Obwohl – oder weil? – ich Einzelkind war, waren meine Eltern nicht das, was man heute ‚Helikopter-Eltern‘ nennt. Ich durfte alles, und Überwachung per Smartphone gab es ja sowieso nicht. Mit fünf ging ich allein zur Schule, mit sechs allein ins Kino, beides über die vielbefahrene Koenigsallee; allein und gläubig ging ich in die Kirche, erst in Berlin, dann in Hamburg, bis ich zwanzig war: all die Fronleichnamsprozessionen! – ein bisschen fad, aber doch sehr ergreifend … Auf jede Party durfte ich gehen, ohne einen Hinweis, wann ich zurück zu sein habe. Dankenswerterweise fürchteten meine Eltern wohl mehr, dass ich ein Stubenhocker würde, als dass ich in der Welt Schiffbruch erlitte. So bin ich vom frühen bis ins hohe Alter sehr viel herumgekommen und nie unter die Räder.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Im September 1965 befanden sich meine Eltern zur Fangokur in Abano Terme. Nachträglich denke ich, es handelte sich dabei mehr um Prestige-Erwägungen als um verspannte Nerven; denn sonst hätte ja auch Bad Salzuflen gereicht; aber wer sich wohlfühlt, hat recht: Was hilft, hilft. Guntram wurde ohnehin auf jeder Urlaubsreise krank, Ferien bekamen ihm nicht. Da war es doch äußerst pfiffig, dort abzusteigen, wo die Ärzte bereits zum Hotelpersonal gehörten. Schon in Riccione hatten wir Angehörige einen Vormittag nicht am Strand, sondern vor dem Krankenhaus verbracht, erinnere ich mich deutlich. Drinnen ließ Guntram sich die Mandeln betrachten. Acht Jahre später kamen sie raus. Es wurde noch ein anderer Eingriff vorgenommen, der sich während der gründlichen Voruntersuchung als wünschenswert erwiesen hatte. Das stelle ich mir komisch vor: Man geht mit Halsbeschwerden in die Klinik und verlässt sie wieder ohne Mandeln und ohne Vorhaut. Jüdischer ist mein Vater nie geworden. Mir waren diese beiden Überflüssigkeiten in wesentlich jüngerem Alter entfernt worden. Meiner Mutter hat man stattdessen den Blinddarm und mich entnommen.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Irene war sehr erleichtert, als ihr Mann 1976 in Pension ging und keine Urlaube mehr anfielen, gestand sie mir in den Achtzigerjahren auf unserer Australien-Reise. Jedesmal war er unterwegs krank geworden. Am schlimmsten war der Urlaub 1971 auf Ischia gewesen. Sein kleiner Zeh tat so weh, dass er kaum vor die Tür wollte (spricht für Gicht). Irene unterhielt sich blendend mit einem Professor aus Tübingen. Hochgestochene Gespräche langweilten Guntram schnell: Palaver. Da kam der Zeh gerade recht, um ihn zu entschuldigen. Wir waren eine sehr kleine, aber sehr verschworene Familie. Unser Zusammenhalt wurde von keinem von uns dreien jemals infrage gestellt: Alle waren stolz auf jeden, und es vergeht immer noch keine Nacht, in der ich nicht von meinen Eltern träume. 1965 hatte ich die Schule beendet und das erste Jura-Semester hinter mir. Ferien. Was sollte ich ‚allein zu Haus‘? Viel sinnvoller war es, dass ich meinen Eltern nach Abano hinterherfuhr. Der Besuch des jungen Herrn. Ein Erdrutsch am Brenner unterbrach den Bahnverkehr, Guntram spendierte mir den Flug nach Venedig. Das Ticket holte ich mir bei seiner Sekretärin, Fräulein Knudsen, ab. So selbstständig, dass ich allein hätte buchen können, war ich natürlich noch nicht; damals wurde man erst mit 21 volljährig.
So sah ich zum ersten Mal Venedig, 179 Jahre nach Goethe, und schrieb, wie das so meine Art ist, gleich ein Gedicht. Die ersten drei Strophen lauten:
Licht geschattet lauem Schweigen,
Lüfte, Lüste, eint
Müdes Gilben, duftbeweint,
blumiges Verneigen.
Kaum getrennt dem laut bizarren,
grellen Pinselstrich;
moosenes Entwachen, Ich,
gläserne Gitarren.
Marmorne Vergänglichkeiten
Seufzen in ihr Dur –
Vielleicht ahnen jene Saiten
Moder der Kultur.
Wem an mehr liegt, der kann das ganze Gedicht im ‚Lesesaal‘ meines Blogs unter ‚Lyrik‘ weiterlesen. Anschließend an Abano fuhren wir nach Südtirol, und da lernte ich ‚Mary‘ kennen, zunächst nur auf einem Ausflug von der hundert Meter tiefer gelegenen Fahlburg aus, aber ich blieb ihr treu über den Tod hinaus (ihren).
