Den nächsten (Sonn-)Tag hatte ich in der Reiseplanung mit ‚Langeweile auf dem Lande‘ überschrieben. Meine Ironien sind noch das Ernsthafteste an mir, und das Albernste. Wir saßen am Pool, sahen in ‚Toscana‘, und ich las, während Silke braun wurde und Rafał seiner üblichen Rastlosigkeit mal zu Wasser und mal zu Land nachgab. Carstens Notebook versagte seinen Dienst, was es Carsten erlaubte, die meiste Zeit über mit deutschen Fachleuten zu telefonieren und erst gegen Abend zu uns zu stoßen, nachdem der Schaden – vorerst – behoben war.

Fotos (12): Privatarchiv H. R.

Zum Abendessen fuhren wir zu ‚Gli Artisti‘ in Borgo San Lorenzo. Das jedenfalls war mein Plan gewesen, der an einem Volksfest zu scheitern drohte. Warum buche ich immer in gesperrten Straßen, und wenn das nicht auf normalem Wege geht, dann kommen mir Aufmärsche und Imbissbuden in die Quere? Gar nicht planen, einfach erleben! Geht das? Nee. Man landet in stinkigen Abkochen oder überbrezelten Grandhotels. Als ich noch jung war, konnte man so etwas machen. Entweder ich bin alt geworden oder die Zeiten haben sich geändert.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Wir parkten schließlich nach mehreren Umrundungen des Ortes so, dass selbst ich nach einem zumutbaren Fußmarsch, vorbei an abbauenden Leder- und Schinkenverkäufern und durch eine Menge animierter Sonntags-Beender, unser Ziel erreichen konnte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Das Lokal war sehr gut, und der Koch schenkte uns eine Flasche guten Chianti. Seine Künste hatte ich ihm vorher ohne Hintergedanken gelobt. Ich lobe gern, besonders in Sprachen, die ich beherrsche. Es gibt so vieles, das ich nicht beherrsche, und ich bin zu alt und zu klapprig, daran etwas zu ändern. Syrische Flüchtlinge. Diese armen Menschen. Dass sie dauernd Kinder kriegen und dieser blöden Religion hinterherlaufen – ich glaube nicht, dass die Menschheit zu retten ist, aber einigen Wenigen geht es wenigstens gut. Gut, dass ich zu denen gehöre. Bedauern macht mehr Spaß als Leiden. Und doch gibt es unter denen, die ‚alles‘ genießen könnten, mehr Selbstmorde als unter den Habenichtsen. ‚Wollen‘ ist seliger denn ‚Haben‘. Nicht das Trinken ist der größte Genuss, sondern das volle Glas auf dem Tisch. Ich kann … mich beherrschen, mich hingeben, mich bereichern, mich opfern. Also, die Chiantiflasche ist jedenfalls noch geschlossen.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Am Montag war Fiesole dran. Wir fuhren durch berührte Landschaft, aber nicht durch verschandelte. Ein schöner Weg, er wäre das Ziel, wenn man keins hätte. Aber wie hält man das aus? Ohne Ziel stehe ich morgens nicht auf. Wer steht auf und sagt unter dem Kaltwasserstrahl: ‚Es gibt so viel Schönes zu entdecken. Ich lasse mich überraschen, und Gott oder der Staat sorgen für mein Essen, mein Schlafen, mein Daslebenertragen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Zunächst wollte ich zum Convento di San Francesco. Wie üblich war der steile Weg nur Fußgängern gestattet, und Parkplätze gab es auch nicht. Rafał ließ sich von mir überreden, schlankweg zwischen den aufwärtsstrebenden frommen Touristen hindurchzufahren. Silke und Carsten liefen. Dann stand da ein Lieferwagen und versperrte den schmalen Weg. Rafal lenkte ein wenig rückwärts auf eine Stelle, die er als Abstellplatz nutzen wollte. Beim Zurücksetzen wurde es knifflig. Ich griff mir Portemonnaie und Smartphone, stieg aus und gab Rafał Anweisungen. Ich sagte „Stop“, Rafał fuhr, ich schrie noch mal „Stop!!“, Rafał hielt immer noch nicht. Und dann knallte es. „Ich habe doch ‚Stop!‘ gesagt!“ – „Ich dachte, ein bisschen ginge noch …“ Aber Felsen kennen keine Gnade, sie weichen nicht aus. Das bekam das linke Rücklicht zu spüren. Rafał besah sich den Schaden und fand ihn nicht so schlimm. Ich fand, es täte der Stimmung gut, ihm zu glauben. Carsten und Silke hatten das Krachen auch gehört, sie kamen und Carsten beschwichtigte ebenfalls. Der Lieferwagen stand immer noch im Weg, wir schlängelten uns wie alle anderen an ihm vorbei und erklommen den Aussichtspunkt vor dem Kloster, von dem aus man auf Florenz unten im Tal herabsehen kann. Das haben schon die reichen Florentiner in ihren Villen getan, nachdem ihre folgsamen Soldaten Fiesole 1125 eingenommen hatten. Das antike Faesulae war eine Gründung der Etrusker, und 217 vor Christus lagerte Hannibal dort. Leonardo da Vinci hat auf den Hügeln Fiesoles zum ersten Mal mit frühen Flugmodellen experimentiert. Und nun ich. Vorher schon mit meinem Freund Harald und mit meiner Mutter, aber jetzt mit Handy. Ich zog es aus der Hosentasche und wollte wie alle anderen Touristen den Blick, den es auf Ansichtskarten hundert Mal professioneller zu kaufen gibt, mit eigenen Fingern festhalten. Wichtig ist es dabei, immer eine prominente Persönlichkeit ins Bild zu stellen: Silke, Carsten oder Rafał, zur Not sich selbst. Sonst hätte man überhaupt keinen Grund, die vielfotografierte Gegend eigenhändig abzulichten.

Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto Mitte: Marco Porcu/Shutterstock | Foto rechts: Peter Moulton/Shutterstock

Als ich nach vollbrachtem Akt das Handy in die linke Hosentasche zurückstecken wollte, fiel mir auf, dass da nichts war. Auch in den anderen Taschen war nichts. Hatte ich mein Portemonnaie doch im Wagen gelassen? Muss ja wohl. Rafał lief runter, kam zurück – nichts. Auf dem Aussichtspunkt nicht, nicht auf dem Weg und nicht neben dem Auto. Weg! Ich konnte es gar nicht glauben. Mir ist schon einiges passiert, aber das noch nie. Kreditkarten, EC-Karte, Personalausweis und ausnahmsweise sogar Geld. Als Erstes dachte ich: Mist, das ist so lästig, ärgerlich und gleichzeitig so banal, dass sich das nicht mal eindrucksvoll beschreiben lässt. Das ist keine Geschichte, das ist eine Dummheit. Ich guckte in den Mülleimer am Wegesrand, unter das Auto und unter alle Sitze. Wäre ich gestern gestorben, wäre mir das trotz meiner vielen Reisen nie passiert. Aber ich lebe nun mal, muss Karten sperren, sofort, und einen neuen Personalausweis beantragen, in Hamburg. Mein alter Spruch ‚Was man nicht mitnimmt, kann man nicht verlieren‘ traf mich und betraf mich, besonders, weil ich mehr als sonst bei mir hatte. Gehabt hatte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Zunächst war es ein Schock. Bisher hatte ich doch alles, manchmal in den unmöglichsten Ecken, wiedergefunden, und nun das! Dann dachte ich: Ich bin frei, befreit von all dem, was das Leben einengt und in vorgegebene Bahnen zwingt. Wie ein Hippie, wie ein Eremit, wie ein Landstreicher. Lange konnte ich mich allerdings nicht in dieser Attitüde sonnen, dann dachte ich: Ich bin völlig eingeengt, finanziell abhängig, ohne Identität. Ausgeschlossen, noch krasser als durch meinen Schlaganfall. So erreichten wir die zentrale Piazza Mino da Fiesole, das alte römische Forum aus dem Jahr 1028, nachdem Rafał während der Fahrt mehrfach gesagt hatte, so schlimm sei der Verlust gar nicht. Das kaputte Rücklicht war derweil in Vergessenheit geraten. Und vor unseren Autofenstern blühten alle Sträucher in Weiß, Gelb und Lila. Die Villen standen in ihren Gärten und strahlten unbeeindruckte Gelassenheit aus. Rafał fand sogar einen Parkplatz, für Schwerbehinderte – aber das bin ich ja, wenn auch von Amts wegen nicht genug, um dafür eine Plakette zu bekommen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Für unser zu halb zwei gebuchtes Restaurant ‚Perseus Il Fiesolano‘ war es noch etwas früh, aber gleich neben dem Lokal war eine Bar, da konnte man draußen sitzen und alles beobachten, worauf man Lust hatte – Kerle, Kirchen, Kastanien, alles da, alles in Blüte. Ich trank zwei Negroni. Danach sind die Sorgen des Alltags ziemlich erträglich.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Wir wechselten nach nebenan an unseren reservierten Tisch und freuten uns darüber, dass wir ohne Vorbestellung keinen bekommen hätten. Pizza aus der Hand war gestern. Heute zahlt Silke, weil ich mittellos bin. Dabei hätten sie ‚American Express‘ genommen und ich hätte Punkte auf mein Konto bekommen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

