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0606
Tänzer außer der Reihe

Dialog 29: Im Krankenhaus

EIN LANGER WEG

(Der Kranke: K; der Gesunde: G)

K: Nun sag doch was!

G: Ich ... Ich kann einfach nicht. O Gott, ich ... Verzeih’ mir! – Jetzt heul’ ich dir auch noch was vor.

K: Ich hab’ die ganze Nacht durchgeheult trotz der Beruhigungsmittel. Ich hab’ also auch da einen Vorsprung.

G: Sie hätten es dir nicht sagen dürfen.

K: Ich hab’ es rausgequetscht aus ihnen. Doktor Sebald – als er merkte, dass ich es wusste, gab er es zu.

G: Was gab er zur?

K: Dass die Chancen minimal sind.

G: Also gibt es Chancen?

K: Mein Gott, dieses kleine Türchen lassen sie sich und ihren Patienten natürlich offen. – Lazarus roch schon und wurde geheilt.

G: Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!

K: Du wirst mir helfen müssen, damit ich meine wenige Zeit nicht mit dieser beunruhigenden Hoffnung vergeude.

G: Wie willst du sie denn dann verbringen?

K: Verantwortungsvoll und bewusst. – Das klingt würdevoll leer und langweilig, ich weiß. Aber so mein’ ich das nicht. Wenn ich will, kann ich jetzt sogar wieder losziehen und rumficken. Mein Krebs steckt niemanden an. – Vielleicht ist es sowieso gut, wenn ich Dinge tue, die dich ärgern, damit du froh bist, wenn ich tot bin.

G: Hör auf, so zu reden! Ich ertrag’ das nicht.

K: Du erträgst das nicht?

G: Mein Gott, kann ich denn nichts sagen, ohne …

K: Nein, es hat jetzt alles eine doppelte Bedeutung. Unser Leben wird transparent sein. Aber deins wird wieder zuwachsen.

G: Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle.

K: Lass das doch! Furchtbar. Du meinst es auch noch ernst.

G: Natürlich mein’ ich es ernst.

K: Wir haben Krankheiten immer verachtet.

G: Nein.

K: Doch, doch! Ein Betriebsunfall, der nicht passieren darf. Wer krank ist, ist gezeichnet, schmutzig, ausgestoßen.

G: So habe ich das nicht gesehen.

K: Aber natürlich hast du es so gesehen. Wir haben es beide so gesehen. Also, ich sprech jetzt nicht von Heiserkeit, sondern von – zum Beispiel: Leukämie.

G: Oh, hör auf!

K: Was ist? Klingt das nicht hübsch? Ich hätte sogar meine Tochter so nennen mögen: Leukämie Gladewitz – das hört sich doch wirklich gut an. Blutkrebs dagegen – das macht mir Angst.

G: O Gott, ich liebe dich so! Ich liebe dich so!

K: Wein ruhig! Ich habe wirklich nichts davon, dass du es dir verkneifst.

G: Ich weine nicht, weil ich unglücklich bin. Ich bin überhaupt nicht unglücklich. Ich bin nie unglücklich, wenn ich bei dir bin. Ich bin nur so … traurig.

K: Ich auch.

G: Ich bin losgezogen gestern Abend. Seit langer Zeit zum ersten Mal.

K: Ja, das Fernsehprogramm hier an der Wand war wirklich mies, ich hab’ auch lieber gelesen.

G: Ich war im ‚Boots‘.

K: Warum erzählst du mir das?

G: Weil ich muss.

K: Ich muss es aber nicht hören.

G: Ich war sogar im Fummelraum. Mir war alles egal. Vielleicht war es ein Selbstmordversuch.

K: Nichts war dir egal. Du wolltest berührt werden. Du wolltest dich befreien von mir.

G: Nein. Ganz bestimmt nicht.

K: Doch! Gott sei Dank. Ich bin sogar froh darüber. Es macht mir was aus, aber ich bin froh drüber, na ja, ‚froh‘, aber ich find’s richtig oder jedenfalls ...

G: Nein, ich hätt’s nicht sagen sollen, das war ganz egoistisch, tut mir leid! Weißt du, es ist alles so …

K: Doch, doch. Komisch, ich hätt’s selber nicht geglaubt, aber das ist genau die Ehrlichkeit, die ich aushalten kann, die brauch’ ich sogar. Aber wenn dir die Ärzte erzählen, es geht zu Ende mit mir, dann lüg mir was vor! Ich hasse die Hoffnung, aber sie hilft so wunderbar beim Atmen.

G: Jetzt schäm’ ich mich noch mehr, und ich weiß trotzdem, ich würd’ es wieder tun, und du würdest es wieder verstehen.