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Im Mai des folgenden Jahres verschlug es mich also gleich wieder nach Italien, aber diesmal richtig: zu fast sämtlichen Goethe-Stationen und zusätzlich noch nach ‚Lipari‘. Wir reisten wie Goethe über die Schweiz an, aber nicht wie er in einer Kutsche über den Gotthard, sondern bequemer durch den bereits 1882 eröffneten Tunnel, und dann über Mailand und Genua nach Rom. Da kam mein Vater angeflogen, und zusammen fuhren wir nach Neapel, wo der Wagen mit dem Kran auf die Fähre gehievt wurde – optisch interessanter als Rafałs Rückwärtsfahrt in Dubrovnik: Reisen war früher nun mal abenteuerlicher als heute.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Wir verbrachten zwei Wochen in Taormina. Das Wasser war kalt, das Mittagsbuffet gut (besonders die Knoblauch-Mayonnaise zum Lachs), und ich schrieb das letzte meiner Werke, das ich nicht veröffentlicht sehen möchte. Lipari war Mist. Wir fuhren morgens hin und abends zurück, und auf der Insel gab es nur Lava und nicht mal was Gutes zu essen. Irene würde sagen: „Ich glaube, dort muss ich nicht wieder hin.“ Guntram hat auch nichts mir Bekanntes aufgrund von Lipari in die Wege geleitet, aber es liegt mir fern, seine vielen Versuche, Geld zu verdienen, lächerlich zu machen: Von seinem erfolgreichsten Projekt lebe ich, seit mein Erspartes aufgebraucht ist, mit meinen Lieben. Wenn ich nichts als meine Pension und meine Partituren hätte, dann säße ich jetzt als Opa Rinke im Altersheim, und ich denke lieber nicht darüber nach, wer von meinen Freunden mich dort besuchen käme.
Guntram flog von Neapel aus zurück nach Hamburg. Wir restlichen Vier studierten weiter Italien – mit und ohne Goethe. Ich war begeistert von Pompeji. Für Florenz hatte Goethe nichts übrig; ich schon. Die Toskana galt im 18. Jahrhundert wenig; erst die zivilisationsmüden Städter des ausgehenden 20. Jahrhunderts verschlug es zurück zu dieser Form von Natur und uns vier Pilger an Eindrücken satt zurück in die Bundesrepublik. Es hatte sich im Laufe der Reise eine gewisse Spannung aufgebaut. Schon beim ersten Mittagessen in Italien steckte sich Hartmut die Grissini vom Tisch in die Hosentasche und sagte: „Haben wir doch bezahlt!“ Dabei war Irene diejenige, die zahlte, und sie fand das peinlich. Ich auch. Als Hartmut vor Rom den Stadtplan auf der Kühlerhaube ausbreitete und ratlos nach dem Weg suchte, hielt ein Italiener an, um ihm zu helfen. „Hau ab!“, schrie Hartmut. Irene war entsetzt. „Es könnte ja ein Dieb gewesen sein“, verteidigte Erika ihren Sohn. „Das war ein Herr!“, entgegnete Irene würdevoll.
Foto: Svetlana Foote/Shutterstock
Hartmut bestellte sich bei Sabatini in Trastevere als Vorspeise Ravioli und als Hauptgericht Spagetti. „Zweimal Pasta, das macht man nicht“, versuchte Irene, erneut geniert, ihn von seiner Bestellung abzubringen. „Is’ mir doch egal“, ließ er meine Mutter wissen. Guntram wurde also gleich bei seinem Erscheinen eingeweiht, dass unsere Reisegefährten sich so betrügen, wie man das von Deutschen im Ausland erwartete. „Hartmut sieht nie das ganze Bauwerk, er achtet nur auf die Steine“, ereiferte sich Irene, „warum studiert der Architektur? Der sollte Maurer werden.“
In Taormina nahmen wir allabendlich unseren Aperitif auf der Promenade. Erika trug dann immer einen grauen Faltenrock, weiße Bluse und blauen Blazer. „Provinzgans“, sagte Guntram abschätzig. Er mochte Erika nicht besonders und kam gern auf ihre Vergangenheit als BDM-Führerin zu sprechen. Irene schätzte Erika vor allem wegen ihres ausgezeichneten Geschmacks, so dass Guntrams Urteil über Erikas Erscheinungsbild einen besonders sensiblen Punkt traf.
Fotos (4): Privatarchiv H. R.