In meinem breiten Baldachinbett hielt ich einen ausgedehnten Mittagsschlaf, selber breit. Den Aperitif nahmen wir noch unter den Oliven des Haupthauses ein, zum Abendessen gingen wir lieber ins steinerne Innere und genossen  Steinpilze, die Spezialität des Tages. Danach war mein Tag aber speziell genug gewesen. Ich schrieb ein paar kurze Notwendigkeiten, schickte sie in den Äther und mich zurück ins Bett. Nicht ärgern! Es gibt Schlimmeres. Schöneres natürlich auch.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

17 Kommentare zu “#2.4 Weg!

  1. Langeweile auf dem Lande ist super. Das wäre gleich wieder ein passender Titel für ihre ungeschriebene Bücher-Reihe.

    1. Aber ganz ohne Ironie, zwischen dem ganzen Großstadttrubel genieße ich die ‚Langeweile auf dem Lande‘ tatsächlich manchmal sehr.

  2. Mein Portemonnaie habe ich vor ein paar Monaten ebenfalls verloren. Es gibt doch wirklich nichts dümmeres, und nicht ärgerlicheres!

    1. Naja Dummheit ist das ja nicht immer. Trotzdem Ihnen beiden viel Geduld beim Wiederbeschaffen der verlorenen Dokumente.

  3. Hahaha, woher kommt das nur, dass man immer jede Sehenswürdigkeit mit dem eigenen Fotoapparat oder Handy ablichten muss obwohl man, wie Sie schon sagen, deutlich bessere Aufnahmen als Postkarte bekommen kann? Ist die amateurhafte Aufnahme ein eindeutigerer Beweis, dass man wirklich selbst dort war?

  4. Je älter ich werde, desto weniger gut ertrage ich schlechtes Essen. Bei aller Liebe für Spontanität und Überraschungen, Restaurant-Besuche sind davon ausgenommen.

    1. Ahh schlechtes und liebloses Essen verdirbt mir auch die Laune. Menschen die ihr Abendessen aus rein lebenserhaltenden Gründen zu sich nehmen verstehe ich ebenso wenig wie Köche ohne Geschmackssinn.

  5. An einen Koch ohne Geschmackssinn ausgeliefern zu sein (z.B. eigene Mutter oder Krieg oder Altersheim) ist ein Anlass, die „lebenserhaltenden Gründe“ nochmal zu überdenken.

  6. Ich glaube, der Reflex jeden syrischen Flüchtling zu bemitleiden, hilft recht wenig. Nicht alle Flüchtlinge sind arme Menschen, die andauernd Kinder zeugen und dazu auch noch fanatisch religiös sind. Manche brauchen schlichtweg eine Möglichkeit zu arbeiten. Vielleicht sollte man sich an die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern. An die 10 Millionen Menschen, die in Westdeutschland Zuflucht suchten. Der ein oder andere der sich heute beschwert brauchte damals selbst Hilfe. So kenne ich es jedenfalls aus meinem eigenen Bekanntenkreis.

    1. Diese Zusammenhänge kennen gerade die, die sich über solch deutsche Vorurteile gegenüber „nachwüchselnden Islamsen“ lustig machen, also auch ich. Dass nicht anerkannte Bewerber keine Ausbildung und keine Arbeit bekommen, sondern monate- ja jahre-lang untätig rumhocken müssen, lässt sich natürlich juristisch begründen. Wie alles. Meine eigene Nachkriegssituation habe ich im ersten Kapitel dieses zweiten Teils „Heimatgefühle“ geschildert.

    2. Differenzieren hilft immer. Humor auch. Trotzdem spannend, dass wenn man es genau nimmt mehr als die Hälfte aller Deutschen einen ‚Migrationshintergrund‘ haben. Vielleicht relativiert das doch noch einmal das ein oder andere Vorurteil des enttäuschten AfD- oder CSU-Wählers.

  7. Ein erschütternder Reisebericht! Ich brauche jetzt einen Negroni. Wir haben das doch alles nicht gewusst! Herr Rinke wie ist der
    Verlust Ihrer allerpersönlichsten Dinge den ausgegangen? Fragt Frau Brigitte

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