K: Schäm dich doch nicht, nicht meinetwegen! Zurückbleiben ist schwerer, aber es bietet mehr.

G: Oh, hör auf!

K: Ach, mach uns doch nichts vor, wir sind uns viel zu ähnlich. Andere heulen so, wir heulen so. Andere weinen das Kissen nass, wir die Hose. Glaubst du, ich kann mir nicht auch was vorstellen bei manchen Pflegern? Lange genug lieg’ ich hier ja rum. Allein. Allein, um Fantasien zu haben.

G: Das gestern war nur, weil ...

K: Weil du ein paar Minuten lang den Schmerz vergessen wolltest und weil irgendwas in dir beweisen wollte, dass es noch lebt. So, und eine andere Erklärung will ich nicht hören.

G: Du bist so stark, seit du krank bist. Es ist gut zu wissen, dass krank sein so stark macht.

K: Krank sein macht schwach. Sterben macht stark.

G: Es gibt doch so viele Menschen, die allein sind, die gern tot wären …

K: Ich glaube, jetzt versuchst du, über Gerechtigkeit zu sprechen.

G: Über Barmherzigkeit.

K: Irgendwas an mir ist vielleicht schon abgeschlossen, was sich bei dir noch weiterentwickeln muss. – Es lässt sich in alles ein Sinn hineinkonstruieren, davon leben die Kirchen. Und das mein’ ich nicht zynisch. Ich will nicht mal ausschließen, dass ich um die letzte Ölung bitten werde, wenn es so weit ist. Irgendwie muss man ja rüberglitschen. Vielleicht wär’ ein anderes Gleitmittel passender für mich, aber wenn man hier so liegt, dann kommt man eines Tages drauf, dass man die Grenze vielleicht doch lieber in Christo als in Crisco überschreiten sollte.

G: Gleiten, gleiten. Ich werde mich neben dich legen, wenn es zu Ende geht. Ich werde einfach aufhören zu leben.

K: Du denkst vielleicht, ich würde jetzt sagen: um Gottes willen, nein! Aber ich sag’ es nicht. Im Gegenteil, es ist ein schöner Gedanke für mich: Wir liegen nebeneinander, wie immer, wie beim Fernsehen, wir sehen nur etwas weiter. Aber ich glaube dir nicht. Wir werden uns beide gewöhnen an meinen Tod. Ich werde lernen zu sterben, und du wirst lernen zu leben.

G: Ich bin doch nur durch dich stark.

K: Siehst du, daran liegt es vielleicht. Vielleicht wirst du jetzt lernen, auch ohne mich stark zu sein.

G: Du siehst so schön aus.

K: Du magst eben das Zerbrechliche. Meistens hast du es ja auch zerbrochen. Es ist wirklich verrückt, dass jetzt gerade das kaputtgeht, was du am vorsichtigsten behandelt hast.

G: Warum willst du mich verletzen?

K: Ich weiß es nicht genau. Ich will dich wohl abhärten. Ich will nicht, dass du –

G: O Gott – wie ich dich liebe!

K: Es ist ja noch Zeit.

G: Ja, bald bist du wieder zu Hause. Wir werden wieder miteinander schlafen, ich meine zusammen, im selben Bett. Zusammen schlafen ist ein bisschen wie zusammen tot sein.

K: Aber ich werde allein tot sein. Das unbekümmerte „Ich lebe!“ wird es nie wieder geben.

G: Aber vielleicht das noch unbekümmertere „Ich lebe noch!“

K: Du bist sehr tapfer. Ich gebe zu, ich hatte Angst, du würdest es mir schwer machen.

G: Ich möchte so gern tapfer sein. Und ich möchte hoffen.

K: Hoff nicht! Das quält nur. – Seit ich es weiß, ist es etwas besser. Jetzt hab’ ich nicht mehr Angst vorm Sterben. Jetzt hab’ ich Angst vorm Totsein. Vor dem Zustand ohne dich.

G: Es ist eine so grässliche Verschwendung. Wir sind doch glücklich. Es ist reine Energieverschwendung, das zu zerstören.

K: Aber wer will denn sparen? Die Natur verfügt über ein unbegrenztes Budget. Wenn nicht in unserer Milchstraße, dann in einer anderen.

G: Uns nutzen diese Milchstraßen nichts.

K: Nein, gar nichts. Ich komme mir vor, als sei ich beim Völkerball getroffen worden und muss ausscheiden. Es hat wirklich was Beschämendes.

G: Und mit Bluttransfusionen? Ich meine, kann man nichts machen? Gar nichts?