Da wir schon dabei sind, beleuchte ich diese Freundschaft mal etwas zeitgeschichtlich relevanter, so wie sie mir geschildert wurde: 1948. Knapp vor der Währungsreform. Ich lernte Laufen. Meine Eltern lebten fürstlich. Es ging bei uns bescheiden zu, wie das in verantwortungsvollen Fürstenhäusern so Sitte ist. Aber Geld und Sparsamkeit sind nicht alles. Da musste es doch noch etwas geben jenseits der von Farnen überwucherten Ruinen im Grunewald und der Kohlenhalden im West-Hafen, sann Irena. Die von ihr mit einer gewissen Sehnsucht bewunderten Künstler wurden von meines Vaters bestem (Geschäfts-)Freund Werner Russ als ‚Schnorrer‘ und ‚Hungerleider‘ abgetan, was zugestandenermaßen die gängige Lebensform ist, wenn man nichts zu beißen hat, aber es gab doch mehr Künstler mit Biss, als Werner das aus seiner satten Sicht mitbekam. Das sollte auch Guntram durch seine Brut Hanno noch lernen müssen, wenn ich meine Mutter in den Achtzigerjahren mit einem Künstlervölkchen bekannt machen würde, das es mit ihm finanziell spielend aufnehmen konnte.
Werner ließ sich vom Personal mit ‚Gnädiger Herr‘ anreden und sammelte Autombilclub-Plaketten für den Kühler seines Angeberwagens. Gleichzeitig soll er sehr ‚charmant und amüsant‘ gewesen sein, erinnerte sich Irene gern, – zwei Eigenschaften, die unter Berlins Kohlenhändlern eher rar waren. Das jedoch befriedigte Werners lebenslustige Frau Lygia, die mit einem für mich riesigen, braunen Königspudel nachmittags zu uns in den Grunewald kam, noch nicht so ganz. Sie war weit mehr Polin als Irena, war in genauso bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen wie Irena und erteilte Irene beim Tässchen Tee und Kranzkuchen gern Auskunft über ihren amourösen Tagesablauf, ungefragt, aber auf gut Deutsch.
„Hören Sie, Lygia, ich finde das nicht richtig, was Sie da mit Werner machen“, sagte meine Mutter, dass sie es gesagt habe. Aber gerade mit Werner machte Lygia wohl noch am wenigsten. Herr Schmidt-Buchner, der, glaube ich, Teppiche verkaufte, wurde telefonisch auch täglich in die Erotismen eingeweiht, und so gab es da wohl einen regen Telefonverkehr, der zwischen Heuchelei, Empörung und Genuss schwankte. Herrn Schmidt-Buchners Beruf kam Werner durchaus entgegen, denn als Werners Tochter aus einer noch früheren Ehe eines Tages einen Perser zum Freund nahm, ließ er sie barsch wissen: „Perser heiratet man nicht, auf Perser tritt man.“
Doch ging es bei solchen Tee-Gesprächen nicht bloß um Techtelmechtel. Lygia sagte voraus, dass sie bald aus der Uhlandstraße fort, in ein großes Haus ziehen würde (womit sie recht behalten sollte), dass es dort eine Freitreppe geben müsste, und sie würde da nur noch in langen, wallenden Gewändern herumlaufen, wenn sie tagsüber Besucher empfinge. Abends käme dann eben Werner. Spätestens an dieser Stelle ging ihre Prognose in die Irre. Als Guntram, mein Vater, diskret versuchte, Werner, seinem Freund, einen sanften Hinweis auf das temperamentgeprägte Leben seiner Gattin zu vermitteln, handelte er sich eine harsche Abfuhr wegen böswilligen Klatsches ein. Aber – wenig später rief der Hausarzt bei Werner im Büro an und erkundigte sich bei ihm, ob er Lust hätte, seine Frau in flagranti zu erleben. Werner fuhr neugierig heim in die Uhlandstraße, da hatte jemand auf Lygia einen Herzanfall erlitten. Nix da mit wallenden Gewändern: Scheidung. Lygia wanderte aus: allein in die USA, nach St. Louis. Sie soll dort ein großes Haus eröffnet haben. Es gab also durchaus schon Anfang der Fünfzigerjahre des verronnenen Jahrhunderts die Selbstverwirklichung der Frau, sogar dann, wenn sie nicht unbedingt töpfern wollte.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Als Vorspeise Ravioli, als Hauptgericht Spaghetti – das erinnert mich an meine eigenen Urlaube in Perugia. Lange ist’s her und Gott sei dank haben wir uns wohl alle ein wenig weiterentwickelt. Die Zeit der deutschen Geschmacksbanausen und der Töpferkurse ist in größten Teilen überstanden. Vielen Dank Herr Rinke, dieser Abstecher in vergangene Zeiten hat mich wirklich zum Schmunzeln gebracht.
Konnte man denn damals ohne Geld und Arbeit einfach so in die USA auswandern –
zumal als Frau, ohne Job und Vermögen? Zu jener Zeit gab es in Deutschland doch
auch noch die Schuldfrage bei einer Scheidung – oder hatte die Dame auch
Beziehungen zu Robenträgern?
Lygia ging nach Wiesbaden. 1958 in die USA. Kein ‚grosses Haus‘. Später nach Alaska und in die Philippinen.
Verstarb 92 jährig in Rosenheim.
@Rita Reinshagen
Die ‚Robenträger‘ waren damals Amerikanische Offiziere. Ein solcher wurde Lygias Bürge.