Das ‚Crisco‘ war geöffnet und es war wie immer – und es war herrlich: der erste Raum ziemlich laut und kommunikativ, der zweite, etwas intimere, mit nur einem, nicht – wie vorn – neun Bildschirmen. Alle zehn Bildschirme zeigen dasselbe, wobei aber die neun vorne sich zum Gemeinschaftsbild eines Großhodensacks formieren oder den Sack neunmal klein (macht 18 Eier) abwechslungsreich zeigen können, während sich der Betrachter des einzigen Bildschirms im ausschanklosen hinteren Raum mit dem Anblick eines einzigen Skrotums in Normalgröße begnügen müssen. Das hat durchaus auch Vorteile, besonders wenn das Porno-Video im Neunerpack über dem Tresen gerade einen Anus in Großaufnahme freilegt, so dass man sich um der eigenen erotischen Gestimmtheit willen lieber was Geologisches, zum Beispiel die Kratermündung eines hoffentlich erloschenen Vulkans dabei denkt, als was Menschliches, das womöglich noch Exkremente speien könnte.

Vom hinteren Raum führt ja die zart gewundene Treppe ins Nachtgefilde der Grotten und Katakomben, in denen die Fledermäuse des losgelösten Begehrens flügelflattern und die Opfersüchtigen den Vampiren der Lust ihre Hälse entgegenrecken.

Die Beleuchtungsverhältnisse des Geländes umfassen alle Stufen auf der Skala, die von anregend behaglichem Schummer bis zu abgrundschwarzer Finsternis reicht, ein wirklichkeitsferner Raum, dem Traumverlorenen ein Kosmos mit Höllenschlund, dem Nüchternen eine geschickt genutzte Kellerfläche von höchstens zwanzig Quadratmetern, und so verwirklicht sich die lebenslange Wanderschaft der Ewigsuchenden hier auf der unendlichen Strecke des Herzens und den fünf Metern Gang für die Füße, dieser Gang, der von den ruhelos auf Bewegung Hoffenden abgeschritten wird, zwanghaft fast in Bewegung, aber mit dem gespielten Gleichmut von Verurteilten bei der Umrundung des Gefängnishofs.

Wenige stehen bloß rum, an die Wand gelehnt, und warten, dass sie angesprochen werden, damit sie ‚Nein‘ sagen können, oder dass sie angefasst werden, damit sie die Hand wegschieben können – oder nicht.

Ich beobachtete eine größere Selbstverständlichkeit mit sich selbst und ein größeres Einverständnis mit den anderen dort in Florenz als an vergleichbaren Plätzen anderswo, an denen es nur wenig gibt außer Feindseligkeit und Gier. – Die Abwesenheit von Leder und Ketten macht die Atmosphäre ohnehin netter, dafür ist das Riechfläschchen in Aktion wie weiland 1980 in der Disco.

Apropos: Am besten gefiel mir so ein Magerer mit Schnäuzer und dunklen Knopfaugen, also das Übliche gemäß meinem vor fünfzehn Jahren stehengebliebenen Männergeschmack. Wir sprachen Italienisch und Englisch, er ist Cembalist aus New York auf Tournee und wollte mir nicht glauben, dass ich Deutscher bin, ich ließ ihn, hintersinnig lächelnd, in dem Glauben, ich hätte das erfunden, bis ich es nicht mehr aushielt und ein Eichendorff-Gedicht aus mir herausbrach. Er war beeindruckt, aber mehr auch nicht. Vielleicht hatte ihm auch nicht ganz so, wie ich gehofft hatte, geschmeichelt, dass ich ihm erklärt hatte, er sei eine Art Homo-Dinosaurier – eine vor Jahren ausgestorbene Form schwulen Erscheinungsbildes –, auf das ich allerdings nostalgisch fixiert sei.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Ich trennte mich von ihm mit einer zackigen Unfreundlichkeit und ging meiner Wege, dabei nahm ich ihm seine physische Unzugänglichkeit nicht übel, nicht sehr:

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Man kann sich nun mal nicht aussuchen, auf wen man geil ist, sonst wäre ich schon mit Gabi Dohm verheiratet oder lebte mit Rex Gildo zusammen.

Bedächtig schritt ich diese zart geschwungene Treppe hinab. Mich rührt die Anmut der Verhinderung, aber die Versautheit der offenen Hose macht mir doch noch mehr Spaß.

Gegen vier zwang ich mich zu der Einsicht: Morgen ist auch noch eine Nacht, nahm mit letzter Kraft die Stufen nach oben, Giuseppe, der noch brav auf dem Barhocker saß, auf den ich ihn kurz vor Mitternacht abgesetzt hatte, bei der Hand und mit aufs Zimmer, in dem unser beider Hotelbetten standen, und schlief so sanft, wie man auf dem Ruhekissen der Gewissenlosigkeit nur schlummern kann.