K: Ich fürchte, sie werden mehr machen, als du dir ausdenken kannst und als mir lieb ist.

G: Musst du hierbleiben?

K: Zunächst nicht.

G: Wie lange … Wie lange wird es noch sein?

K: Ungefähr ein halbes Jahr.

G: Das ist doch … Das ist doch eine ganze Menge.

K: Bitte fang erst dann an, mich zu belügen, wenn es gar nicht mehr anders geht!

G: Ich werde dich nicht belügen.

K: Sicher wirst du das. Nur bitte jetzt noch nicht.

G: Aber nein.

K: Ich habe das Entsetzen in deinem Blick gesehen: über das halbe Jahr. Also sag nicht, dass du das viel findest!

G: Ein halbes Jahr ist nichts.

K: Das ist nun übertrieben. Es ist ein halbes Jahr länger als heute. Du weißt, schwule Ehen zählen wie Hundejahre: mal sieben. Das heißt, wir hatten schon achtundneunzig Jahre und bekommen noch dreieinhalb dazu. Das ist keine schlechte Bilanz.

G: Wir sind nicht wie Hunde. Wir haben keine Hundeliebschaft geführt.

K: Haben wir schon. Unsere Treue hat sich nicht im Schwanz abgespielt, sondern im Kopf, also da, wo Treue hingehört.

G: Nein, so seh’ ich das nicht.

K: Jaja, in letzter Zeit waren wir ruhiger. Aber wenn ich seit unserem allerersten gemeinsamen Tag keinen Mann mehr gehabt hätte, dann würd’ ich jetzt, glaub’ ich, einen ziemlichen Nachholbedarf entwickeln.

G: Ausgerechnet jetzt?

K: Ja, wann denn? Wenn ich tot bin? – Ich zähl’ ja nicht mal sieben wegen der Brüchigkeit von schwulen Beziehungen, sondern wegen der Intensität.

G: Wir haben keine ‚schwule Beziehung‘.

K: Sondern? Eine geschäftliche oder eine pflanzliche?

G: Du weißt, wie ich es meine.

K: Ich hoffe, nicht. Sonst müsste ich glauben, dass du mir sagen willst, schwule Beziehungen sind Dreck, aber unsere ist die Ausnahme und göttlich.

G: Unsere ist die Ausnahme. Und das lass’ ich mir nicht kaputtmachen, nicht mal von dir.

K: Die Ausnahme, weil wir so sind, wie wir sind, gerade auch als Schwule, sonst gäbe es doch die Beziehung gar nicht.

G: Nein, sonst gäbe es sie nicht.

K: Du denkst, es wird sie sowieso bald nicht mehr geben?

G: Es wird sie immer geben.

K: Wenn niemand sich mehr an sie erinnert? Weil niemand mehr lebt, der sich erinnern könnte?

G: Dann war alles nichts?

K: Bis gestern doch. Ab heute nicht mehr.

G: Ob wir uns wiedersehen?

K: Wahrscheinlich … Wahrscheinlich nicht. Das ist das Furchtbarste. Ich hätte dir so viel zu erzählen, was ich jetzt noch nicht weiß. So viel zu erleben mit dir, zu teilen, zu geben – zu nehmen.

G: Mein Leben ist genauso vorbei wie deins.

K: Am liebsten würd’ ich in mein Testament schreiben, dass du ausgehen musst an dem Tag. Ja, ich will, dass du feierst. Dass ihr anstoßt und sagt: „Gott sei Dank, wir leben noch. Schwein gehabt! Es hat einen anderen erwischt.“

G: Wer ‚ihr‘?

K: Ihr Lebenden. – Vielleicht sollte ich nur noch unter meinesgleichen leben, bis zu meinem Tod. Das wäre vielleicht gesünder.

G: Gesünder?

K: Nicht heilsamer – gesünder. Nur unter Kranken. Unter schwulen Kranken. Unter kranken Schwulen.

G: Bist du verrückt geworden?

K: Ja. Natürlich bin ich ver-rückt geworden. Denkst du, ich kann noch an derselben Stelle sein wie gestern Morgen?

G: Entschuldige, entschuldige, es tut mir leid!

K: Es wird dir die ganze Zeit leidtun. Erzähl mir möglichst wenig darüber!

G: Nicht streiten! Lass uns weiter glücklich sein, bitte!

K: Lass es weiter Sommer bleiben! Lass es Kaviar regnen! Reg dich nicht auf! Für dich kommt der nächste Sommer und der nächste Kaviar.

G: Ich kann Kaviar nicht ausstehen.

K: Ich möchte, dass du ein Kilo Kaviar kaufst und vor meinen Augen weglöffelst.

