würde ich glauben, ich hätte sie mir ausgedacht. Ich wünschte Helen mit kummervoller Stimme gute Besserung, und Irene sagte: „Das macht sie nur, weil ich dabei bin.“
So strebten wir also zu zweit dem ‚Bayerischen Hof‘ entgegen, und Irene fand wie üblich alles viel schöner als in Hamburg. Ich hatte ja immer im ‚Vier Jahreszeiten‘ gewohnt; aber hier hatten wir vor mehr als dreißig Jahren die Hochzeit von Herrn Gerisch gefeiert, in deren Folge Irene am Kitzbüheler Horn und Krankenlager knapp dem Tod entgangen war, meinte sie. Wie Helen ausgerechnet auf den ‚Bayerischen Hof‘ verfallen war, bleibt mir rätselhaft, zumal ich mich nicht erinnern konnte, dass sie dort je mit dem Pianisten Michelangeli gespeist hatte, für sie das Maß aller Dinge.
Im Innenhof waren die Stühle vor die Tische geklappt, was darauf hindeutete, dass draußen nicht serviert wurde, und nebenbei auch einen trostlosen Anblick bot. „Erwarten Sie ein Gewitter?“, fragte ich den Oberkellner, der sichtlich froh war, nicht ins Krankenhaus Rechts der Isar zu müssen. Ich selbst fand, meine Frage klang wie: „Kommt Domingo noch nach der Vorstellung?“
„Nein“, sagte der Kellner, „es ist zu heiß.“
Das leuchtete mir keineswegs ein, und der Mitteltisch im Saal gefiel mir noch schlechter, als er Irene gefiel. Ich sah auf die Kellner, die Bestecke und die Speisekarte. Alles war so aufgezwirbelt anspruchsvoll wie in der Woche zuvor auf dem Kölner ‚Hotel im Turm‘, nur eben im Parterre.
„Es gibt ein Problem mit unseren Gästen“, sagte ich und fummelte mein Handy raus. Nun, da Helen sowieso nicht kam, brauchte ich ja nicht zuzugeben, dass sie nur eine Person war.
Ich begann erregt mit niemandem zu reden und erklärte ihm auch, dass die Verständigung so schlecht sei, dass ich nach draußen gehen müsse. Irene folgte meinem Wink derart zögerlich, dass ich sah, wie es einer Hotelangestellten im schwarzen Kleid gelang, sich zwischen Irene und den Ausgang zu schieben. Doch Irene schwebte ohne jede Verlangsamung an ihr vorbei und sagte mit sehr klarer, dennoch damenhafter Stimme: „Ich glaube, das Ganze löst sich auf.“
Die Hotelangestellte blieb wie erstarrt zurück und hauchte: „Oh Gott.“ Die Chancen des Krankenhauses Rechts der Isar schienen wieder im Steigen begriffen, doch dann schloss sich die Schwingtür hinter Irene, wir durchmaßen die Halle und gingen ins ‚Spaten-Bräu‘, Spanferkel mit Krautsalat essen. Meine Mutter und ich: Wir sind nun mal ganz, ganz bodenständig.
Foto links: Marian Weyo/Shutterstock
#3.8 München 1991: Bis zum ersehnten Ende#3.10 Bei voller Fahrt im Wartesaal
Ach Gott, meine Magenschleimhäute haben letzte Woche leider auch den letzten Saft herausgepresst. So elendig wie bei einer Lebensmittelvergiftung geht’s einem selten.
„Ich werde nicht am Marienplatz aussteigen. Dort findet eine Homosexuellen-Veranstaltung statt.“ Hahahaha, oh Mann. Witzig? Schlimm? Wohl beides…
LOL, den Kommentar hätte ich eher München: 1981 zugeordnet. Maximal.
Ältere Damen sind eben auch im neuen Jahrtausend noch furchtsam gewesen. Bis auf meine Mutter.
Wobei man nicht unterschätzen darf, dass ältere Damen manchmal weitaus weltoffener und aufgeschlossener sein können als meine eigene Generation. Das Alter relativiert halt auch vieles.
Wer Margots Kreischen durchsteht, kann mir nicht weismachen, dass ihm Helens glockenhaftes Lachen unzumutbar sei. – Hahaha, diese Briefe sind eine reine Zitatensammlung. 😂 Klasse!
Hmmm Spanferkel mit Krautsalat, ich sollte dringend etwas essen 🙂
Ich konnte mit München ja nie wirklich viel anfangen (sorry Münchener), aber was Hausmannskost angeht, kann man ihnen wirklich nichts vormachen.
Der CSD kommt über „drollig anzuschauen“ meist wirklich nicht hinaus. Irgendwie wirkt das meistens nicht viel weniger langweilig und spießig wie die CSU.
Stimmt schon, eine politische Parade ist das in der Regel nicht mehr. Trotzdem finde ich die Veranstaltung nach wie vor wichtig, um auch dem letzten Hinterwäldler klar zu machen, dass LGBT-Angelegenheiten nicht nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert werden dürfen.
Sichtbarkeit ist immer wichtig. Gleichstellung ist ein langwieriges und arbeitsintensives Unterfangen. Auch 2018 noch.
Ich bin wie immer wenn von Irina , Helen und Margot in ein und demselben Text die Rede ist höchst erheitert: Trio inf. Es grüsst Brigitte Schmoller