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Frühling in Florenz  —   Teil 1: Von Zuhause nach Zuhause

#1.3 Delikatesse für die Fresse

Etwas abgewirtschaftet trat ich in die Lobby. Harry wartete schon, Chris war noch nicht da. In Ordnung. Chris Schmökel hatte bei ‚Deutsche Grammphon‘ als mein ehemaliger Vice-Presidents-Kollege und hochdotierter Justitiar dafür zu sorgen, dass, als die Schallplatten-Industrie in den Neunzigerjahren in Bedrängnis geriet, möglichst viele Mitarbeiter mit möglichst geringen Abfindungen entlassen wurden. Dann machte er sich in Berlin selbstständig und vertrat vom nächsten Tag an die Interessen der noch verbliebenen Mitarbeiter, die ihn damit beauftragten, ihren möglichst raschen Ruhestand mit möglichst hohen Abfindungen zu betreiben. In beiden Lagern erwarb er sich einen so guten Ruf, dass ihm Harry Kraut inzwischen die Wahrung der Bernstein-Interessen für das Territorium Deutschland anvertraut hat.

Ich fand Harry etwas rundlicher als im September in Venedig. Die letzten Jahre über war er wegen seiner Zucker- und Leberwerte mit Essen und Alkohol sehr zurückhaltend gewesen. Anfang dieses Jahres hatte er sich wohl ein Konzept für den Rest seines bisher 71-jährigen Lebens erarbeitet, und das sah so aus: Erst schmiss er seinen stets besoffenen Freund nach dreißig gemeinsamen Jahren aus der Villa und dann trank und aß er, was ihm schmeckte, und das war, wie ich aus Venedig und Erfahrung wusste, eine ganze Menge. Aus dem stillen Wasser wurde wieder der laute Martini-Cocktail (farblich schwer vom ‚Evian‘ zu unterscheiden, aber mit der verräterischen Olive im Glas), und aus dem gedünsteten Gemüse wurde, was schmeckt, egal wie teuer und/oder schädlich es für ramponierte Organe war.

Wir fuhren per Fahrstuhl in den ersten Stock: Spiegel, Mahagoni, Messing. Alles hatte so etwas Weihevolles, besonders Harrys Bauch. Das Restaurant war an Gediegenheit nicht zu übertreffen. Wer auf diesem tiefblauen Velours einschlief, würde keine Matratze vermissen. Die Tische waren alle rund und halb eingerahmt von Bögen gepolsterter Bänke, gegenüber stand ein Stuhl mit Armlehnen. Harry setzte sich, wie es ihm zustand, auf den prunkvollen Stuhl, der just eintreffende Chris Schmökel und ich wurden im 45°-Winkel zueinander auf die Bank gesetzt. Es war ein bisschen so, als ob unser Onkel mit uns Karussell fährt, und wir tranken auch artig unseren Aperitif (Chris Schmökel bestellte ‚Cynar‘, was ich unangemessen sommerlich fand) und ließen Harry in der Weinkarte stöbern.

Chris Schmökel sagte, dass das ‚First Floor‘ von der ‚Welt‘ zum besten Restaurant Berlins gekürt worden sei.

Es war wirklich ausgezeichnet. Angesichts der Preise war ich Harry aufrichtig dankbar, dass es seine Einladung war, und ich ließ mich auch nicht davon einschüchtern, dass schon die Vorspeise, die ich hier einnahm, so viel kostete wie die Hose, die ich bei ‚C&A‘ nicht gekauft hatte.

Als Amuse Gueule wurde vor jedem von uns ein zierliches Tablett mit drei Näpfchen aufgestellt. „Ein kleiner Gruß aus der Küche“, sind die Praktikantinnen, die das immer servieren müssen, angehalten, geziert zu stammeln, weil man entweder den Mädels nicht zutraut, dass sie ‚amuse gueule‘ richtig aussprechen können, oder den Gästen nicht, dass sie wissen, was es bedeutet. Ich habe gerade eben zur Untermauerung meiner Vermutung, wie das eigentlich geschrieben wird, in meinem Französisch-Diktionär nachgeblättert: erst unter ‚ge‘ – aber dann dürfte es ja nicht amüsegöhl heißen, sondern müsste amüsschöhl ausgesprochen werden, und dann richtig unter ‚gue‘.

Für ‚amuser‘ steht als Übersetzung: ‚belustigen, hinhalten, die Zeit vertreiben‘. Für ‚gueule‘ bietet Langenscheidt: ‚Maul‘, ‚Schnauze‘, ‚Fresse‘ und ‚Öffnung‘ an. Also, eh dass ich mich von der jungen Dame mit Schürzchen vor dem Schoß auffordern lasse: „Halt die Fresse hin!“, empfange ich doch lieber einen kleinen Gruß aus der Küche.

