‚Frühling in Florenz‘! Ich liebe Etikettenschwindel, Alliterationen auch. Die Kombination von beidem machte schon als ‚Milch‘ vor mehr als sechzig Jahren ‚müde Männer munter‘, und wer wie ich den ‚Fasching in Fulda‘ feierte, der ist sich weder für trutschige Titel noch für toskanische Themenbehauptungen zu schade oder gar zu schuldbewusst.
Natürlich darf man es nicht übertreiben: Wenn ich mir einen Film herunterlade, der verspricht, die ‚ausgefallenste‘ Sauerei zu sein, seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, und dann sehe ich eine haar- und zahnlose Frau Äpfel mampfen – da komme ich mir doch ein wenig übers nackte Ohr gehauen vor. Andererseits ist es legitim, um Aufmerksamkeit zu kämpfen, die andern tun es schließlich auch. Der Zweck heiligt die Mittel. Das ist fair.
Der Lauf der Zeit hat es ja mit sich gebracht, dass es auf Erden und obendrüber so viel zu bestaunen gibt, dass nicht einmal jeder halbwegs Interessierte einen Text ohne aufregende Überschrift weiterliest. ‚Ein Bauer ist vom Heuhaufen gefallen‘ verkauft sich gar nicht, kommt allenfalls unter ‚Vermischtes vom Lande‘. Wenn man aber aus berufener Quelle unterrichtet wurde, dass der Landwirt zuvor die Bäuerin erwischt hat, wie sie sich vom Knecht ärschlings nehmen ließ, darüber ärgerlich die beiden mit der Mistgabel trennte, sie mit der Hackmaschine zur Vernunft brachte, mit der Silofräse zerkleinerte und dann in der Wurstmaschine verarbeitete, dann erst erhält die Ankündigung ‚Vermischtes vom Lande‘ etwas so Vielversprechendes, dass sogar Veganer aufmerksam werden. Hat sich der Bauer nach der Tat betrunken? Wollte er sich aus Scham das Leben nehmen? Hat ihn vielleicht die Magd gestoßen? Sowas will man doch wissen!
Mein Bedürfnis, Inhalte unter die Menschheit zu bringen, darf sich von der Sensationsgier der Bevölkerung nicht entmutigen lassen, sondern muss sie sich zunutze machen. Am besten durch den zielgerichteten Aufmacher: ein Titel, den Doofe nett finden und Ein-Gebildete für ironisch halten. ‚Frühling in Florenz‘ zum Beispiel. Ob’s stimmt, spielt keine Rolle. Hätten Sie lieber einen echten Rembrandt, über den Sie nicht reden dürfen, weil er geklaut ist, oder einen falschen Chagall, mit dem Sie protzen können, ohne dass irgendwer was merkt? Das Überangebot an Informationen macht uns nicht freier, sondern hilfloser. Am Ende glauben wir gar nichts mehr oder jeden Tag etwas anderes. Haben ‚die Russen‘ in Salisbury am 4. März einen Nervengift-Anschlag durchführen lassen? Sollen die Jugendlichen, die in Salzburg am 23. März ein Mädchen halb totgefoltert haben, vor allem bestraft oder vor allem resozialisiert werden? Zu allem kann jeder eine Meinung veröffentlichen. Schon am Esstisch meiner Großeltern mit ihren vier Söhnen galt Ende der Zwanzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts das fortschrittliche Prinzip: „Jeder darf alles sagen. Keiner hat Anspruch darauf, dass ihm jemand zuhört.“ Damit mir alle zuhören und weiterlesen, beende ich hiermit die Einleitung. Ich habe genügend über Fake und Fakt drum rumgeredet, um den ‚Frühling in Florenz‘ mit einem angemessenen Anfang zu beginnen: ‚Belanglosigkeiten in Berlin‘.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Am Sonntag, dem 25. März fuhren wir los. Die Blümchen im Vorgarten waren traurig. Sonst niemand. Himmel tiefgrau, Rafał am Steuer, ich daneben – Silke saß hinten. Da habe ich immer ein etwas schlechtes Gewissen, aber das legt sich nach ein paar Kilometern: Der Krüppel bin ja schließlich ich.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Für unsere vielen Berlin-Reisen habe ich mir schon alles Mögliche ausgedacht: Vor die Hauptstadt gehört jedes Mal eine nette Nebensächlichkeit. So haben wir von Friedrichs Rheinsberg über das Modemuseum in Meyenburg bis zu Fontanes Neuruppin und Ribbeck so ziemlich alle Weiden abgegrast, die zwischen Sand und Kiefern den märkischen Ruhm mehren.
Fotos (5): Privatarchiv H. R.
Deshalb hatte ich mir – wie immer – etwas Besonderes ausgedacht. (Es wäre etwas Besonderes gewesen, wenn ich mir nichts Besonderes ausgedacht hätte.) Den nördlichsten Zipfel Berlins! Das ‚Landhaus Hubertus‘. Es liegt in der ‚Invalidensiedlung‘, und das klingt so, als wollte ich Silke zum Verzehr von Wildschweinburgern in die Plattenbauten zwingen. Aber nein, war ja immer gerade noch (West-)Berlin gewesen. Und nicht nur das: Das ehemals preußische ‚Invalidenhaus Berlin‘ war die älteste Kriegsopferversorgung dieser Art im deutschsprachigen Raum. König Friedrich I. entwickelte 1705 den Plan zum Bau besonderer Unterkünfte für ausgediente und kriegsinvalide Soldaten. Aber erst Friedrich II., der Große, realisierte diesen Plan nach Ende des Zweiten Schlesischen Kriegs. Besser wäre es natürlich gewesen, der kleine Große hätte gar nicht erst seine Angriffskriege angefangen, aber immerhin.
