Streiche auszuhecken liegt mir nicht fern, ihr Opfer bin ich weniger gern. Besonders gelungen fand ich meine Bemühungen, Irmgard Teeck in den Wahnsinn zu treiben. Das klappte sogar noch besser, wenn meine Eltern verreist waren. Wir wohnten mit Wiemans im Doppelhaus, und deren mit mir eng befreundete Töchter Monilies und Kathrin, die sehr stolz darauf waren, nicht Wiemann zu heißen, waren genauso stolz darauf, meine finsteren Pläne in die düstere Tat umzusetzen. Merkwürdigerweise befanden sich alle Sicherungen für das gesamte Haus in Wiemans Keller. Am Nachmittag hatte ich schaurige Musik auf dem Klavier gespielt und meine schlimmen Weisen auf dem neuen Tonbandgerät eingefangen. Am Abend trug ich das Tonbandgerät hinter den langen Wohnzimmer-Vorhang. Dann gingen Irmgard und ich „zu Bett“, wie sie es vornehm nannte.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Man konnte von Irmgard nicht behaupten, dass sie den Haushalt ‚führte‘, aber sie arbeitete in ihm, wenn – wie jetzt – meine Eltern verreist waren sogar fast unbeaufsichtigt, was allerdings auch für mich galt, und so tat ich Folgendes: Ich klopfte in meinem Kinderzimmer dreimal an die hintere Wand, die an Kathrins Kinderzimmer grenzte. Auf dieses Signal hin rannte Monilies in den Keller und stellte bei uns den Strom ab. Ich lief nach unten und machte das Tonbandgerät an, das mangels Strom stumm blieb. Dann preschte ich zurück ins Bett und klopfte dreimal. Monilies stellte den Strom wieder an, das Tonbandgerät merkte es und begann mit einem gedehnten Jaulton, meine finstere Klaviermusik zu spielen. Nach etwa drei Minuten kam Irmgard in mein Zimmer: „Hörst du das? Was ist das?“ – „Was?“, fragte ich schlaftrunken zurück. „Das Klavier!“ – „Welches Klavier?“ – „Da aus dem Wohnzimmer!“ – „Im Wohnzimmer steht kein Klavier.“ – „Aber da spielt jemand. Hörst du das nicht?“ – „Ich höre nichts, aber ich werde mal nachsehen“, sagte ich und lief langsam, anscheinend etwas benommen, die Treppe hinunter. Dann raste ich ins Wohnzimmer, stellte das Tonbandgerät ab, richtete den Vorhang und stand, als Irmgard, die mir zögernd gefolgt war, durch die Tür trat schon neben dem Sofa.
„Hier ist nichts“, sagte ich, halb erstaunt, halb beruhigend. „Jetzt ist es auch weg“, gab Irmgard zu. „Dann gehen wir wieder schlafen“, sagte ich erwachsen. Sie tat das auch, ich noch nicht ganz. Ich hatte ein dickes Wollknäuel beschwert, indem ich einen Schlüssel hineingeschoben hatte, den Faden hatte ich auf eine Länge von drei Metern abgerollt. Das reichte. Der Flur war zu schmal, um ‚Diele‘ zu heißen. In der Mitte lag das (leere) Schlafzimmer meiner Eltern, die Türen von Irmgards und meinem Raum lagen sich gegenüber. Mein Vater schämte sich immer ein bisschen und nannte die Othmarscher Villa ‚unser Arbeitersiedlungshäuschen‘. Erst als er von dort wegsollte, im Jahr 1999, war ihm das Klinker-Doppel so ans Herz gewachsen, dass er nur sehr ungern zu mir in das von Grund auf renovierte, komfortablere Kutscherhaus zog, in dem meine Mutter gern schon zehn Jahre früher gewohnt hätte.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Der geringe Abstand zwischen Irmgards und meiner Tür ermöglichte es mir, das Knäuel mit solcher Wucht gegen das Glas in Irmgards Tür zu schleudern, dass es klirrte und, als sie erschrocken zu mir kam, bereits schlummernd im Bett zu liegen. Ich richtete mich auf und fragte: „Was ist? – Ich hab’ nichts gehört.“ Das Spiel setzte ich noch zweimal fort, dann hatte ich genug. Übertreibungen machen leichtsinnig, da kann man sich leicht verraten.
Foto: Privatarchiv H. R.
Meine Mutter sagte später immer, ich sei schuld daran gewesen, dass Irmgard ‚in die Irrenanstalt‘ kam, aber das stimmte gar nicht. Wir erfuhren durch Zufall, dass sie auch auf ihrer vorigen Dienststelle auffällig gewesen war. „Aber du hast ihr den Rest gegeben“, beharrte meine Mutter, und da konnte ich schlecht widersprechen. Ich war ein ängstliches Kind gewesen, aber Gespensterbahnen liebte ich mehr als alles andere auf dem Jahrmarkt. Schrecken empfinden und Schrecken verbreiten, das habe ich in meiner DNA. Kein Wunder bei der Situation, in der meine Mutter sich während ihrer Schwangerschaft befunden hatte. Sie hat mir früh Misstrauen beigebracht, eine außerordentlich nützliche Eigenschaft.
Foto: Privatarchiv H. R.
