Frühling in Florenz



Teil 1: Von Zuhause nach Zuhause

‚Frühling in Florenz‘! Ich liebe Etikettenschwindel, Alliterationen auch. Mein Bedürfnis, Inhalte unter die Menschheit zu bringen, darf sich von der Sensationsgier der Bevölkerung nicht entmutigen lassen, sondern muss sie sich zunutze machen. Am besten durch den zielgerichteten Aufmacher: ein Titel, den Doofe nett finden und Ein-Gebildete für ironisch halten. ‚Frühling in Florenz‘ zum Beispiel.

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#1.1 Die Lüge

‚Frühling in Florenz‘! Ich liebe Etikettenschwindel, Alliterationen auch. Die Kombination von beidem machte schon als ‚Milch‘ vor mehr als sechzig Jahren ‚müde Männer munter‘, und wer wie ich den ‚Fasching in Fulda‘ feierte, der ist sich weder für trutschige Titel noch für toskanische Themenbehauptungen zu schade oder gar zu schuldbewusst.

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#1.2 Der Nabel der Welt

Satt fuhren wir von Frohnau, wo ich wohl gezeugt wurde, in die Innenstadt West, dahin, wo für mich das Zentrum der Welt war, als Kind sowieso, und eigentlich bis 1995. Dann schob sich in meiner Wahrnehmung langsam Unter den Linden/Ecke Friedrichstraße vor Ku’damm/Ecke Joachimsthaler.

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#1.3 Delikatesse für die Fresse

Etwas abgewirtschaftet trat ich in die Lobby. Harry wartete schon, Chris war noch nicht da. In Ordnung. Chris Schmökel hatte bei ‚Deutsche Grammphon‘ als mein ehemaliger Vice-Presidents-Kollege und hochdotierter Justitiar dafür zu sorgen, dass, als die Schallplatten-Industrie in den Neunzigerjahren in Bedrängnis geriet, möglichst viele Mitarbeiter mit möglichst geringen Abfindungen entlassen wurden.

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#1.4 Kultur im Beutel, Schwank in der Oper

Der pharmazeutische Weichzeichner hatte meine Magenpforte wie gewohnt entkrampft, und trotzdem war ich nicht ohne Drangsal, als ich mich an der zuvorkommend auf- und zugleitenden, lasergesteuerten Eingangstür des ‚Palace Hotels‘ von Chris Schmökel bis auf unbestimmte Zeit und von Harry bis zum Abend verabschiedet hatte: Der zwischen mittlerem und kleinem befindliche Zeh, der Ringzeh gewissermaßen, tat weh – harmlos, aber heftig.

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#1.5 Pizzabäcker, Eckensteher

In der Pause zwischen den Akten sah ich plötzlich Herbert zwischen den Menschen. Er war allein, sein Mann war schon wieder auf einen Ärztekongress enteilt. Normalerweise laufen sie immer gemeinsam in all diese Opern zwischen Wien und Wyk auf Föhr.

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#1.6 Im Hinterhof neben der Abfalltonne

Montag, 26. März: In dem Tempo kann ich unmöglich weitererzählen. Berlin ist doch eine fixe Stadt, zumindest eine Fixerstadt. Frühstück kostet im ‚Sofitel‘ 30 Euro. Ist mir ja egal, aber Silke und Rafał verzichteten ebenfalls.

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#1.7 Die Drei von der Tankstelle

Dienstag, 27. März: vormittags Treffen mit Rosa von Praunheim. Nachmittags nochmal A&S. Abends mit Freunden ‚Sale e Tabacchi‘: So geht kurz!

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#1.8 Gemischte Gefühle, gemischter Salat

Nürnberg kannte ich nicht gut, aber ein bisschen. Statt Rundgang füge ich hier meine Eindrücke vom 20. Februar 1984 ein. Damals wollte ich die Pianistin Martha Argerich abholen, um mit ihr zu Aufnahmen nach London zu fliegen ...

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#1.9 Was man sehen kann und was nicht

Donnerstag, 29. März: Bevor wir die fränkische Metropole verließen, fuhr Rafał, so dicht es eben ging, an den Stadtkern heran und dann nach oben zur Burg, damit ich aussteigen und runtergucken konnte. Es regnete nicht und ich guckte. Dabei dachte ich daran, dass Nürnberg lt. Wikipedia am 31. Dezember 2016 genau 511 628 Einwohner hatte ...

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Teil 2: Zwischensaison

Erst wollte ich den ersten Teil dieses Reiseberichts ‚Von der Heimat in die Heimat‘ nennen, aber das wäre doch noch irreführender gewesen als der Obertitel ‚Frühling in Florenz‘. Zuhause bin ich in dem Hamburger wie in dem Meraner Gebäude, in dem meine Herde stehen. Aber Heimat? Das hat so etwas Generationenübergreifendes, und da tue ich mich schwer oder eher leicht. Da möchte ich gleich sagen: hab ich nicht!

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#2.1 Heimatgefühle

Nach Ostern und vor Mai gibt es ein touristisches Loch, was für Südtirol finanziell unbefriedigend, aber seelisch sehr erholsam ist. Das Wetter war gut oder schlecht, ich achtete nicht so sehr darauf, bis auf die Male, bei denen das Wetter so verdammt schön tat, dass mich Rafał und Carsten vor die Tür zwangen ...

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#2.2 Bei den weltoffenen Weltbürgern

Der ausgewanderte Jude wird gefragt: „Wo wären Sie denn jetzt am liebsten: im Berlin Ihrer Kindheit, im Exil in Paris, in Tel Aviv oder in New York?“, und er antwortet jüdisch-diplomatisch: „Überall ein bisschen ungern.“

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#2.3 Komfort im Waschraum

So ging die Zeit mit Essen – überwiegend von Rafał zubereitet – Lesen und Denken – selbstgemacht – dahin; von oben der Blick ins Tal, von unten der Blick in die Berge.