G: Warum?

K: Ich möchte dich leben sehen. Ich möchte dich leiden sehen. Ich möchte sehen, wie du dich ekelst. Und ich fände es auch beruhigend zu sehen, dass du anfängst, mich zu hassen. Ich möchte unsere Beziehung zerstören. Ich habe keine Lust, das dem Tod zu überlassen.

G: Ich werde das aber nicht zulassen.

K: Nicht mal das willst du mir gönnen?

G: Nein. Eher bring ich dich um!

K: Ein raffinierter Schachzug. Aber ich bin nicht mehr verwundbar. – Ich glaube, wir haben uns zu sehr geschont, ich meine: jeder sich. Das ist das Einzige, was ich jetzt bereue. Du weißt ja, wie hypochondrisch ich bin. Aber ich hab’ immer gedacht: Ich darf noch nicht sterben. Ich muss noch die Welt erobern. – Jetzt kann ich mich ruhig ruinieren.

G: Wollen wir nicht aufhören, so zu reden?

K: Wollen wir lieber aufstehen, uns anziehen, einen kleinen Gang machen und brav ein Löffelchen Erinnerungen schlucken?

G: Ich geh’ jetzt. Wann kann ich dich abholen?

K: Warte! – Warte! Es tut mir leid.

G: Ich weiß.

K: Es ist komisch: ein paar Fleischstücke, ein paar Knochen, Wasser, Blut, Plasma. Aber es funktioniert. Eine Zentrale für Glück und Trauer. Liebe, Hass. – Und dann funktioniert es eben nicht mehr. – Es war schön. Es war doch schön. Es musste ja enden. Es war ja klar, dass es enden musste. Gut, dass wir es nicht gleich bedacht haben, obwohl wir es doch von Anfang an wussten. – Hätte es denn immer so weitergehen sollen? Immer weiter? Bis in alle Ewigkeit?

G: Ja! Ja. Ja. Ja.

K: Das wäre doch langweilig geworden.

G: Nein.

K: Nein. – Aber du wirst wieder glücklich sein.

G: Das will ich gar nicht.

K: Ich weiß auch nicht, ob ich will, dass du wieder glücklich wirst.

G: Ich war nie glücklich, wenn es dir schlecht ging. Wenn es mir gut geht, dann bin ich nicht unbedingt glücklich, aber wenn es dir schlecht geht, dann bin ich ganz bestimmt unglücklich.

K: Du wirst es ja sehen. – Und ich? Ich war ganz tüchtig. Gut zu gebrauchen, im Bett und in der Küche. Ich hab’ manchmal für wohltätige Zwecke gespendet, oft Bettlern was gegeben und nicht schlecht über meine Sexpartner geredet, jedenfalls nicht namentlich. Ob das ausreicht? Ich werde doch wohl hoffentlich in den Himmel kommen, obwohl ich nicht als Pfleger nach Afrika gegangen bin. Sonst wäre der Himmel ja leer. Gut, dass ich nicht nach Afrika gegangen bin.

G: Jetzt sei doch nicht so schrecklich gefasst! Ich halt’ das nicht aus!

K: Du hast Emotionen, ich hab’ Valium. Merkst du, wie wir uns schon voneinander entfernen? Ist das nicht grausam?

G: Ja, das ist so grausam. Das macht alles zunichte.

K: Nein, das tut es nicht. Wir werden ja nicht nachträglich unglücklich, da, wo wir glücklich waren.

G: Vielleicht doch. Vielleicht läuft das alles ja gar nicht chronologisch, sondern in Spiralen. Ich habe am Wochenende einen Artikel gelesen, darüber, dass es eine Dimension geben soll, die …

K: Nun versuch nicht, unterhaltsam zu sein, das hast du doch noch nie gekonnt!

G: Aber ich dachte –

K: Du glaubst den Quatsch doch nicht!

G: Bisher nicht …

K: Dann fang jetzt auch nicht an! Lass uns überlegen, was wir noch machen wollen! Ich will alles tun, was ich früher nicht gemacht habe. Ich will Cognac zum Frühstück, und ich will –

G: Davon wird dir schlecht.

K: Ja, du hast recht, ich muss mir was anderes überlegen. Ich habe schon darüber nachgedacht, ob es sinnvoll wäre, unsere schönsten Reisen nochmal zu machen. Ganz ohne ärztliche Betreuung. Einfach solange es geht. Aber ich glaube, das bringt nichts. Es ist alles in uns. Die Kulissen wiederzusehen wäre bloß deprimierend.

