Ich bleibe dabei. So lasse ich es stehen. Den ersten Teil hatte ich noch zartfühlend ‚Von Zuhause nach Zuhause‘ betitelt. Dann habe ich im zweiten Teil seiten- bzw. displaylang über Heimat referiert, und nun das: Klingt wie das Schicksal eines … – da fällt mir wie immer meine Mutter ein.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
In den mittleren Klassen des Gymnasiums war ich nicht mehr wie am Anfang ein schlechter Schüler, aber ein sehr mittelmäßiger. Die Züchtigungen per Riesenregal im Rechenunterricht, weil ich gekichert hatte, und per Ohrfeige im Englischen, weil ich verbotenerweise eine Seite weitergeblättert hatte, haben mich nie sehr beeindruckt. War halt so. Seelischen Schaden habe ich nicht davon genommen. Wenn solche Maßnahmen später nicht gesetzlich verboten worden wären, hätte meine Erinnerung sie längst getilgt. Sollte ich allerdings mal kurz vor meinem Tod wegen bestialischer Morde an bestialischen Mördern angeklagt werden, dann wird mein Anwalt sicher lieber strafmindernd auf die Backpfeifen von Herrn Doktor Reinecke zurückkommen, als verständnisheischend erwähnen, dass ich, der ich nicht an die Hölle glaube, auf den letzten Lebensmetern noch mal so richtig nach Herzenslust gemein sein wollte.
Die Schulschläge bekam meine Mutter nicht so mit. War nicht erzählenswert. Die Beurteilungen in den Zeugnissen schon. Heute darf ja nicht mehr geschlagen werden, was ich nett finde, aber Beurteilungen finden auch kaum noch statt, was nicht nach einer professionellen Vorbereitung aufs Leben klingt, selbst wenn es erfreulich ist, von unangenehmen Wahrheiten verschont zu bleiben. Schutz ist ja schön, Fliegen lernt man dabei nicht.
In meinem ‚Zeugniskopf‘ stand so allerlei, unter anderem, dass ich immer noch ‚sehr verspielt‘ sei und dass mein Betragen nach einem ‚Täuschungsversuch‘ nicht mehr als ‚gut‘ eingestuft werden könne. Hat mich nicht sonderlich berührt. Meine Mutter schon. Sie stellte meinen Klassenlehrer zur Rede und warf ihm etwas an den Kopf, das wohl die Umsetzung einer Eisenstange ins Verbale sein sollte: „Das ist nicht die Beschreibung eines Gymnasiasten, sondern die Conduite eines Fürsorgezöglings“, sagte Irene so eisig, wie es ihr zu Gebote stand und machte meinen Lehrer damit platt. Mich auch. Den Begriff habe ich nie wieder gehört, aber er blieb mir unvergesslich. Mein Klassenlehrer lief rot an und stammelte, so sei es nicht gemeint. Kannte er das Wort etwa? Ich nicht. In meinem ‚Meyers Lexikon‘ von 1898 steht dazu: gar nichts. Aber unter ‚Konduitenliste‘ liest man bei ‚Meyer‘ in deutscher Schrift: ‚Übersicht über den Lebensgang, die moralischen und Berufseigenschaften, das Verhalten, die Befähigung zu weiterem Aufrücken, wurde von den Vorgesetzten auf Ehre und Pflicht aufgestellt und an die höheren Behörden eingesandt.‘
Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons
Damals wurde eben noch geprügelt und auch beurteilt. Gott und der Demokratie sei Dank sind diese barbarischen Maßnahmen in Deutschland abgeschafft. Kopfnüsse und Kopfnoten gibt es in dieser Form nicht mehr. Allerdings – das Leben beurteilt und prügelt weiter. Dafür hat es seine Mitarbeiter: die Menschen.
Und schon sind wir wieder beim ersten Absatz, also bei meiner Mutter: ‚Von Heim zu Heim‘, das klingt wie die Konduite eines Fürsorgezöglings. Wollte ich die Provokation auf die Spitze treiben, dann könnte ich stattdessen auch hochnäsig ‚Von Luxushotel zu Luxushotel‘ schreiben.
Mein enger Freund Pali hat sich seinen Lebensabend immer im (für ihn unerschwinglichen) Grandhotel ausgemalt: Jemand bringt das Essen; Bett und Bad werden gemacht. Wenn man Langeweile hat, setzt man sich in die Halle und beobachtet beim Sherry. Wenn man Appetit hat, bucht man einen Tisch im Restaurant. Alles bleibt wunderbar unpersönlich. Man hängt an nichts, und jeder Tag bietet vertrautes Personal und neue Gäste. Gestorben ist Pali im ‚Israelitischen Krankenhaus‘, nachts abgeholt aus seiner kleinen Wohnung. Wenigstens bekam er, wenn er zu sich kam, immer wieder Morphium, bis es vorbei war.
Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Photographee.eu/Shutterstock
Mein Vater war ein gewiefter Schreiber. Wenn es ihm passend erschien, beendete er seine Geschäftsbriefe nicht in üblicher Weise:
‚… verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung,
Ihr sehr ergebener …‘,
sondern schloss:
‚mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus‘.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Gegenüber so bedeutenden Partnern wie ‚Siemens‘ oder der ‚Zuckerfabrik Schleswig‘ stellte er sich durch diese Vertraulichkeit auf eine Stufe. Ich habe viel von meinem Vater gelernt: Selbst, wenn ich einen Schwanz im Mund hatte, war ich immer auf Augenhöhe.