Bild: gemeinfrei/Wikimedia Commons
Am 15. November 1748 wurde das Invalidenhaus bezogen. Dieses Datum gilt als der eigentliche Stiftungstag. Bei der Wahl des Standorts der barocken dreiflügeligen schlossähnlichen Gebäudeanlage hatte der König auf die Nähe zur Charité Wert gelegt.
Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons
Als 1938 Hitler den Krieg längst geplant hatte, wurde die Militärärztliche Akademie erweitert. Da wurden die Gebäude des Invalidenhauses gleich umfunktioniert. Diktatur kann alles. Gerecht sein allerdings nicht so gut. Aber: Als Ausgleich für die Insassen errichtete die Wehrmacht die Invalidensiedlung in Berlin-Frohnau. Die Bewohner zogen sehr ungern von der Invalidenstraße in ‚Mitte‘ nach ganz draußen. Rentner, die vom Prenzlauer Berg nach Marzahn umgesiedelt werden, kennen das Gefühl. Doch für die ‚Invaliden‘ kam es noch schlimmer. Nach der Grenzziehung von 1945 war die Siedlung auf drei Seiten von Stacheldraht umzogen und später vom ‚antifaschistischen Schutzwall‘ umzingelt. Als wir dort gegen dreizehn Uhr eintrafen, war die Mauer bekanntermaßen seit achtundzwanzig Jahren weg. Das gab dem Ensemble einen Hauch von Alltäglichkeit. Mit Wachtürmen ‚drumrum‘ war es bestimmt romantischer gewesen, na ja, ich wies auch so auf die Einmaligkeit der Lage hin. Grenzen reizen mich immer, selbst wenn sie nicht da sind. Rafał war mehr an einem Parkplatz interessiert, und Silke saß hinten.
Ganz Abgehärtete froren draußen in der Sonne. Sie schien unverdeckt und wärmte nicht. An der inzwischen unbedeutenden Grenze von Holstein zu Mecklenburg hatte der Himmel aufgeklart, und in meine siegesgewisse Freude hinein ärgerte mich Silke mit dem Satz: „In Hamburg ist es jetzt vielleicht auch schön geworden!“
Wir gingen lieber nach drinnen und nahmen in dem großen Gebäude in einem sehr kleinen Raum unsere vorbestellten Plätze ein: Es war der schönste Tisch und der letzte freie. Wenn meine Reservierungswut durch solch ein Erlebnis gekrönt wird, bin ich immer ganz selig.
An einem der Tische saß eine unjunge Frau allein mit nichts als einer Riesenportion Schweinebraten. Rafał toppte das und bestellte Blutwurst mit Apfelkompott. Das traute ich mich nun nicht, aber immerhin die angepriesene Rinderrippe. An den anderen Tischen kauten mehrere ältliche Esser. Ich redete mich, wie so oft, über irgendetwas so in Rage, dass ein Paar empört über den Lärm das Lokal verließ. Das merkte ich aber erst, als Silke mich darauf aufmerksam machte. Ich war richtig stolz. Sonst ist Rafał immer lauter als ich. Die Kellnerin beschwichtigte, so, als wollte sie sagen: „Gut, dass die weg sind!“
Was war es gewesen, weswegen Sie sich so in Rage geredet hatten? Ich kann laut, aber nicht so sehr, dass andere Gäste Lokale verlassen … Geht es hiermit dann im nächsten Beitrag weiter?
Es geht immer um Unwichtiges, da lasse ich mich gehen. Bei Wichtigem werde ich leise: das halte ich für eindringlicher.
Hahaha, Herr Rinke, Sie sind mir sehr sympathisch!
schöner Beitrag, aber ich will es wild und Wild nicht nur Mittwochs!
Kommt noch! Spätestens in Florenz.
Das Überangebot an Informationen macht uns nicht freier. Meine Rede. Es überfordert die meisten Menschen eher. Wer nicht weiss, wie man die für seine eigenen Bedürfnisse notwendigen Informationen herausfiltert, ist schnell verloren.
Erneut ein erheiternder Essay. Vielen Dank für ihre wunderbar witzigen Worte Herr Rinke!
Ich schließe mich dieser schamlosen Schmeichelei gerne an.
Angesichts all dieser ärmlichen Alliterationen… auch ich habe mich äußerst angenehm amüsiert.
Unjung wird mein neues Lieblingswort 😉
Gleich gefolgt von ältlichen Essern?
„Belanglosigkeiten in Berlin“ könnte dann wohl gleich auch der tägliche Titel für die politische Berichterstattung der Berliner Morgenpost sein.
Belanglosigkeiten aus aller Welt bitte. Als übergeordnetes Lebensmotto für Misanthropen.
Gibt es so etwas, dass Rentner in die Außenbezirke einer Großstadt umgesiedelt werden, tatsächlich? Bin ich wirklich zu naiv?!
Das nennt man wohl Gentrifizierung. Irgendwann sind die Mietpreise in der Stadtmitte einfach nicht mehr zu zahlen. Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis Berlin das gleiche Schicksal wie z.B. Paris ereilt…
Solange es nicht wieder die Schwaben waren…
Arggh der letzte Absatz und die dazugehörigen Fotos sind gemein. Da kriege ich am späten Abend noch einmal Heißhunger auf Schweinebraten. Gerne mit Klößen. Und Rotkraut. Oh mann :/
Aus welcher Ecke kommen Sie? In Brandenburg lohnt sich nämlich beispielsweise ein Ausflug zum Forsthaus Strelitz. Ganz ungentrifiziert und wahnsinnig lecker 😉
Danke für den Tipp. Wollte ich am kommenden Sonntag mittags machen. Öffnet aber erst um 18.00 Uhr. Da muss ich in Berlin sein. Schade!