G: Ich mache, was du willst. Ich nehme Urlaub. So lange, bis … Bis du mich nicht mehr brauchst.

K: Ich möchte weder qualvoll sterben noch entstellt. Und wenn ich tot bin, möchte ich sofort unsichtbar werden. Es wäre mir nicht recht, wenn du meine Leiche beobachtest, hörst du? So, wie ich dich immer beobachtet habe, wenn du dich schlafend gestellt hast, bis du grinsen musstest …

G: Ja, wein ruhig! Wein dich aus! Es wird auch schön sein, traurig mit dir zu sein. Es wird immer schön sein, bis zur letzten Minute.

K: Und wenn du … Wenn du wirklich geschlafen hast, dann sahst du ganz anders aus. Viel entspannter. Und ich dachte: So wirst du aussehen, wenn du tot bist. Werde ich diesen Anblick … Werde ich diesen Anblick ertragen können, habe ich gedacht? O Gott …

G: Sei ruhig! Ich werde da sein. Du wirst nicht allein sein.

K: Aber du. Ich komme mir so schäbig vor, einfach zu gehen. Da bin ich zum Psychiater gerannt wegen psychosomatischer Störungen. Und dann ist es …

G: Wir werden noch eine wundervolle Zeit haben. Ich verspreche es dir.

K: Ja, bestimmt. Und wenn ich weine, dann weißt du, dass ich glücklich bin. Dass da etwas ist, das schwerfällt zurückzulassen.

G: Ja. Aber ich werde es bewahren für dich.

K: Der Tod wächst in mir wie ein Kind. Ich werde ihn größer werden und strampeln spüren. Aber es wird nur mein Kind sein. Nicht deins.

G: Ich werde bis zum Schluss immer bei dir sein, wenn du es willst. Das ist doch auch ein tröstlicher Gedanke, nicht? So viele Menschen sind weit weg von denen, die sie lieben, wenn sie denken, dass ihr Ende kommt.

K: Ja. Und dann werde ich aufgenommen in die Gemeinschaft der Toten. Sie ist viel größer als die Gemeinschaft der Lebenden. Viel größer. – Soll ich jemanden von dir grüßen?

G: Du weißt, wen ich mag. Wen ich gemocht habe. – Ich wüsste auch gern, ob Cäsar sexy war. Und Maria Stuart, ob ihr Kopf wieder dran ist. Und Napoleon …

K: Es wird zu viel. Du musst mir eine Liste machen. Ich werde sie auswendig lernen.

G: Ich freu’ mich so, dass du wieder nach Hause kommst.

K: Und für so viele Tage.

G: So viele Stunden.

K: Lass uns ruhig sprechen vom Tod! Wenn man ein Thema auslassen will, fällt einem nur noch zu diesem Thema was ein … Ich möchte nicht, dass wir befangen oder geziert miteinander sind. Hörst du, das ist wichtig! Lass uns über alles reden, auch über den Tod! Aber lass und nicht fluchen über ihn! Das hat der Tod nicht verdient. Das Leben ist ungerecht. Der Tod ist so gerecht. Er nimmt alle und stößt niemanden weg, niemanden. – Wenn es sehr schlimm werden sollte, wirst du mir helfen?

G: Ich werde tun, was in meiner Macht steht.

K: Du weißt, was ich meine?

G: Ja.

K: Ich kann es nicht verlangen von dir …

G: Es ist noch nicht so weit. Bis dahin werde ich stark genug sein zu tun, was für dich gut ist.

K: Du redest wie ein Politiker vor der Kamera: entschlossen und nichtssagend.

G: Ich muss los jetzt. Die Geschäfte schließen.

K: Mein Gott ja, Geschäfte gibt es auch noch. Und der Ladenschluss wird mich überleben.

G: Was möchtest du essen morgen, wenn du wieder zu Hause bist?

K: Lohnt es sich noch, was Teures zu machen?

G: Komm!

K: Ich möchte irgendetwas, wo ich das Fleisch schmecke. Wenn ich es zerschneide auf dem Teller, soll es bluten. Lammkoteletts vielleicht. Das hat so was Animalisches. Und mit viel Knoblauch. Und grüne Bohnen, aber nimm die französischen, die schmalen ohne Fäden! Ich werde übrigens kochen. Du hast mehr Talent zum Essen. – Und für den Fall, dass es uns im Halse stecken bleiben sollte: Sieh nach, ob noch genügend Rotwein da ist … Ach, und noch was – nimm richtige Taschentücher!

G: Was?

K: Du sollst endlich mal die Taschentücher aus Stoff rausholen! Nicht immer die Papiertaschentücher aus dem Badezimmerschrank. Tränen sind kein Schnupfen, sie sind kostbar, denn sie haben einen langen Weg.

