Wichtiger Bestandteil aller Reisen sind die Zwischenstationen, besonders die mit Übernachtung. Die Ziele sind meist bekannt und geschätzt, auf dem Weg dorthin kann ich meiner Fantasie freien Lauf lassen. Aus diesem Grund hatten wir Meran in den vergangenen Jahren auf zum Teil eigenwillige Weise angesteuert: 2015 über Prag und Wien, 2016 über Halle und Leipzig, 2017 schon einmal, über Weimar und Rothenburg ob der Tauber. Dieses Mal hatte ich mich zu ‚Bamberg‘ entschlossen, das einen Umweg von nur einem Kilometer bedeutete: Fulda – Nürnberg: 207,6 km. Fulda – Bamberg 147 km, Bamberg – Nürnberg: 61,6 km. Solche Gradlinigkeit liegt mir eigentlich gar nicht, nicht mehr. Früher, mit meinem Busenfreund Harald, sind wir um fünf Uhr morgens aufgebrochen und ruhten nicht eher, als bis wir am Abend die Toskana erreicht hatten. Jetzt, dem Ziel so verdammt nah, besteht der Reiz mehr in dem, was ich mich noch traue, als in dem, was ich noch erreichen kann, und da ich aus eigener Kraft kaum noch etwas erreichen kann, muss ich mich mehr trauen, meinen Begleitern etwas zuzumuten als meiner Befindlichkeit.

‚Bamberg‘ spielt in meinem Leben eine besonders untergeordnete Rolle, und wer den nun folgenden Text liest, wird mir recht geben:

Zum ersten Mal war ich 1963 in Bamberg, mit siebzehn. Erika und ich kamen vom Margaretenhof. Schon zum zweiten Mal war ich dort gewesen, natürlich beide Male mit meiner Mutter, ohne sie reiste ich nur in Notfällen wie Schullandheimaufenthalten. Den Fehler, mich einfach wegzugeben, durfte sie nach dem schiefgelaufenen Experiment von 1947 nicht wieder machen.

(Wer darüber mehr erfahren will, findet Aufklärung in meinem Blog-Menü: ‚Lesesaal‘ unter ‚Prosa‘. Da steht der ausführliche Beitrag ‚Fast am Ziel‘, und es geht hier um Kapitel #18 – ‚Brust oder Flasche‘. Keine Scheu! Buchstaben beißen nicht, höchstens Sätze.)

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Auf dem Margaretenhof sollte ich Reiten lernen. Irgendein Sport musste mir doch stehen. Wenn schon nicht Fußball und Tennisschläger, dann vielleicht Sattel und Steigbügel. Beim Unfall mit Pferd war ja mein Offiziersgroßvater fast zu Tode gekommen und wurde seiner erschrockenen Gattin in der sächsischen Garnison auf der Bahre ins Haus geliefert. Diese Tradition glückhafter fortzusetzen, war mir insofern nicht bestimmt, als ‚Alpensohn‘, der lahmste aller Gäule, sich nur deshalb aufraffte, mir ans Knie zu treten, um mich erfolgreich daran zu hindern, ihn zu besteigen, was außer einer Schwellung und tagelanger Reitabstinenz keine schwerwiegenden Folgen hatte.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Meine Mutter fuhr nicht gern Auto, jedenfalls nicht, wenn sie es selbst lenken sollte. Im Jahr zuvor hatte deshalb Charly von Steinsdörfer meine Mutter und mich zum Reiterhof in Tegernsee-Nähe befördert. Er war damals der Chauffeur meines Vaters, auch wenn man vom Namen her eher hätte denken sollen, dass Guntram Rinke der Fahrer des Herrn von Steinsdörfer sei. 1963 saß Erika Russ am Steuer, die damals noch beste Freundin meiner Mutter, verwitwet, aber recht lebenslustig. Guntram und Irene Rinke sind in den Fünfzigerjahren viel mit Werner und Erika Russ durch Frankreich und Italien gereist. Auch über sie kann man bei Bedarf in ‚Fast am Ziel‘ mehr erfahren, und zwar unter #40 – ‚Handkuss‘.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Drei Wochen reichten, dann fuhren wir wieder weg. Der General schnauzte seine Gäste nicht nur hoch zu Ross, sondern auch im Speiseraum an, und die Generalin servierte die Kirschtorte mit Steinen drin. Das äße man so, behauptete sie. Wir nahmen lieber – ziemlich konspirativ – im Zimmer meiner Mutter Bäckerkuchen vom Ort zu uns und tranken mit einem Tauchsieder erhitztes Wasser, das mit Nescafé und Dosenmilch gestreckt war. Dabei kicherten wir verstohlen, besonders, wenn wir uns zur weiteren Auflockerung alle drei ein paar Gläschen ‚Enzian‘ genehmigten. Mochte die willfährige Kundschaft die schlechte Laune des Reitmeisters ertragen und die Kerne seiner Gattin schlucken oder spucken, wir hatten unseren Willen und unseren Spaß.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Erika fuhr uns im VW Käfer zurück bis München, und dort betrog mich meine Mutter. Mit meinem Vater. Er war per Flugzeug angereist und schleppte seine Gattin Irene auf irgendeine Veranstaltung. So musste ich mutterseelenallein mit Erika über Nürnberg–Feucht, wo es knochentrocken war, weiterfahren nach Bamberg. Am 4. August 1963.

