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Tänzer außer der Reihe

Dialog 20: Am Brunnen

FIGUREN

(Ein Progressiver: P; ein Nicht-so-Progressiver: N)

P: Hier, nimm!

N: Nee du, kein’ Bock.

P: Nu nimm schon, das geht dich auch an!

N: Du, ich sitz’ hier einfach ’n Augenblick in der Sonne und dröhn’ meine Mittagspause ab.

P: Dabei kannst du doch was Wichtiges lesen.

N: Vielleicht kann ich. Ich will aber nich’. Ich steh’ nich’ auf so was.

P: Hast du was gegen Schwule?

N: Das ist typisch. Wenn einer durch die Straßen läuft und den Schwanz raushängen lässt, kommen die Bullen und kassieren ihn ab. Finden alle okay. Macht ein Schwuler das und die Bullen kommen, dann veranstaltet ihr ’ne Demo und tut so, als sollt’ ihr alle rosa Winkel tragen.

P: Völlig unsachlich, was du da quatschst. Genau wie diese Macker, die einen gleich ausgrenzen wollen, wenn man sie mal mit dem Schwulsein konfrontiert.

N: Wahrscheinlich bin ich so ’n Macker. Jedenfalls will ich mich nich’ von deinem Wisch pesten lassen.

P: Was hast du bloß für Berührungsängste? So wichtig kann dir doch dein bisschen Scheißsonne nicht sein, dass du mich hier so im Regen stehen lässt.

N: Soll das ’ne Anmache sein?

P: Ich werd’ ganz sauer, wenn jemand so total daneben is’.

N: Nu pass mal auf, von mir aus kannst du so schwul sein, wie du willst, darf ich dann aber auch in der Sonne sitzen, ohne mir dein Geätze anhören zu müssen? Mir reicht schon der Autolärm.

P: Deine Art stinkt mir echt. Du ziehst dich jetzt voll dran hoch, dass ich schwul bin. Dabei schlägt deine unreflektierte Scheintoleranz schon jetzt um von Gleichgültigkeit in Aggression. Merkst du das nicht? Ich definier’ mich doch nicht bloß als Schwuler, sondern ich bring mich auch als Mensch ein, wenn ich mit dir rede.

N: Also davon merk’ ich nichts. Für mich bist du ’ne ganz verbissene Polit-Tucke. Auf so was fahr’ ich nicht ab.

P: Denkst du, ich kann die Welt verändern, indem ich zu Haus sitz’ und wichse?

N: Denkst du, du kannst die Welt verändern, indem du den Leuten auf den Geist gehst?

P: Das ist genau die Einstellung, die die meisten Schwulen so verinnerlicht haben, dass sie sich ganz in ihre Subkultur zurückziehen, und Leute wie du sind schuld daran.

N: Du fütterst mich mit Problembewusstsein. Ich bin schon ganz geknickt.

P: Also was is’ nu’, nimmst du ’n Flugblatt?

N: Sag mal, wenn du weiter in dem Tempo verteilst, kommst du aber nicht weit.

P: Mir geht’s um den Einzelnen. Ich hab’ Zeit.

N: Ich dachte, dir geht’s um Öffentlichkeit.

P: Das ist dasselbe.

N: Ach nee. Glaubst du, ich bin meinungsbildend?

P: Wir sitzen doch alle im selben Boot. Kapierst du denn das nicht? Du musst die sexuelle Frage doch in den politischen Zusammenhang stellen! Das Ziel ist immer die Absicherung der kapitalistischen Gesellschaft, ganz gleich, ob sie liberal oder reaktionär reagiert. Wir radikalen Schwulen machen uns da nichts vor, der Kapitalismus bietet keine gemütlichen sozialistischen Inseln.

N: Ich fand es eigentlich gerade im Sozialismus immer besonders ungemütlich, wenn ich früher mal in der DDR war.