Bilder (2): gemeinfrei/Wikimedia Commons

Als ich gegen elf Uhr aufwachte, kregel wie eine frischgelaichte Forelle, goss es in Strömen. Der Spiegel im Badezimmer wartete mit einigen Pampigkeiten auf, wobei sich sein Spott besonders gegen meine rosa Augen richtete, das Fenster, auf der entgegengesetzten Seite, gegen das der Wolkenbruch prasselte, bot keinen aufmunternden Anblick, bloß Giuseppe, in der Mitte, räkelte sich anheimelnd ausgeglichen und schaltete per Fernbedienung das Fernsehen an. Zu meiner Erleichterung gab es keine Sperma speienden Harnröhren auf nüchternen Magen, sondern – noch schlimmer? – ‚Tosca‘. So kam es, dass ich, unerwünscht und unerwartet, Domingo live aus Rom mit dem ersten Akt aus Sant’Andrea della Valle sah, das sommerliche Kulturereignis: ‚Tosca‘ an den Original-Schauplätzen zu den Original-Tageszeiten, ein Medien-Event, von dem ich – nicht ohne Häme – sicher gewesen war, ich würde es versäumen. Nachdem Raimondi sein Tedeum gesungen hatte und der erste Akt, also auch die Übertragung, vorbei war, hatte auch der Regen aufgehört.

Lustig, über sonnenbeschienene Pfützen zu steigen und sich dabei mit ausgestreckten Beinen zu spiegeln. Von unten war ich immer noch wunderhübsch, geradezu erregend, und ich nahm mir vor, den gehässigen Hotelspiegel am Abend zum Zwecke der Züchtigung mit Zahnpasta zuzuschmieren. Florenz leuchtete frisch gewaschen, die Mädchen legten den Jungen die feuchten Haare auf die Schulter, eine süßere Last als der Rucksack, die Kellner wischten die runden Tische ab, die Touristinnen packten ihre durchsichtigen Plastikmäntel in die Korbtaschen und die Kirchenglocken läuteten in der Ferne oder in meiner Einbildung: ein Uhr.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Wir gingen, weil man draußen noch nicht sitzen konnte, in einen Self-Service-Imbiss, der sich in drolliger Selbstüberschätzung ganz pompös ‚Gran Caffè San Marco‘ nannte, und aßen im Mikrowellenherd erhitzten Unrat. Da schrieb ich dann den ersten Satz dieses Briefes ‚Ist das Glück?‘ und auch den zweiten, über den Spiegel, der mir Erholung bescheinigte.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Sich diese Eingangsfrage zu stellen, zeugt angesichts des komischen Gemischs aus Béchamel-Pampe auf Papptellern, Aluminiumleisten auf Mosaikkacheln und Espresso-Flecken auf Plastikstühlen von einem hohen Maß an Genügsamkeit – oder Erwartungsfreude.

15 Kommentare zu “#2.8 Glück?

  1. „Vom hinteren Raum führt ja die zart gewundene Treppe ins Nachtgefilde der Grotten und Katakomben, in denen die Fledermäuse des losgelösten Begehrens flügelflattern und die Opfersüchtigen den Vampiren der Lust ihre Hälse entgegenrecken.“ Schöner hat man eine Cruisingbar wohl selten beschrieben!

    1. Und doch spannend (und dann auch irgendwie gar nicht überraschend), dass der Imbiss schmuddeliger wegkommt, als das Crisco 🙂

    2. Das überrascht mich tatsächlich gar nicht. Was so alles in Großküchen passiert macht mir mehr weitaus mehr Angst als jeder Darkroom…

  2. Ihren Briefen und Rückblenden entnehme ich, dass sich die Qualität (bzw. die Auswahl) der italienischen Restaurants im Laufe der Jahre und Italienbesuche doch stark verbessert hat. Man wird ja auch anspruchsvoller…

    1. Aus meiner Sicht: Je älter man wird, desto mehr konzentriert man sich auf die Dinge, die wirklich wichtig sind. Für deprimierende Restaurantbesuche fehlt mit einfach die nötige Geduld.

    2. So herum würde ich‘s sogar eher formulieren. Mit dem Alter schwindet die Geduld. Das gilt für schlimme Restaurants genauso wie für dumme Menschen, langweilige Filme etc.

  3. Ich habe das Gefühl es gibt ganz klar zwei verschiedene Muster bei der Lebens- bzw. Sexpartnerwahl: entweder man will soviele unterschiedliche Menschen wie nur möglich „ausprobieren“ (Mann, Frau, dick, dünn, weiss, schwarz, wild, zart, jung, alt…) oder man sucht in jedem neuen Partner immer wieder denselben Typ.

  4. In Deutschland sind die Lokale besser geworden, in Italien teurer.
    Im Bekannten versucht man, immer noch etwas Neues zu entdecken und im Ungewohnen etwas zu finden, das es vertraut macht. So verläuft ein ehrgeiziges Leben.

    1. Was mir in Italien Spaß macht, ist, dass es in jeder Region noch Spezialitäten gibt. So wirklich viel mehr als Schweinebraten mit Klößen hat Deutschland ja nicht zu bieten.

    2. Trotzdem sind die Speisekarten in ganz Italien leider einheitlicher geworden. In Kochbüchern liest man noch von Spezialitäten, die der Gastronomie längst zu aufwändig geworden sind. Schade!

    3. Das stimmt tatsächlich, und trotzdem genieße ich die Pizza napoletana am liebsten in Napoli, die Cannoli natürlich auf Sizilien und kaufe mein Balsamico wenn möglich in Modena.

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