Immer wenn die Speisenträgerin etwas losgeworden war, stellte sie sich vor den Tisch wie eine Schülerin der ersten Klasse, die ein Gedicht aufsagen muss, und verkündete sehr laut und ohne Luft zu holen: Medaillon von der Barberie-Ente an wacholderisiertem Perlzwiebel-Karotten-Ragout und Prinzessinnen-Croquetten auf einer Portwein-Ingwer-Zabaione. Man weiß ja selber, was man da ausgesucht hat, aber trotzdem schämt man sich bei der direkten verbalen Konfrontation mit der Bestellung doch ein wenig, solch einen Quatsch angefordert zu haben und wünscht sich, die Auszubildende hätte einen nicht vor allen Anwesenden bloßgestellt, sondern einem den Teller etwas diskreter auf das Klapperdeckchen placiert, das, wie Chris Schmökel anerkennend bemerkte, nicht aus Papier, sondern ‚wirklich‘ gehäkelt war. So viel Taktgefühl muss sein. Schließlich dreht sich der Dirigent ja auch nicht nach dem ersten Satz zum Publikum um und sagt laut zu denen, die im Grunde gar nicht wissen, wieso sie hier für ‚Bruckners Achte‘ bezahlt haben: „Jetzt kommt das Allegro moderato mit der zusätzlichen Bezeichnung ‚Der deutsche Michel träumt ins Land hinaus‘.“ Um solche Auskünfte zu vermeiden, wurden Speisekarten und Programmhefte extra erfunden.

Nur beim Küchengruß fand ich, dass sie im Recht war, weil ja kein Mensch wissen konnte, was er da zu essen bekam.

‚Aufgeschlagenes Kastaniencreme-Süppchen‘ – das war in Schale Numero eins.

‚Mango-Hummer-Salat mit Koriander‘ gab es in der Mitte, und im letzten Schüsselchen freute sich eine Komposition ‚aus der Aubergine‘ und einer Lammkeule auf meine Fresse.

„Mango mit Hummer essen wir in Florida auch immer“, sagte Harry auf Englisch.

„Haben Sie schon mal eine Kastanie gegessen?“, erkundigte ich mich bei der Praktikantin.

„Nein“, sagte sie entsetzt.

Ich lächelte nachsichtig. „Das hier sind Esskastanien: ‚Maronen‘, und da, wo ich in Italien wohne, gibt es sehr viele davon“, erklärte ich. Bereichert ging die Erstklässlerin zurück in ihre Küche.

Mit dem Hauptgang kam der alte Burgunder, und nach zwei Schluck davon stellte ich fest, dass mir blümerant wurde. Hysterie ist dazu da, in Schach gehalten zu werden, aber die Welle schwappte höher, und an meinem Hals ertastete ich rasenden Pulsschlag. Ich erwähnte meine kaum gebändigte Erkältung und verließ den Tisch unter dem Vorwand, mir die Nase schnauben zu wollen. In Wirklichkeit tropfte ich mir als Amuse Coeur acht Tropfen Diazepam in die Öffnung, das entspricht wohl zwei Valium-Tabletten. Genau in diesem Augenblick betrat natürlich jemand den Waschraum. Was denkt sich einer, der sieht, wie jemand anderes zwischen Porzellan-Becken und Handtuch-Stapeln den Hals reckt, um sich etwas in den Mund tropfen zu lassen? Wenn es die Nase wäre, könnte man Schnupfen oder Flüssigkokain unterstellen, bei den Ohren Hörsturz oder Tubenkatarrh. Bei den Augen würde man auf Bindehaut-Entzündung oder Kontaktlinsen tippen. Der Herr ging schweigend seinem Geschäft entgegen und ich zurück an den Esstisch.

Kurz darauf konnte ich das Rebhuhn-Kotelett (Brust plus Schenkel) und das anregende Gespräch wieder genießen, aber ich ließ mir sicherheitshalber ein Glas Weißwein bringen.

Foto: Elena Rudakova/Shutterstock

11 Kommentare zu “#1.3 Delikatesse für die Fresse

  1. Die Geschichte vom Justitiar ist doch ein ideales Beispiel dafür, dass es gar keine definitiven Wahrheiten in dieser Welt gibt. Sondern nur unterschiedliche Ansichten und Standpunkte. Interessant.

  2. Hahaha, beim ein oder anderen (vor allem geschäftlichen) Abendessen möchte ich mir auch am liebsten eine Valium einwerfen. Bisher hab ich mich nicht getraut 😉

    1. Bei den meisten meiner Geschäftstreffen brauche ich gar keine Valium. Ich hoffe allerdings keiner meiner Geschäftspartner liest diesen Blog, hahaha!

    2. Oh mann, manchmal hat man auch eher den Eindruck der ein oder andere Geschäftspartner hat sich LSD eingeschmissen 😉

  3. „Man weiß ja selber, was man da ausgesucht hat, aber trotzdem schämt man sich bei der direkten verbalen Konfrontation mit der Bestellung doch ein wenig, solch einen Quatsch angefordert zu haben“ LOL, genau so ist es!!! Treffender geht’s nicht Herr Rinke, vielen Dank!

    1. Lecker ist’s ja meistens trotzdem, aber wenn sich die Restaurants etwas weniger ernst nehmen würden, würde es bestimmt auch nicht schaden.

    2. Gibt es da nicht eh auch solche und solche!? Ich hab schon in unmöglich wichtigtuerischen lokalen Restaurants gegessen und genauso in völlig entspannten „Sterneküchen“.

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