D I E N Ä C H S T E S T A T I O N
Der flache Kopf schiebt sich an mir vorbei.
Die Wagen gleiten langsam, ruhig.
Bewegung pendelt aus.
Der Zug ächzt,
hält.
Ich schiebe mich ins Innere,
ein Platz wird frei,
ich setze mich.
Ein arbeitsvoller Tag liegt hinter mir.
Türhälften klatschen zusammen.
Ein Ruck –
es fährt mich, summt
der Vorstadt zu.
Ich sehe aus dem Fenster:
trübseliges Grau, rußige Häuser,
schwarzer Backstein,
belanglos qualmende Röhren,
rostiges Eisen,
ein paar Signale:
rot – grün,
Bäume huschen vorüber,
fahle Laternen,
schon fort.
Dunkelheit bleibt.
Der Zug hält an.
Die Menschen des Bahnsteigs mischen sich hier
mit den Menschen im Wagen,
sie wechseln kaum ihr Gesicht.
Mir gegenüber ein Mädchen.
Daneben das Draußen,
die gähnenden Straßen;
stählerne Gleise,
Mauern, Fabriken
fliegen vorbei.
Blinkende Schrift:
an – aus,
rot – grün,
Schornsteine ragen.
Autos, nur zwei runde Lichter,
sie bleiben länger,
nehmen den Kampf auf,
fallen zurück.
Sträucher,
schmutzig in der Dämmerung,
struppige Zweige, schändlich verwahrlost –
ungekämmte Fassaden:
Sie sieht es auch. –
Oder sie starrt ins Leere.
Unsere Blicke kreuzen sich,
stocken.
Sie nimmt mich wahr.
Wieder ein Bahnhof.
Ich wende den Kopf,
ich lese Namen, Plakate.
Signalton – wir fahren.
In matter Scheibe schimmert ihr Gesicht,
schiebt sich vor schemenhafte Brücken, blickt
klar aus Gerümpel;
Staub und Schutt verschwinden,
zergehen hinter ihr.
Die kahlen Blöcke scheinen fern,
drücken nicht mehr;
Menschen, die sie bewohnen, fremd.
Wir rollen in die Halle, stehen.
Der Zug verschnauft.
Die Leute hasten stumm.
Neue Bewegung.
Es beginnt zu nieseln.
Der Bahnhof schwindet hinter einer Kurve.
Eilig beschlägt das Fenster,
schirmt das Drinnen.
Die Augen wandern scheu den Gang entlang:
Bleiche Gesichter, selten reden Paare,
die meisten schal und ohne Regung,
dösend in sich hineingekauert,
wie an die Wand geklebt.
Aktentaschen dienen als Vorwand,
Ausrede für zahnlose Stumpfheit.
Manche lesen,
sie verstecken sich hinter der Zeitung.
Gelangweiltes Halblicht; schläfrige Beleuchtung
begünstigt die Trägheit:
nein!
Mir gegenüber das Mädchen,
sie wirkt lebendig,
sie beobachtet wach.
Ich blicke zu Boden:
Sand, Spuren und Kratzer,
Papier.
Gut sieht sie aus.
Es sind die Augen:
so groß und so klar.
Die Haare verweht,
das Gesicht konzentriert;
der Mund ernst, gelassen,
die Lippen weich und blass,
ruhige Hände,
locker gefaltet,
entspannt.
Die Bahn hält irgendwo.
Nebel hängt an den Fenstern,
doch Helligkeit flutet herein.
Schirme wippen vorüber.
Die Uhr taucht unter im Grau.
Der Zug federt über die Gleise,
er schaukelt in jeder Biegung,
einige Bänke – jetzt leer.
Ich hätte Lust, mit ihr zu reden.
Vielleicht verstünde sie mich.
Zuhören würde sie sicher;
sie würde antworten, fragen,
und ich, ich antwortete ihr,
Spaziergänge machen,
lachen und sagen
nicht „du“ oder „ich“, sondern „wir“.
Der Zug quietscht,
er hält.
Gleich drängen die Menschen sich mürrisch davon,
ungeduldig: Wer wartet, verliert.
Kälte schleicht fröstelnd herein.
Fast alle sind ausgestiegen.
Sehr gut.
Ich zucke zusammen.
Verdammt, das war doch … –
Die Bahn fährt an,
weht summend über die Schienen.
Ich seufze, blicke verwirrt zu ihr hin,
dann öffnet sich meine Stimme
erstaunt, fast erschrocken klingt sie und sagt:
„Hier hätte ich aussteigen müssen.“
Sie lächelt kaum merklich:
„Ich auch.“
(1966)
1966 hörte ich auf, Jura zu studieren, schrieb zwei Sonaten, ein Orchesterstück, viele Chansons und dauernd Gedichte. Vorher war ich jeden Tag mit der S-Bahn zur Uni gefahren.