P: Mensch, das ist doch genauso repressiv da wie hier. Was ist das überhaupt für ’n Argument?

N: Wenn du mich so beknackt findest, versteh’ ich nicht, dass du so lange auf mich einlaberst.

P: Ich kämpf’ für den befreiten Menschen, der nicht wegen der ökonomischen Verhältnisse seinen Sex einsetzen oder verdrängen muss.

N: Wer muss denn das?

P: Wer das muss? Die Ehefrauen, die Schwulen, die Prostituierten.

N: Ich dachte, die tun’s alle gern.

P: Die sind versklavt und wissen es nicht mal.

N: Haben die ein Glück … Und dein befreiter Mensch, wie sieht der aus?

P: Erstmal muss dieser Staat verändert werden.

N: Und wenn du den Staat verändert hast, sind wir dann alle gleich? Kommt dann die Selbstverwirklichung, diktiert durch die neuen Verhältnisse und die Obergleichen? Wie sieht denn dein privates Glück aus nach der Revolution?

P: Wieso Revolution? Der Sozialismus kann …

N: Im Sozialismus werden dir ganz bestimmt keine individualistischen schwulen Extrawürste gebraten, da schon gar nicht.

P: Du machst das immer bloß an diesem verkrusteten Sozialismus aus der Stalin-Zeit fest. Den will doch kein Mensch. Du musst doch mal hinterfragen, was das für ’ne Idee ist, die dahintersteht, darum geht es! Sicher, wir wollen uns auch als Schwule erfahren, aber wir wollen doch vor allem in einem Staat leben, in dem Schwulsein ganz normal ist. Dafür kämpfen wir.

N: Das seh’ ich anders. Die Schwulen wollen gar nicht normal sein, die wollen eher was Besonderes sein, das hat dann auch Nachteile.

P: Was nennst du das ‚Besondere‘? Frauenkleider oder Arschfick oder Wimperntusche? Und was sind die Nachteile? KZ und Vergasung?

N: Ich hab’ neulich mal mit einem Kollegen über Schwule gesprochen, und der hat zu mir gesagt: ‚Von mir aus sollen die machen, was sie wollen, aber ich darf nicht drüber nachdenken, sie dürfen mich nicht drauf stoßen, sonst krieg’ ich das kalte Kotzen.‘

P: So geht mir das auch, wenn ich dran denke, dass jemand ’ne Fotze leckt.

N: Aber sie sind in der Mehrheit. Was bringt es, sie zu provozieren?

P: Was es immer gebracht hat, wenn man provoziert, weil man was will: erst Prügel, dann Rechte.

N: Das klingt gut, wie du das sagst. Aber manchmal gibt’s auch nur Prügel. Die Rechte kommen nie oder erst viele Hundert Jahre später.

P: Aber wenn nicht einer anfängt, was zu tun, dann kommen die Rechte ganz bestimmt nie.

N: Lohnt sich das alles, für Sex?

P: Was findest du lohnender, als lieben zu dürfen, wen du liebst?

N: Wieso beschäftigst du dich eigentlich so lange mit mir?

P: Na ja, jemand wie du … Ich sah dich da so sitzen. Also ich möchte jedenfalls nicht, dass du mein Gegner bist.

N: Und du glaubst all das, was du sagst?

P: Denkst du, ich könnt’ es sonst aushalten?

N: Um deine Sicherheit beneid’ ich dich. – Um deine Figur beneid’ ich dich auch.

P: Was hat ’n das mit meiner Figur zu tun?

N: Ich bin nicht so weitsichtig wie du, aber ich bin nicht blind.

P: Was soll das? Du hast doch selber ’ne gute Figur. – Sag mal, bist du etwa auch schwul?

N: Für mich ist Schwulsein immer bloß Sex und nicht Politik, aber wenn die in meinem Betrieb was merken, dann bin ich bei denen abgeschrieben. Darum seh’ ich mich vor. Das findest du sicher beschissen von mir.