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ERLÄUTERUNGEN

Liebe schafft Glück. Glück schafft Liebe.
Glauben Sie das etwa?

Wer im vorigen Jahrhundert hat in Deutschland mehr Menschen glücklich gemacht als Hitler? Wer hat mehr Menschen so rasend begeistert und zu so glühenden Verehrern gemacht wie er? – Wenige sicher. Seine Ideen, Aufmärsche, Reden haben ein inniges Volks-‚Bewusstsein‘ geschaffen, wärmend, anfeuernd.
Unter welchem anderen Diktator war es derart befriedigend, vermeintliche Feinde auszurotten?
Liebe? – Nur für abstrakte Begriffe wie ‚Volk‘ und ‚Vaterland‘.
Aber Glück? – Kein Zweifel: Hitler hat Millionen von Menschen glücklich gemacht, vorübergehend, wie Glück nun mal ist. Doch kaum jemand vor ihm und nach ihm hat zu seinen Lebzeiten so viele Menschen in solchen Taumel versetzt – auf Kosten anderer natürlich. Leider ist Glück das meistens.
Auf Sklavenarbeit gegründetes Herrenglück ist da noch die harmlosere Form, denn Ausbeutung will ‚nur‘ benutzen, nicht vernichten. Völlig unerträglich ist sie trotzdem. Doch das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Was zählt? Der Augenblick oder die Ewigkeit?

Wer findet mehr Anerkennung: der Massenfänger, der eine Anzahl von Menschen in einen Glückszustand versetzt, selbst wenn er andere schädigt, ja ausmerzt? Oder der Politiker, der kein solches Glück schaffen kann und will, sondern mit fairen Mitteln das Machbare zu erreichen sucht? – Ganz klar: Dieser Politiker wird geachtet, er macht zufrieden. – Der Massenfänger wird geliebt, er macht glücklich: solange es gut geht. Anschließend wird er in Grund und Boden verdammt, denn Glückstaumel ohne Gräuel gibt es nicht, und die wiederum rächen sich irgendwann glücklicherweise doch.

Man sollte Glücksanbieter gesetzlich verbieten lassen, weil sie so gefährlich sind, wie das Glück selbst gefährdet ist. Nur hat es die Prohibition an sich, dass sie die Sehnsüchte eher schürt als löscht. Die Rücksichtslosen brennen also weiter Schnaps, die Verführbaren zahlen die Zeche.
Strikte Gesetze gegen Schwule zum Beispiel werden sicher die Quote der Geschlechtskrankheiten bei Homosexuellen senken und somit die Krankenkassen entlasten. Vielleicht entsteht sogar ein hygienisches Selbstverständnis bei den notgedrungen enthaltsameren Betroffenen. Aber was da stattfindet, ist dann natürlich eine wohlmeinende Manipulation der Masse (innerhalb der Minderheit).

Denn die Starken (= Rücksichtslosen) leben sich weiter aus. Sie treten das Leben voll durch, auch bei Rot.
Dann gibt es die Halbstarken, die bei Rot fahren, wenn sie zu sehen glauben, dass sie niemanden gefährden – allerdings hat das Leben keine übersichtlichen Kreuzungen. Und dann gibt es die vielen Schwachen, die bei Rot über die Kreuzung fahren würden, wenn sie ganz sicher wären, dass niemand es sieht (oder höchstens der anschließend Unfalltote).

Die Schwachen muss man schützen. Vor den Leichtfertigen muss man die Menschheit schützen, selbst dann, wenn bei der roten Ampel an der leeren Kreuzung nicht mehr aufleuchtet als ein Prinzip. Gegen Prinzipien ist nichts zu sagen. Oft sind sie humaner als Menschen.

Glücklich machen Prinzipien nicht. Geliebt sind sie zurzeit auch nicht. Aber ohne sie gäbe es noch mehr Unglück und Hass. Sie werden also geschluckt: als Kompromiss.
Alles ist Kompromiss – nur eben Liebe und Glück nicht, die gelten als kompromisslos. Dann aber könnten sie nur eindimensional auf einen Augenblick bezogen sein, also abstrakt. Sind sie etwa selbst Prinzipien? Und jetzt können wir uns im Kreis drehen, bis wir schwindelig werden – oder einen Kompromiss schließen: Liebe und Glück sind nur mit Einschränkungen zu haben, dafür aber im Ergebnis nicht mehr kompromisslos, also keine Prinzipien mehr.

