Am Mittwochmorgen reisten wir pünktlich ab, jedenfalls Silke, Rafał und ich. Da sind wir sehr zuverlässig. Sally und Carsten hatten ihr eigenes Auto und konnten sich deshalb Zeit lassen. Der 25. April ist in Italien Feiertag, was schön ist für die arbeitende Bevölkerung und misslich, wenn man es nicht gewusst hat und nun tanken will und Brot und Wein für sein Abendmahl braucht. Grund zum Feiern: ‚Tag der Befreiung‘, 1945 – von den Deutschen, mit denen die Italiener bis kurz zuvor noch engstens befreundet gewesen waren. Immerhin haben die Italiener ihren Mussolini selbst umgebracht, in Deutschland musste Hitler das eigenhändig erledigen, sein Volk war zu dumm, zu feige oder zu verblendet dazu, und tapfere Einzelne hatten halt Pech.

Seither ist es mit der Demokratie in Italien allerdings nicht so großartig gelaufen: eine ständige Mischung aus Wechsel und Stillstand. Die gehorsamen Deutschen dagegen haben die von den Alliierten befohlene Demokratie schulbuchmäßiger verinnerlicht. Und das mit der Befreiung hat auch nicht so richtig geklappt. Ab Anfang der Fünfzigerjahre eroberten die Deutschen Rimini und Umgebung. Ich war dabei, 1954, noch bevor die italienischen Gastarbeiter freiwillig nach Deutschland kamen und mit Espresso, Pizza und Pasta die einheimische Bevölkerung zögerlich eroberten, die ganze Welt sowieso.

Foto: Privatarchiv H. R.

Solche Gedanken reichen bloß für den Beifahrersitz. Der Wagenlenker muss auf den Tankanzeiger starren und ab und zu auf den Verkehr. Unmittelbar vor der Autostrada war dann aber doch eine Tankstelle geöffnet. Dachten wir. Na, zumindest konnte man über einen Automaten eine bestimmte Benzinmenge kaufen, so dass die Einkehr durchaus sinnvoll gewesen war, zumal Rafał dort endlich etwas für die Lunge bekam: Keine einzige Packung Zigaretten mehr zu haben, das ist für Bedürftige nicht weniger unangenehm als ein leerer Tank auf der Autobahn. Oder die vertrunkene Zeit für den Säufer.

Dann wie immer. Rafał fuhr, Silke meckerte und ich spürte in meinen Damm: Muss ich pinkeln, kacken, beides oder weder noch? Anders ausgedrückt: Rafał fuhr viel zu schnell, Silke mahnte vor Geldstrafe und Fahrverbot, und ich sah abwechselnd in mein hypochondrisches Inneres und in die aufbruchselige Natur da draußen. Der Ausdruck ‚blühende Landschaften‘ erinnert mich ja immer an Helmut Kohl, aber hier blühten sie wirklich, also Friede seinem Grab und seiner emsigen Witwe.

Zum Abschied wieder ein paar Filmausschnitte, die augenfällig die Veränderungen der Schauplätze und meiner Befindlichkeit beleuchten.

Zunächst 1981:

1982 mit Harald, unsere letzte Zweier-Reise:

Mit meiner Mutter auf dem Lande:

Mit Giuseppe in Florenz:

Und abschließend aus meinem letzten Film von 1989: noch einmal mit Giuseppe unterwegs in der Toskana.

Gegen halb zwei waren wir, wie vorausberechnet, am Kalterer See. Rafał maulte ein wenig, weil ihm der Gardasee lieber gewesen wäre, aber der ist in meiner Planung erst im September, anschließend an Stockholm, Paris und Mailand, dran. Nicht, dass ich eine vorgefasste Meinung hätte: Argumente überzeugen mich immer, vorwiegend meine eigenen, und so waren wir eben am Kalterer See.

Das Lokal, das ich ergoogelt hatte, lag schrecklich: gleich am Kreisverkehr, Blick auf abgestellte Fahrräder. Spontan schlug ich vor, statt etwas Neues auszuprobieren, lieber das Althergebrachte zu versuchen: Merkel statt Macron.