P: Nee, von denen.

N: So, jetzt kannst du mir dein Feigenblatt geben, ich versteck’s in meiner Hose, und heut Abend werd ich’s lesen. Du hast das gar nicht richtig gecheckt, aber das Flugblatt hast du mir, glaub’ ich, nur hingehalten, weil ich dich vorher so angestarrt hab’. Und angestarrt hab’ ich dich, weil ich dich ’n Typ finde. Aber als du dann gekommen bist, hab’ ich das Flattern gekriegt, weil da drüben nämlich zwei Kumpels von mir saßen. Die sind grad gegangen, unsre Pause ist rum. Aber ich hätte das Flattern auch so gekriegt, bloß dass ich das Blatt gleich genommen hätte, auch wenn ich nich’ dran glaub’.

P: Dann is’ es ja so fast besser. Soll ich meine Telefonnummer draufschreiben?

N: Ja.

P: Oder soll ich dich anrufen?

N: Nee, ich wohn’ noch zu Hause.

P: Kannst du’s lesen? Das da soll ’ne Vier sein. Wenn sich jemand anders meldet, frag nach Thomas!

N: Thomas … Ich muss jetzt gehn.

P: Und wie heißt du?

N: Achso, Alex.

P: Ruf mich an, Alex! Oder heißt du nicht eigentlich vornehmer Alexander?

N: Ja, Alexander der Große und Thomas der Ungläubige. Du verteil schön! Und pass auf! Marschier nicht bei Rot über die Straße!

P: Alles roger. Ich bin für Grün.

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ERLÄUTERUNGEN

Wenn man die Gespräche in Schwulenkneipen und Partei-Lokalen verfolgt, dann kommt man zu dem Schluss, dass sich viele Schwule immer noch nicht trauen, politisch zu sein und viele Politiker sich immer noch nicht trauen, schwul zu sein. Man kann es aber auch differenzierter sehen. Schwulsein ist Lebensaufgabe, Freizeitbeschäftigung oder fünf Minuten im Monat. Dementsprechend sind Schwule entweder konservativ und diskret – sie sind maßvoll gemäßigt, weil das keine Aufmerksamkeit erregt, und leisten sich die Ausgewogenheit der Etablierten, als deren Teil sie sich empfinden, wenn man von den verstohlenen Augenblicken absieht, die niemanden etwas angehen – oder aber sie sind progressiv, dass die Schwarte kracht, wobei sie ihr Schwulsein als politisches Moment begreifen. Sie reden von ‚Fremdbestimmung‘ und ‚schwulem Selbstverständnis‘, und es klingt ähnlich komisch wie früher ‚siebzehnter Mai‘ und ‚Herrenbar‘. Allen vier Begriffen ist gemein, dass sie ernst gemeint sind. Und es gibt nun mal Worte, wenn die ernst gemeint sind, dann fällt es schwer, ihre Benutzer ernst zu nehmen.

Sozialist sein ist viel wichtiger als schwul sein, es hat nur gar nichts miteinander zu tun. Ein Schwuler sollte zugeben können, Sozialist zu sein, und ein Sozialist sollte zugeben können, schwul zu sein – das ist es dann aber auch. Beides miteinander zu verquicken zeugt von maßloser Überschätzung des Sexuellen oder von großer Triebschwäche. Genau diese Verquickung findet aber statt, vor allem in den Köpfen derer, die – eigener Einschätzung nach – normal empfinden.

