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Frühling in Florenz  —   Teil 3: Von Heim zu Heim

#3.4 Der Himmel hat die Erde geküsst

Am Montag war es grau. Nebel oder Schlimmeres? Schlimmeres. Auf unserem Weg nach Eichstätt fing es an, dermaßen gegen die Windschutzscheibe zu tropfen, dass wir uns dazu veranlasst sahen, einander trotzig darauf hinzuweisen, wie lieblich die Landschaft sei. Bei Eichstätt wurde der Himmel wieder ziemlich blau, und das war auch angebracht, denn Eichstätt ist nicht irgendwas: Vor etwa 150 Millionen Jahren war hier der nördliche Rand des Jurameeres mit Korallenriffen und Lagunen. Haben etwa Berlin oder Florenz so etwas zu bieten? Um 880 wurden die Gebeine der heiligen Walburga nach Eichstätt überführt; an ihrem Grab wurde 1035 ein Benediktinerinnenkloster gegründet, das bis heute Wallfahrtsziel ist. Na, Florenz und Berlin, noch Fragen? Na ja: Schon eher, aber besonders im frühen siebzehnten Jahrhundert, sind in Eichstätt an die hundertsiebzig Menschen hingerichtet worden. Begründung: Hexerei. So ging das weiter bis 1723. Da war man wohl, mit Abstrichen, doch besser in Florenz oder Berlin aufgehoben. – Also jetzt war Eichstätt jedenfalls wunderhübsch. Und: Neben der ‚Katholischen Universität‘ gibt es gar das musische Gabrieli-Gymnasium. Ich hielt den Mund, denn sonst hätte ich sagen müssen, dass ein Aufenthalt hier wohl noch stimmungsvoller gewesen wäre als unser Kleinbürger-Sonntag in Beilngries, und ich wollte doch nicht meine eigene Planung desavouieren. Was bringt das? Wenn alle Generäle nach Stalingrad gesagt hätten: „Der kann’s nicht!“, dann hätte Hitler einpacken müssen und die Engländer hätten niemals die Gelegenheit bekommen, Dresden zu bombardieren.

So fuhren wir – alle stillschweigend – ab, nach Norden, in immer besseres Wetter. Für Silke und mich war es nicht so wichtig, aber Rafał hätte gestern Abend im Netz gefunden: ‚Du bist auf der Suche nach schwulen Männern, Bi-Männern und LGBT-Kontakten in Eichstätt, Bayern? Dann bist du hier genau richtig!‘ Kleiner Trost: Für Pinneberg ist genau dieselbe Anzeige geschaltet. Ja, über das, was man nicht mehr haben kann, macht man sich am besten lustig. So vieles, das ich nicht mehr will; und doch wünsche ich mir, ich würde noch wollen.

Rafał sitzt wach am Steuer, Silke aufmerksam neben ihrem Kosmetikkoffer und ich träume – Eichstätt, Eichendorff …

„Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst’.“

Den Unreim habe ich Eichendorff immer übelgenommen. Es muss doch als Antwort auf ‚den Himmel‘ heißen: ‚dass sie im Blütenschimmel‘, und da ergibt sich wieder die Frage, ob es sich dabei um ein weißes Pferd oder einen filamentösen Pilz handelt.

Fulda. Durch die nicht vorhergeplante An-Besichtigung von Eichstätt sind wir etwas verspätet. Kassel absagen? Ich bin strikt dagegen. Sicher, absagen kann man alles – Versäumtes nachholen nicht. Weiter. Weit ist es ja nicht mehr. Alles blüht.

Wie oft noch werde ich den Frühling erleben? Eine Ermahnung zur Ermannung, für Silke zur Erfrauung? Wir verlassen die Autobahn. Rafał kennt sich aus, sagt er. Da werde ich immer unruhig. Aber: Meistens stimmt es ja. Carsten hat mit seinem Bruder zusammen das Haus seiner Eltern in Kassel geerbt. Deshalb ist Carsten dort mindestens so zu Hause wie ich in Meran, und Rafał passt sich an.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ich hatte, weil mir alles andere zu kuchenselig erschien, den ‚Gutshof‘ ausersehen, uns zu bewirten, und das tat er auch, obwohl wir ziemlich knapp vor Dienstschluss eintrafen. Nach der Suppe war ich eigentlich satt, aber Sally war ja da. Gegen das Lokal war nichts einzuwenden, es war auf etwas altväterliche Art gediegen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Abschied lag in der Luft, aber das durfte nicht sein oder musste zumindest hinausgezögert werden. So fuhren wir ein Stück weiter, und dann gab es im ersten Stock doch Kuchen. Ich suchte mir ein Mandelhörnchen aus, das hielt ich für besonders leicht; dieses nicht. Es schmeckte ausgezeichnet, machte somit ‚der besten Konditorei von Kassel‘ viel Ehre, und hinterher war mir schlecht.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Auf dem instruktiven Gang durch den lenzenden Park von Wilhelmshöhe ließ ich mir von Carsten und Rafał alles Wissenswerte erklären, war gerührt über ihren Eifer und dachte: „Macht ja nichts, wenn ich kotze. Besser in die Wiese als in die Tischdecke.“