Diese Auflassung ist wie eine Währungsreform: Jetzt gibt es plötzlich die gemeinsame Sekunde von Liebe und Glück im Fummelraum, jetzt gibt es die Liebes- und Glücksmomente der Rastlosen, die lieber zehnmal unglücklich verliebt sind als einmal glücklich. Jetzt gibt es das Glück derer, für die Suchen wichtiger ist als Finden (und Liebe wäre ja gefundenes Fressen).
Es gibt das Glück derer, die harmonisch über Jahre mit einem Freund zusammenleben: Plötzlich erleidet die Liebe einen Herzinfarkt und stirbt, ganz so, wie diese grundstabilen Menschen auf einmal tot sind.
Und es gibt das Glück derer, die ewig streiten und ewig zusammenbleiben, wie die Hypochonder, die ständig leiden und neunzig Jahre alt werden.
Jetzt gibt es alles! – Auch Verhaltensmaßregeln?

Na ja. Sie leben vermutlich nicht, um glücklich zu sein, sondern, damit was (vielleicht ganz Ehrenwertes) passiert. Wenn Sie allerdings merken, dass Ihr Partner oder Ihre Partnerin jemand anderen aufregender findet als Sie, dann werden Sie zwar nicht glücklich sein, aber Sie merken, dass etwas passiert ist. Nun reagieren Sie. Und wenn daraufhin Ihr(e) Partner(in) – weil Sie vor Wut oder vor Angst die Welt aus den Angeln gehoben haben – Sie wieder aufregender und liebenswürdiger findet als irgendwen sonst auf der (ausgeangelten) Welt, dann haben Sie Glück gehabt. Doch für wie lange?

Den Dauerorgasmus eines ewigen Sonnenbades auf Gran Canaria – könnte das überhaupt jemand ‚Glück‘ nennen? Vermutlich ja:

Der eine sucht eben (nur?) seinen Seelenfrieden, der andere hofft, sich als Soldat im Seelenkrieg zu bewähren.

Die wahre Liebe, das wahre Glück werden wir ja wohl erst nach dem Tode erleben. Umsichtige Pessimisten legen ihr Leben trotzdem so an, dass es auch dann einen Sinn ergibt, wenn diese wahren Werte später doch nicht Ihren Vorstellungen entsprechen sollten, zum Beispiel, weil es gar kein gutes oder böses Erwachen mehr gibt.

Ohne hier einen allzu nüchternen Materialismus predigen zu wollen – vielleicht haben diese Pessimisten in einem Punkt recht: Wer zu sehr auf das Jenseits baut und sich deshalb diesseits vor Verantwortung und Vergnügen drückt, dem wird vielleicht später unter die Arbeit geschrieben ‚Thema verfehlt!‘ Womöglich muss er sogar nachsitzen.
Aber – bei aller Liebe! Das kann so fortgeschrittenen Studierenden, wie Sie es inzwischen sind, zum Glück nicht mehr passieren.

39 Kommentare zu “Dialog 29: Im Krankenhaus

  1. Den Dauerorgasmus eines ewigen Sonnenbades auf Gran Canaria – könnte das überhaupt jemand ‚Glück‘ nennen? Meinerseits behaupte ich klar: nein. Aber die Menschen sind wohl verschieden.

      1. Das Glück besteht ja gerade darin, nicht abzustumpfen. Das geht im gepolsterten Liegestuhl wie auch im ereignislosen Paradies natürlich nur nach vorheriger Gehirnwäsche.

      1. Dass er als Kardinal zurücktritt heisst ja gar nicht unbedingt, dass man ihn nicht mehr in der katholischen Kirche sehen wird. Man munkelt ja gar, dass er möglicherweise den rentenreifen Präfekten der römischen Bischofskongregation ablösen wird.

  2. Ehelich gesagt glaube ich nicht, dass es so viele Menschen gibt, die gerne tot wären. Ich bin überzeugt, dass dies eher die Ausnahme ist. Allein sein wollen die meisten dagegen nicht.

      1. Sich umstellen oder sich umbringen.
        Gar keinen Kontakt zu finden, ist heute fast unmöglich. Schon das hier ist ja eine Kontaktaufnahme.

      2. Und sinkt die Selbstmordrate seit der Digitalisierung spürbar? Ich frage tatsächlich aus Interesse.

      3. Ah, Jens Spahn will eine App gegen Einsamkeit von den Krankenkassen finanzieren lassen. Hoffentlich braucht er die nicht bald selber.

      4. Oh ja, das könnte wohl passieren. Er scheint zumindest mit seinen Masken und seiner Impfkampagne von einem Schlamassel in den nächsten zu kommen. Selbst schuld.