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#2.4 Weg!

Den nächsten (Sonn-)Tag hatte ich in der Reiseplanung mit ‚Langeweile auf dem Lande‘ überschrieben. Meine Ironien sind noch das Ernsthafteste an mir, und das Albernste. Wir saßen am Pool, sahen in ‚Toscana‘, und ich las, während Silke braun wurde und Rafał seiner üblichen Rastlosigkeit mal zu Wasser und mal zu Land nachgab.

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#2.5 Den Kopf unter dem Arm

Ja, nun kommt er, der Frühling in Florenz: Wir fuhren eine Dreiviertelstunde durch Landschaft; selbst die Akazien, immer die Letzten, wurden allmählich grün. Hin und wieder ein Obstbaum am Straßenrand neben Agaven, überwiegend Oliven, Pinien und Zypressen, aber auch Laubwälder und einzelne Häuser, ziegelgedeckt mit flachen Giebeln.

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#2.6 Exzessive Nähe

Wir stiegen ins Auto und fuhren weg. Die vielen Touristen, die beschränkten Möglichkeiten. Frühling in Florenz? Flucht aus Florenz. Nicht mal das pompöse Essen, das ich mir in Florenz vorgestellt hatte, hatte stattgefunden. Fluch auf Florenz.

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#2.7 Tata

So ging ich also gestern Abend neben meinem Mitbürger Giuseppe einher, auf dem engen Bürgersteig schlängelten wir uns an den wenigen Passanten vorbei, die nüchterne Front der schmuckarmen Palazzi zur Rechten, zur Linken die dunkle, kaum genutzte, schmale Fahrbahn, und daneben wieder ein enger Fußweg ...

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#2.8 Glück?

Das ‚Crisco‘ war geöffnet und es war wie immer – und es war herrlich: der erste Raum ziemlich laut und kommunikativ, der zweite, etwas intimere, mit nur einem, nicht – wie vorn – neun Bildschirmen. Alle zehn Bildschirme zeigen dasselbe, wobei aber die neun vorne sich zum Gemeinschaftsbild eines Großhodensacks formieren oder den Sack neunmal klein (macht 18 Eier) abwechslungsreich zeigen können ...

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#2.9 Von der Engelsburg springen

Der ausgiebige Mittagsschlaf steigerte meine gute Laune noch, und auf dem Schlendergang zum Ponte Vecchio bemerkte ich vergnügt, dass mein spezielles Interesse an Menschen noch zugenommen hatte: Heute Nacht wollte ich sie mir alle in die Seele stopfen ...

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#2.10 Die Befreiung

Am Mittwochmorgen reisten wir pünktlich ab, jedenfalls Silke, Rafał und ich. Da sind wir sehr zuverlässig. Sally und Carsten hatten ihr eigenes Auto und konnten sich deshalb Zeit lassen. Der 25. April ist in Italien Feiertag, was schön ist für die arbeitende Bevölkerung und misslich, wenn man es nicht gewusst hat und nun tanken will und Brot und Wein für sein Abendmahl braucht.

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Teil 3: Von Heim zu Heim

Ich bleibe dabei. So lasse ich es stehen. Den ersten Teil hatte ich noch zartfühlend ‚Von Zuhause nach Zuhause‘ betitelt. Dann habe ich im zweiten Teil seiten- bzw. displaylang über Heimat referiert, und nun das: Klingt wie das Schicksal eines … – da fällt mir wie immer meine Mutter ein. Sich der eigenen Identität bewusst zu werden und das, was man dabei entdeckt, zuzulassen, ist nicht einfach, nicht mal immer sinnvoll. Fremde Identitäten sind leichter hinzunehmen: Man kann sie ertragen, und wenn das nicht geht, bekämpfen.

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#3.1 Schulschläge

Ich bleibe dabei. So lasse ich es stehen. Den ersten Teil hatte ich noch zartfühlend ‚Von Zuhause nach Zuhause‘ betitelt. Dann habe ich im zweiten Teil seiten- bzw. displaylang über Heimat referiert, und nun das ...

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#3.2 Sprache statt Waffe

Am Sonntag, dem 29. April fuhren wir also ab, ‚von Heim zu Heim‘, aber nicht wie geplant. Wir hatten alle übersehen, dass ich ausnahmsweise in meiner Liste 10:30 Uhr vorgesehen hatte, fuhren also wie üblich um zehn ab und waren auch prompt statt um halb zwei schon um eins in Nußdorf am Inn.

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#3.3 Über die Verwendung von Gebühren-Verweigerern

Wir saßen zwischen Fahrbahn und Restaurant-Eingang, um uns her viele Menschen, die wenig anhatten. Sonntagnachmittag. Hab’ ich nie gemocht: Kinderwägen im Park und Buttercremetorte im Wohnzimmer.

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#3.4 Der Himmel hat die Erde geküsst

Am Montag war es grau. Nebel oder Schlimmeres? Schlimmeres. Auf unserem Weg nach Eichstätt fing es an, dermaßen gegen die Windschutzscheibe zu tropfen, dass wir uns dazu veranlasst sahen, einander trotzig darauf hinzuweisen, wie lieblich die Landschaft sei. Bei Eichstätt wurde der Himmel wieder ziemlich blau, und das war auch angebracht, denn Eichstett ist nicht irgendwas: Vor etwa 150 Millionen Jahren war hier der nördliche Rand des Jurameeres mit Korallenriffen und Lagunen.

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Hanno Rinke

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