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Wir fuhren, ohne dass es wirklich zu Unappetitlichkeiten gekommen wäre, nach und durch Niedersachsen, und keiner von uns freute sich richtig auf Hamburg, obwohl der Himmel blau war und der Baumbestand grün.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Der nächste Tag zeigte uns dann, wie Wetter auszusehen hat, auf das man sich nicht freuen muss. Tiefgrau, kalt, verregnet. Erster Mai. Für was engagiere ich mich noch? Für nichts! Stimmt nicht. Ich will erfahren, ich will erleben, ich will mitreden. Ich will lernen, ich will lehren, und meine Stiftung ist auch eine gute Sache. Ich will Vereinfachungen vermeiden und alles auf einen gemeinsamen Punkt bringen. Ich will ganz fest zupacken und unbeschwert loslassen. Ich will, ich will …

Fotos (3): R. S./Privatarchiv

Morgens um viertel nach neun, am 2. Mai, kommt Rafał wieder wie gewohnt in mein wieder angewohntes Schlafzimmer und misst meinen Blutdruck. Es ist mehr ein Ritual, als dass mich das Ergebnis interessiert. Vorgestern Abend war Rafał, um seine unbeschadete Rückkehr zu feiern, mit Freund Ingo unterwegs, und da kam gleich im ersten Schuppen ein Pole daher und fragte deutsch: „Wollen wir Sex haben?“ Rafał, der noch nicht wusste, dass der Pole ein Pole war, fand: ja! Sprachlos. Sie fuhren nach Osdorf, und Ingo war beleidigt.

Foto: Bildagentur Zoonar GmbH/Shutterstock

Während Rafał begann, mich mit Bodylotion auf das Aufstehen vorzubereiten, dachte ich: „Der ist sexsüchtig.“ – Den im zweiten Teil dieses Reiseberichts zitierten Brief an Pali aus Florenz schrieb ich 1993, da war ich sieben Jahre älter, als Rafał jetzt ist.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Als Dorothee schon über sechzig war, beklagte sie sich auf der Treppe zu ihrer Wohnung bei Pali über eine ihrer Mitarbeiterinnen: „Sie hat jede Woche einen neuen Freund.“

„Aber Schätzchen,“, gab Pali, ein wenig schwul, zu bedenken, „ich weiß doch noch, wie du in dem Alter warst!“ – Dorothee blieb auf der Stufe stehen, blickte sinnend in die Ferne und sagte einsichtig: „Ja, du hast recht. Im Alter werden auch die Huren fromm.“

Ach je, womöglich werde ich selbst im hohen Alter nicht weise – aber fromm werde ich ganz bestimmt nie wieder.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

16 Kommentare zu “#3.4 Der Himmel hat die Erde geküsst

  1. …und hinterher war mir schlecht. So geht’s mir bei den meisten Restaurantbesuchen. Entweder ist das Essen schlecht und die Reaktion vorprogrammiert oder es ist gut und man hört erst auf nachdem man schon lange hätte aufhören sollen.

  2. Wie kommt es nur, dass man sich immer nach der Jugend sehnt? Und zwar nach der eigenen, genau wie nach anderen jugendlichen Körpern. Jugend = Leben? Ist es so einfach?

    1. Ich glaube es ist so einfach. Es gibt doch nicht lebendigeres als Jugend, als jugendliche Körper, als jugendliche Energie…

    1. Über die Weisheit kann man sich streiten, aber wie gut, dass HR nicht fromm wird 😉 So macht der Blog definitiv mehr Spaß!

    1. Die Hauptsache ist, daß man ein großes Wollen habe und Geschick und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen; alles übrige ist gleichgültig. 😉

    2. Genau, und je kleiner die Portion Glück dabei ist, desto mehr spielt die Beharrlichkeit eine entscheidende Rolle!

    1. Selten so wahre Worte gelesen. Der Mensch ist was er sein will. Können und Wollen sind dabei untrennbar miteinander verbunden. „Glücklich sein“ ist aber wahrscheinlich die Königskategorie 😉

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