      5. Ich möchte mir da eigentlich (noch) gar kein Urteil bilden. Aber gerade in der Politik gibt es ja ein recht einfaches Mittel: man braucht Politiker, mit denen man nicht einer Meinung ist, nicht wiederzuwählen.

      6. In dem Fall bin ich mir allerdings nicht so sicher. Laschet scheint sich ja möglicherweise mit seinem Nichtstun auch noch ins Kanzleramt zu schnarchen.

  3. Diejenigen, die sich diesseits aus der Verantwortung stehlen, denken ja meistens, dass sie dies eben nicht tun. Aber da klaffen die Ansichten eben so weit auseinander, dass man bei diesem Thema zu keiner Einigung kommen wird.

    1. Eine Einigung braucht es doch auch gar nicht. Solange jeder den anderen so machen lässt wie er sich wohl fühlt ist doch alles in Butter.

      1. Missionare sehen ihre Aufgabe darin, jeden nicht so machen zu lassen, wie er will, und dauerhaft wohl fühlen sich ohnehin nur die wenigsten. Deshalb ist das meiste bloß in Margarine.

  4. Es gibt immer Chance. Keine Krankheit führt mit 100%iger Wahrscheinlichkeit zum Tod. Jedenfalls nicht unmittelbar. Dass muss man sich auch als Patient immer wieder sagen.

      1. Wenn ich ins Kino gehe, denke ich nicht daran, dass ich in zwei Stunden wieder auf der Straße stehe. Wenn ich weiß, in einem halben Jahr bin ich tot, vergesse ich das keine Minute. Die Chance kann dann nur im Einverständnis bestehen.

      2. Ich habe zwei Freunde, die trotz nicht sehr aussichtsreicher Krebsdiagnose überaus positiv geblieben sind und beide die Krankheit besiegen konnten. Ich habe riesigen Respekt vor so etwas. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ich selbst die Kraft dazu hätte.

      3. Manche Kräfte, die man sich nicht zutraut, hat man doch, wenn es drauf ankommt. Manche Maulhelden kneifen allerdings, wenn es ernst wird.

  5. Diese strikten Gesetze gegen Schwule, die es ja tatsächlich noch an viel zu vielen Orten gibt, werden sicherlich eher die Quote der Geschlechtskrankheiten erhöhen. Zumal sich ja dann ja niemand zur Vorsorge noch zur Behandlung trauen darf.

  6. Hmmmm, ich glaube allerdings nicht, dass Hitler auch nur ein entferntes Interesse daran hatte, andere Menschen glücklich zu machen. Von daher hinkt der Vergleich schon ein wenig. Das waren ja keinesfalls unbeabsichtigte Kollateralschäden wie das sonst oft bei der Suche nach dem eigenen Glück passiert.

    1. Ob ein Diktator oder ein Superstar die Absicht hatte, seine Bewunderer glücklich zu machen, ist für den Zustand der Glücklichen unerheblich. Aber wenn es ihm nicht gelungen wäre, sie zu begeistern, erhielte er auch nicht die gewünschte Anbetung.

    2. Ob solch eine Begeisterung heute noch einmal möglich wäre? Die AfD schafft das zu unser aller Glück jedenfalls eher nicht.

      1. Solch eine Begeisterung für eine politische Figur? Ich glaube mit Trump in den USA gab es solch einen Fall gerade erst. Unter seinen Anhängern ist ja sogar nach der Wahlniederlage nicht Schluss mit der Begeisterung.

      2. Ob die nordkoreanischen Nachrichtensprecher*innen bei Kim Jong-un’s Tod genauso in die Kamera heulen werden wie beim Hinscheiden seines Vaters?

      3. Oh ja, das werden sie. So „anders“ wie man zu Beginn vielleicht noch dachte, ist der Sohnemann ja doch nicht.

  7. Ich frage mich, ob Religion hilfreich oder störend ist, wenn man schwer erkrankt. Gibt sie Kraft oder blendet sie nur? Wahrscheinlich gibt es beide Optionen.

    1. Wenn die Religion am Ende positiv blendet, ist es ja o.k. Ob sie auf den letzten Lebens-Metern Angst oder Hoffnung bewirkt, hängt vom Gewissen des/der Sterbenden ab. Hat er/sie keins, dann hat er/sie auch keine Religion.

      1. Ja genau. Wer nicht zum Arzt geht, im Glauben dass Gott in schon beschützen wird, der sollte seine Religion vielleicht noch einmal überdenken. Wer hingegen Kraft aus seinem Glauben schöpft um schwierige Situationen zu meistern, der hat mit Sicherheit einen Vorteil gegenüber einem Atheisten.

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