Foto: alice-photo/shutterstock
Ich bin sicher schon zwanzig Jahre keinen Zug mehr gefahren, aber die Situation erinnert mich an eine Zugfahrt mit meinen Eltern von Frankfurt nach Frankreich. Ich war vor lauter Landschaft eingeschlafen, meine Mutter las ernergisch eine Zeitschrift und mein Vater war im Gespräch mit anderen Passagieren im Zug vertieft. Wir hatten glatt unseren Stop um mehr als eine halbe Stunde verpasst, was unsere Anreise um 12 Stunden verlängerte. Ich glaube das war unser letzter Urlaub mit der Bahn.
Ich wünschte, das könnte ich von mir auch sagen. Ich fahre beruflich leider viel öfters Bahn als mir lieb ist. Verspätungen, Zugausfälle und unfreundliches Personal inklusive. Bei dem Unternehmen trifft Servicewüste in der Tat zu.
Erst gestern hatte ich einen dieser magischen Momente, bei dem sich mein Blick mit einem hübschen, jungen Mann streifte. Er hörte Musik und lächelte so charmant. Zu gern hätte ich ihn angesprochen, jedoch fehlte mir der Mut hierzu. Ich bewundere Menschen, die keine Scheu haben Unbekannte anzusprechen. Mir fehlen hierfür immer die richtigen Worte.
Ich verstehe voll und ganz was Sie meinen, aber die „richtigen“ Worte gibt es gar nicht. Wenn man jemanden ansprechen möchte, sagt man am besten einfach was man denkt.
Einfacher gesagt als getan.
Die Menschen, die ich mich nicht getraut habe anzusprechen,
füllen einen U-Bahnwagen.
Da würde ich sogar auf eine ganze Bahn erhöhen…
Dass Sie neben all Ihren anderen Talenten und Aktivitäten auch noch Jura studiert haben, fasziniert mich am meisten.
Eine Sonate auch noch? Fehlende Schaffenskraft kann man Ihnen tatsächlich nicht vorwerfen.
Wenn es Sie wirklich interessiert: In der Rublik „Hörsaal“ ganz oben unter meinem Namen im Blog finden Sie Beispiele dafür, wie ich damals komponiert habe.
Aufgrund einer jungen Frau (oder eines jungen Mannes) habe ich noch nie meine Haltestelle verpasst. Eher weil ich nach der Arbeit dösend vorbeigefahren bin. Haha.
Heute übernimmt die Rolle der jungen Dame ja eher das Handy 😉
Man flirtet neuerdings mit seinem Handy? So hab ich das noch nicht gesehen.
Zumindest schaut man statt auf sein Gegenüber eher auf den Bildschirm. Da hat wahrscheinlich schon der ein oder andere eine spannende Begegnung verpasst.
Oder dank Tinder/Grindr die ein oder anderer spannende Nacht klar gemacht. LOL
Die meisten Bahnfahrten sind so langweilig, da würde ich mich über eine derartige Begegnung sehr freuen.
Ich hab schon mehrfach interessante Menschen im Flieger kennengelernt. Vielleicht hilft da aber auch der Umstand, dass man da och mehr als in der Bahn für mehrere Stunden eingesperrt nebeneinander sitzt.
Jeder ist anders, manchen fällt es leicht neue Bekanntschaften zu machen, anderen nicht. Ich persönlich denke immer, dass man relativ leicht Kontakte knüpfen kann wenn man wirklich will.
Wie anders sähe mein Leben aus, hätte ich zu meiner Studienzeit bereits Sonaten, Orchesterwerke, Gedichte und Lieder geschrieben. Die Liebe zur Kunst habe ich leider viel zu spät entdeckt. Zu spät um mich vor40 Jahren Schreibtisch zu bewaren.
Besser spät als nie, oder nicht?
Sicherlich wahr. Der Traum von einer Karriere, die ein bischen mehr mit Kreativität und Kunst zu tun hat, bleibt.
Ich sage immer: bereuen muss man vorher, nachher nutzt es nicht mehr. Mit dieser (ironischen) Maxime lüge ich mir meine Vergangenheit schön und habe mir fest vorgenommen, es mit der Zukunft genauso zu halten. Unter „Schön“ verstehe ich nicht hübsch, sondern erzählenswert.
Hahaha, ein ziemlich gutes Lebensmotto würde ich sagen 🙂