In Bamberg war damals Andy stationiert. Er war Erikas Stiefsohn und war nach dem Tod seines Vaters der leiblichen Mutter übereignet worden. Die lebte inzwischen in St. Louis und freute sich sehr darüber, das Erbe ihres Sohnes auf den Kopf knallen zu dürfen. Wer noch mehr wissen will, kann das wieder in ‚Fast am Ziel‘ erfahren, und zwar im zweiten Teil des Kapitels #39 – ‚Wallende Gewänder‘. Andy war inzwischen Michael (sprich: Maikl), US-Bürger und somit Soldat geworden. Wegen seiner erstklassigen Deutsch-Kenntnisse war er in der Bundesrepublik stationiert, bei Bamberg. Schon Wilhelm II. soll gesagt haben: „Wer Vater und Mutter nicht ehrt, der kommt nach Grafenwoehr“, aber so sehr viel hatte es da für Andy-Maikl nicht zu ehren gegeben, immerhin besuchte ihn nun seine Stiefmutter, mit mir, der Andy buchstäblich aus der Sandkiste kannte. Diese Spielfläche befand sich im Grunewald neben der zurechtgeflickten Ruine, die mein Elternhaus war, und ich buk dort viele Sandkuchen. Wenn mein Vater die Törtchen vor seinem Mund herabrieseln ließ, soll ich unbarmherzig verlangt haben: „Musse richtig essen!“, wurde mir später erzählt. Wer sich meiner Traumwelt nicht anpasste, musste schon immer mit Zurechtweisungen rechnen. Ich selbst war dagegen beim Essen seit jeher etwas eigen.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Erika lud Andy und mich zum Abendessen in ein nettes Bamberger Lokal ein. Ich sah aus dem Fenster und fummelte dabei die für mich unschluckbaren Bissen der drei ‚kleinen Medaillons vom Kalb, Rind und Schwein‘ aus meinem Mund in meine rechte Hosentasche. Wikipedia glaubt, dass Medaillons „zum Kurzbraten aus sehnenarmen Muskelpartien geschnitten werden“, ich fand die Muskelpartien eher sehnenreich, aber Andy und  Erika unterhielten sich so angeregt, dass ihnen meine verstohlenen Griffe vom Gesicht unter den Tisch nicht auffielen. Die endgültige Entsorgung des ausgekauten Haschees fand über dem Klobecken statt, die Hose kam in Hamburg in die Reinigung. Weitere Erinnerungen an Bamberg habe ich nicht. Nicht von 1963.

23 Kommentare zu “#1.2 Zahnarzt-Torte

  1. Hahahahaha, die Entsorgung der Medaillons ist wunderbar! Wenn sich schlechter Wein nur ebenso leicht in die Hosentasche gießen lassen würde 🙂

  2. Und jetzt habe ich tatsächlich „zurechtgefickte Ruine“ gelesen. Aber das wäre wahrscheinlich ein anderer Beitrag…

    1. Oh dann lasse ich mich überraschen und schaue ob ich die Ruine in einem der kommenden Beiträge wiedererkenne.

    1. Na klar! Im ersten Beitrag „Schuld“, im zweiten „Sühne“ ab dem dritten dann Hintergrundinfo über Putin.

  3. Kirschtorte mit Steinen ist grausam, allerdings ähnlich grausam wie Kaffee mit Zucker oder Käsekuchen mit Rosinen.

    1. Je nachdem in welchem Örtchen man Kaffee und Kuchen zu sich nimmt, hat man das Gefühl die Kaffeehaus-Betreiber wollen einem das Leben so unangenehm wie möglich machen ehe auch nur ein Hauch von Gastfreundschaft durchschimmert.

  4. Die Zwischenstops, vor allem ungeplante, sind immer mein liebster Teil jeder Reise. So habe ich schon so manche Überraschung entdeckt und erlebt. Das Neue ist doch stets spannender, als das was man im voraus kennt und plant.

  5. Warum muss der es wissen? 1941 mühsam von Paris nach Zürich verbracht und dort gleich gestorben. Was „home“ ist und ob man dem huldigen oder entfliehen will, das ist eine Frage, die jeder für sich beantworten muss.

    1. Ok ok, dass Joyce es wissen „muss“ nehme ich zurück. Ich stimme ihm aber zu, dass Umwege meist wichtiger und prägender sind als Abkürzungen. Home steht in dem Satz für mich auch eher für ein Zu-sich-selbst-finden.

  6. Da gibts zu berichtigen dass ich erst nach den 3 US Army Jahren später in NY Staatsbürger wurde.
    Ich hatte mich für Europe unasigned freiwillig gemeldet und das bedeutete Deutschland und nicht Viet Nam.
    An den deinen netten Besuch kann ich mich aber leider garnicht erinnern. Die Bamberger Geschichte war mir damals auch entgangen. Nur ans Schlenkerle erinner ich mich. Und 16 Monate Grafenwöhr. Danke ..:-)

  7. Jedem sein „Enzian-Erlebnis“! Mein Grossvater, längst schon im hohen Pensionsalter, leitete nach dem Röhnheim in Bad Brückenau ein Sanatorium am Walchensee. Der Ort hatte neben einigen Häusern mit Fremdenzimmern, einem Sessellift auf den Herzogstand und zwei Restaurants am See auch vier Kioske für die durchfahrenden Touristen. Als Pensionskind in einer kinderreichen Familie in einer norddeutschen Stadt durfte ich den Jüngsten, in meinem damaligen Alter, 11 oder 12, in den Ferien mit zum Walchensee bringen. Zwei Knaben in der Frühpubertät sahen in den vier Kiosken eine Chance – vier anregende Tage mit Einzian! Denn natürlich gab es in den Kiosken immer nur die gleiche Marke. Eine leere Flasche war schnell mit Walchenseewasser gefüllt (damals einer der saubersten Seen) und am ersten Kiosk gegen eine mit Originalfüllung ausgetauscht. Der Trick gelang genau vier mal. Mein Kumpel hat bereits das Zeitliche gesegnet. Und für mich gilt: Verjährt! Aber natürlich schäme ich mich noch heute.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

15 − 3 =