Von Haus zu Haus, von Heim zu Heim – ist es genauso problematisch, zwei Stammsitze zu haben wie bisexuell zu sein? Kann man zwei Zugehörigkeiten aushalten? Können Türken das in Deutschland, können Scheidungskinder das? Die Identität: als die Frau, als der Europäer, als weiblicher Flüchtling, als männliche Kriegswaise, ideell, kulturell, hormonell – die Identität, sie steht wieder im Mittelpunkt des Denkens (lerne ich aus den Medien; auf die Straße komme ich ja nicht mehr). Sich der eigenen Identität bewusst zu werden und das, was man dabei entdeckt, zuzulassen, ist nicht einfach, nicht mal immer sinnvoll. Wer outet sich nach gründlichem Selbststudium im Kreis seiner Nazi-Freunde als jüdische Schwuchtel? (vom Hochhaus springen geht schneller). Fremde Identitäten sind leichter hinzunehmen: Man kann sie ertragen, und wenn das nicht geht, bekämpfen: „Hau dem Schwein eine rein!“
Nein, unser Rechtssystem funktioniert anders. Gesitteter. Aber was human ist, entscheiden die, die im Recht sind, nicht die, die der herrschenden Ordnung Schaden zufügen. Dagegen spricht nichts. Solange Anpassung rechtzeitig stattfindet – wann das ist, wissen die Götter. Wenn sie uns nur endlich in Ruhe ließen! Es gibt fast keinen Konflikt in der Welt, der nicht religiös begründet wird, von Irland bis Myanmar, von Gaza bis Haifa. Die große Hoffnung, der Kommunismus würde in diesem Krämerladen aufräumen, hat sich nicht erfüllt: Das irdische Glück ist einfach zu wenig, es muss das himmlische sein. Jeder denkende Mensch weiß nämlich, dass er mit seinem Körper, mit seinem Charakter, mit seinen Trieben gar nicht glücklich werden kann. Warum er deshalb glaubt, dass eine anschließende Existenzwäsche die Seligkeit bringen wird, ist ebenso unverständlich, wie es unausrottbar ist. Das wäre ja trotzdem ganz egal, wenn solche verschrobenen Ideen das wirkliche Leben nicht so unerträglich machten.
Foto: (Giovanni Battista Gaulli: ‚Musizierende Engel‘) Sailko/Wikimedia Commons, CC BY 3.0
Ich weiß, ich weiß: Normalere Menschen wären einfach von Meran nach Hamburg gefahren, oder wenn’s unbedingt sein muss, ‚von daheim nach daheim‘. Aber ich darf darauf bauen, dass meine Leser(innen) nicht vermuten, ich sei normal.
Foto: Privatarchiv H. R.
Immer auf Augenhöhe. Auch mit Schwanz im Mund!
So muss es sein. Köstlich!
Hahahaha, Rinke Rinke, sie werden mir immer sympathischer 😉
Über unser Schulsystem kann (und sollte) man sicherlich streiten. Dass Kinder mittlerweile nicht mehr geschlagen werden, finde ich beruhigend. Ansonsten glaube ich allerdings nicht, dass die Schule wirklich in der Lage ist auf’s Leben vorzubereiten. Ich würde jedenfalls behaupten, dass 75% der Sachen, die ich gelernt habe, ziemlich unnütz sind. Wenn überhaupt lernt man lernen, aber das ist für 13 Jahre doch recht wenig.
Ich frage mich schon lange warum bei uns immer noch Schulpflicht (also Schulzwang) und nicht wie in anderen Ländern Bildungspflicht gilt. Die UN haben Deutschland wegen dieser Interpretation schon vor mehr als 10 Jahren gerügt.
Finde ich auch. Man muss heute so flexibel und anpassungsfähig sein, wie soll ein so starres Schulsystem darauf vorbereiten? Und dass Kinder nicht effektiv lernen, wenn sie 7 Stunden land stillsitzen müssen, ist mittlerweile doch tausendfach belegt.
Gott sei Dank sind Sie nicht normal. Gibt es etwas langweiligeres oder deprimierenderes als normal zu sein?!
Das deprimierendste ist nicht man selbst zu sein. Ob das Ergebnis langweilig ist oder nicht ist völlig egal.
Interessante Gedanken… zwei Pässe zu haben und bisexuell zu sein scheint ja tatsächlich die gleichen Reaktionen auszulösen. Misstrauen, Neid, letztlich Wut. Vielleicht hilft das Nachdenken über Identität allen…
Nachdenken soll ja grundsätzlich helfen. Hab ich mir sagen lassen.
Wenn das Nachdenken mangels Einsicht zu falschen Ergebnissen führt, ist aus Versehen das Richtige zu tun besser.
Von Haus zu Haus muss ich mir merken!
„Es gibt fast keinen Konflikt in der Welt, der nicht religiös begründet wird.“ Richtig, und ich frage mich, in wie vielen Fällen tatsächlich die Religion Grund und wann sie nur Begründung ist.
Den Unterschied erkennen die (Un)gläubigen nicht (an). Gott hat die Einsicht nicht gerecht verteilt: wahrscheinlich, weil der Teufel sonst nichts mehr zu tun hätte.
Würden sie den Unterschied kennen hätten Trump, Erdogan, Netanyahu und co. ja auch nichts mehr zu tun…
Und wieder: wer alle seine Prinzipien und Ansichten von der Religion kopiert, hat ja eigentlich gar keine eigenen.
Also wie beim Post weiter oben: Nachdenken! Scheint ein Allheilmittel zu sein 😉