Als wir also in Bamberg im Freibad waren und feststand, dass jemand ins Wasser geworfen werden sollte, kam ich recht schnell zu der Überzeugung, dass der bubenhafte Angriff bestimmt mir galt. Seit jeher habe ich alles auf mich bezogen, besonders, wenn es schlimm war. Eine Klasse tiefer hatten wir noch ins Schullandheim auf Föhr gemusst. Da gab es nachmittags um drei immer ein schreckliches Stück Kleisterkuchen und dazu aus ramponierten Plastikbechern ein warmes Gesöff. Es hatte sich eingebürgert, dass einem von uns – ich weiß gar nicht, wie – etwas in sein Kuchenstück praktiziert wurde; wenn er hineinbiss, bekam er, zum allgemeinen Gewieher, eine Fresse wie in Tinte gebadet. ‚Blauer Prinz‘ hieß das Opfer des Juxes, und man wurde es nicht gern vor fünfzig Schülern aus drei Klassen. Immer rechnete ich damit, dran zu sein; dabei war ich gar nicht wichtig genug. Doch an einem Nachmittag verstärkte sich mein Argwohn so sehr, dass ich in den Speisesaal schlich und mein Kuchenstück mit dem von Thomas Dirks vertauschte, weil ich den für besonders beliebt hielt, weil er bei mir besonders beliebt gewesen war – jedenfalls bevor er angefangen hatte, sich mehr für Mädchen als für mich zu interessieren.
Dann kam mir meine Gegenwehr doch zu leicht durchschaubar vor, und ich tauschte das Stück vom Thomasplatz nochmal, hin zu einem mir kaum Bekannten aus einer anderen Klasse. Natürlich wurde er der ‚blaue Prinz‘, sonst hätte die Geschichte ja keine Pointe. Beinahe hätte mein Misstrauen mir das beschert, wovor ich mich fürchtete, aber weil ich es mir zur Regel gemacht habe, immer auch um die übernächste Ecke zu denken, war ich dann doch verschont geblieben. Dieses Prinzip durchzieht mein Leben.
Foto: Privatarchiv H. R.
Im Schwimmbad hielt ich mich bei meinen Rundgängen gut entfernt vom Beckenrand. Dass ich Katholik war, grenzte mich nicht mehr aus; dass ich eine Flasche im Fußball war, kümmerte keinen mehr; ein guter Schüler zu sein galt in der Abschlussklasse nicht mehr als Manko; dafür stand das Abitur zu drohend bevor. Dass ich schwul war, blieb unerwähnt, besonders von mir. Aber ich hatte wohl so etwas Elitäres, das auch meinen Klassenlehrer ärgerte, wenn er glaubte, ich sei es, der ihm seine ‚Essenkolonnen‘ durcheinanderbrachte. Das war mehr die Erbschaft meiner standeserpichten Mutter als die meines leutseligen Vaters; prestigebewusst waren sie beide, und ich habe alles das verknüpft und gelebt. Es war damals der Beginn meiner engeren Freundschaft mit Harald, und ich habe ihm später von Zeit zu Zeit vorgeworfen, dass er mich nicht gewarnt hatte. Meine Anschuldigung blieb dann wie der Zigarettenqualm, den er ständig ausstieß, im Raum hängen: Harald stritt nichts ab, und er gab nichts zu, und ich weiß jetzt, vierzehn Jahre nach Haralds Tod, immer noch nicht, ob ich damals hatte ins Wasser geschubst werden sollen oder nicht.
Die arme Irmgard und ihr Schicksal in der Anstalt kann einem natürlich nur Leid tun. Der Streich als solcher ist aber schon ziemlich super 😉
Oh mann, wenn das Ergebnis nicht so tragisch wäre… das Lachen bleibt einem ein wenig im Halse stecken.
Der blaue Prinz ist allerdings auch nicht schlecht. Und was für ein hübscher Titel für einen Schülerwitz, hahaha!
Wirklich toll! Bei dem Titel sollte man die Tinte im Gesicht tatsächlich mit Stolz tragen. LOL
…und langsam wird also auch Bamberg spannender. So kann’s weitergehen. Köstliche Streiche, sowohl im Haus der Wiemanns als auch in der Schule.
Um alle nur möglichen Ecken zu denken ist eine Gabe, die ich bei vielen Menschen bewundere. Mein Gehirn macht leider nicht mit. Sonst hätte ich mir die ein oder andere blöde Situation ersparen können.
Streiche aushecken ist wunderbar. Geplanten Streichen zu entgehen gibt noch größere Glücksgefühle 🙂
Dieses war der erste Streich, und dem zweiten entgeh‘ ich sogleich, haha!
Alles Elitäre ist oft am provokantesten. Daran ändert sich auch lange nach Ende der Schulzeit nicht viel. Woher kommt das bloß? Reiner Neid?
Ein großes Unverständnis und viele Missverständnisse würde ich sagen. Und zwar wahrscheinlich gegenseitig.
Oder wie unser letzter Bundespräsident sagte: „Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem.“ Wahrscheinlich stimmt beides.
Da es den Regierungswilligen – trotz Brechts Vorschlag – wieder nicht gelungen ist, sich ein neues Volk zu wählen, müssen wir abwarten, ob das angereicherte SPD-Volk der AfD Neuwahlen, und somit 20% gönnt.
Ganz genau. Die Regierung hat sich mal wieder nicht das gewünschte Volk verschafft und das Volk hat sich mal wieder die müde Angela erwählt. Jedem das, was er verdient.
Nach dem ganzen SPD/Schulz Hin-und-her werden Neuwahlen ja tatsächlich wahrscheinlicher. Also entweder Seehofer als Heimatminister (welch Graus!) oder gleich die AfD als stärkste Kraft. Gute Nacht.
Und wenn wir nicht aufpassen und die SPD-Mitglieder tatsächlich gegen die GroKo stimmen, ist unser Parteiensystem möglicherweise tatsächlich schneller zerstört als uns lieb sein kann. Dann stehen AfD und Co. nicht mehr viel im Weg. Siehe Brexit, Trump, aber auch Macron etc.