Der Versuch ging schief. Einen Kilometer vor dem ‚Castel Herrnhof‘, das so gar nicht aussah, wie es hieß, war mir am Wegesrand der ‚Ritterhof‘ aufgefallen, in dem ich mit meinen Eltern in den zeitnahen 90er-Jahren oft und gern gewesen war. Die Betreiber waren verstorben, verzogen oder sonst was Trauriges, jedenfalls mussten sich Silke und ich an neue Eigentümer gewöhnen. Das war nach längerer Pause, der auch meine beiden Eltern – Papa 2002, Mama 2012 – zum Opfer gefallen waren, eigentlich schön gewesen, anno 2009, bei gutem Wetter, wenigen Gästen und sehr italienischen Neuwirten. Dennoch verschlug es uns nie wieder dorthin, zumal Silke keine Tradition mit dieser gehobenen Gastwirtschaft verband.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Hasso und Karen, meines Vaters Bruder und dessen dritte Frau, hatten Irene dort missfallen, aber diese Abneigung ist nicht ortsgebunden. Dorothee, damals auch schon Ende siebzig, war zur Begrüßung der – tatsächlich eleganten – Dame des Hauses unnötigerweise aufgestanden und hatte bei ihrer vermeintlichen Rückkehr auf die Sitzgelegenheit den Stuhl verfehlt und sich auf die Auslegeware, einen Meter tiefer, gesetzt. So bedauerlich ich das fand, vor allem achtete ich auf meine Mutter, die Komik gegenüber sehr aufgeschlossen war, und ein allzu brüllendes Lachen wäre von Dorothee, die mal meine Kollegin war, sicher als unfreundlich empfunden worden. Dabei – unbegründete Sorge: Irene brüllte nie und kicherte nicht: Sie lachte lauthals oder verstohlen. Wir haben so viel gelacht zusammen, meine Mutter, mein Vater und ich. Dieses Einverständnis, diese selbe Art von Humor – wie sehr ich das vermisse: Roland, Guntram, Irene, Pali, Harald. Na ja, ich freute mich, nun im Jahr 2018, den neuen – oder noch neueren – Besitzern durch unsere Anwesenheit eine Freude machen zu können. Leider schien auf der schmalen Terrasse zum See kein Tisch frei zu sein, dafür war es drinnen umso leerer. Doch eine junge Frau, die das wissen musste, weil sie ein Tablett trug, sagte: „Das tut mir leid. Es ist alles reserviert.“ Diesen Spruch – ohne das Leidtun – kenne ich von DDR-Lokalen, die dann gegen D-Mark doch gänzlich unbevölkert waren. Aber vielleicht wurden da wirklich viele Südtiroler Antifaschisten erwartet, die auf einheimische Art die Befreiung vom Deutschtum feiern wollten, jedenfalls klomm ich die steile Restaurant-Treppe, so gut es ging, wieder hinunter und fiel Rafał direkt ins Wort. Er telefonierte gerade mit Carsten, um ihm und Sally zu sagen, wir seien nicht im ‚Castel‘, sondern im ‚Ritterhof‘. „Nein“, sagte ich.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

„Dann versuchen wir es halt doch da an der Straße“,  schlug ich vor. Meine beiden Begleiter waren nicht begeistert, aber vorschlagslos. Also fuhren wir zurück zum ‚Herrnhof‘, und der Wirt begrüßte uns gleich mit der Mitteilung: „Tut mir leid. I kann kane Gäscht mehr aanehmn!“ Weil auf Silke immer Verlass ist, entgegnete ich empört: „Aber wir haben doch reserviert!“

Fotos (3): R. S./Privatarchiv H. R.

Nun wurde alles anders. Wir wurden aus dem halbvollen Vorbau in die Zirbelstube geführt, sehr dekorativ, alles Holz, keine Gäste. Im Eintreten informierte der Wirt Silke: „Mein Kellner ist mir ausgefallen, liegt mit Beinbruch im Krankenhaus, ich bin ganz allein. Sie kennen das ja.“

Fotos (3): M. D./Privatarchiv H. R.

Am Tisch wiederholte Silke den Satz noch ein paarmal verwundert. Sie kannte es nicht, dass ihr das Personal mit Beinbruch ins Hospital entfleuchte. Na ja, das ‚Ich-bin-ganz-allein‘ kannte sie schon eher.

Fotos (3): M. D./Privatarchiv H. R.

Das Essen war ausgezeichnet, wie es das Internet ja schon vorausgesagt hatte. Der Weg nach Meran war staulos, und an den restlichen Tagen in Meran hatten wir gutes Wetter, das hatte das Internet auch vorausgesagt. Ruhe und Ordnung. Eintracht und Zufriedenheit. Das lohnt es nicht zu beschreiben. Also lass ich’s.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

15 Kommentare zu “#2.10 Die Befreiung

    1. Irgendwer muss ja mal neue Ideen ausprobieren wenn die EU auch in Zukunft eine Chance haben soll. Merkel ist’s bestimmt nicht.

    2. Hoffentlich schafft das jemand bevor die neue Idee dank AfD, Lega Nord, FN etc. wieder zur alten wird.

    3. Schon absurd, dass die demokratischen Parteien hier in Europa, wie auch in den USA, keinerlei Konzept für die Zukunft zu haben scheinen. Die rechten bzw. konservativen Politiker haben definitiv kein gutes Modell, aber wenigstens haben sie eines.

  1. Reserviert ist irgendwie immer alles. So steht‘s jedenfalls in der Regel auf den Tischkärtchen. Wenn man kurz aber mit dem nötigen Ernst mit dem Geldbeutel winkt, ist dann meistens doch ein Tisch frei. Bescheuerte Methode.

    1. In Restaurants, die ihre Tische blockieren um selbst entscheiden zu können, welche Gäste sie bedienen und welche nicht.

  2. Dass das Internet alles voraussagen kann ist ungeheuer praktisch, aber am Ende doch auch ungeheuer langweilig. Überraschungen, Fehltritte und Glücksgriffe müssen schon auch sein.

    1. ALLES sagt das Internet ja nicht voraus, zumindest nicht richtig. Ein Fehltritt ohne Inernet ist natürlich ärgerlicher, weil man dann die Schuld nicht abwälzen kann auf eine Institution, der das sowieso völlig egal ist.

    2. Ich persönlich finde ja Reinfälle die DURCH das internet entstehen viel ärgerlicher. Wenn ich zum Beispiel wider mein erstes Bauchgefühl der Foursquare-Empfehlung vertraue und feststelle, dass ich in eine Touristenfalle gelaufen bin…

    1. Hahaha, stimmt wohl. Ein fehlender Koch wäre auch fatal. Wobei ich schon in Restaurants gegessen habe, wo letzteres anscheinend der Fall war 😉

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