Auf diese Weise wird Schwulsein dann wirklich zur Ideologie, wenn Schwule denken, dass andere real existierenden Ideologien sie ablehnten. Bleibt also die Wahl, Seite an Seite mit zum Beispiel Kommunisten oder Katholiken zu kämpfen und sich zu verstellen oder Schwulsein als eigenständiges Modell zu akzeptieren und einzubringen. Über dieses Einbringen geben sich aufgeklärte Geister allerdings keinen allzu großen Illusionen hin. Die fortschrittlichen demokratischen Bewegungen interessieren sich für ihre Schwulen genauso brennend wie Fabrikdirektoren für ihre Hilfsarbeiter: Sie begegnen ihnen mit einer Mischung aus Anteilnahme und Herablassung und in der tröstlichen Gewissheit, dass es tausend wichtigere Probleme gibt. Auch hier sind die Ignoranten den Besserwissern vorzuziehen (unter den Direktoren wie unter den Arbeitern). Die Schwulen brauchen sich dadurch aber nicht entmutigen zu lassen.

Aufgeweckte Randgruppen bewirken in einer Demokratie mehr als eingeschläferte Mehrheiten. Die Schwierigkeit besteht nur darin, sich zusammenzutun, denn ein Schwuler, dessen Herz nicht für einen anderen Schwulen schlägt, hat von Hause aus mit diesem Mitschwulen nicht viel zu schaffen, da fällt Solidarität zunächst mal schwer. So ist denn auch die Aufsplitterung der progressiven Schwulengruppe ihr Hauptproblem: Offenbar ist der Druck von außen zu gering und die Gemeinsamkeit von innen auch. Führernaturen, die für Zusammenhalt sorgen könnten, finden die Aufgabe mit Recht nicht besonders lohnend: Wer eine große Rolle in der Schwulenbewegung spielt, verprellt andere Mehrheiten und steht außerdem auf dünner Basis.

Neben den üblichen Ressentiments kommt hinzu, dass Schwule, die sich nicht als Schwule aufgeben wollen, für Vielfalt, ja Buntheit kämpfen müssen. So ein Programm ist immer schwerer verständlich zu machen und durchzusetzen, als für einfältige Gemüter Einheitlichkeit und Einfarbigkeit zu fordern. Denn da muss die leicht geschürzte Freizügigkeit gegen die Wasserwerfer der öffentlichen Meinung auf die Barrikaden steigen. Und was kann sie der geballten Macht von biologischen und theologischen Erkenntnissen entgegensetzen? Ja, was? – Einen Blick vielleicht, eine Berührung, eine Empfindung, die überwältigender ist als ein noch so harter Wasserstrahl. Die Hoffnung, das Wissen, im Recht zu sein und deshalb stark. Zwar glaubten die aus Feigheit Konservativen lange Zeit, sie könnten das allein schaffen, aber die Progressiven erkannten richtig, dass sie nur in der Gruppe stark sind.

Die einen gehen also unbegleitet auf die Spielplätze, die andern gründen den eingetragenen Verein emanzipierter Päderasten und gehen gemeinsam auf die Straße (typisch schwule Übertreibung, und bitchy noch dazu). Die einen verharren einsam und ungeschlagen in Ketten, die anderen begreifen ihr Schicksal kollektiv und gründen eine Masochisten-Gewerkschaft, um ihr Ziel durchzupeitschen.

Leider gibt es immer noch die Reaktionären, die sich von ihrer Triebrichtung fremdbestimmen lassen, aber daneben gibt es eben auch die Fortschrittlichen, die gemerkt haben, dass Schwulsein ein politisches Programm ist, weit entfernt von der Tyrannei des Leibes. Allenfalls preisen diese Bewegten in Pamphleten ihre Homosexualität, etwa so wie marxistische Funktionäre ihre Werktätigen preisen: Was erst auf einem Podest steht, ist der Wirklichkeit bequem entrückt.

Wer von andern ernst genommen werden will, hält es mit Recht für wichtig, sich zunächst mal selbst ernst zu nehmen. Dieses hohe Ziel verlieren die Progressiven nie aus den Augen, und deshalb bilden sie eher eine ‚Serious‘ als eine ‚Gay‘-Pride-Bewegung. Aber es gibt keinen Grund, sich darüber lustig zu machen. Die Geschichte der Homosexualität und das Schicksal des Durchschnittshomosexuellen bieten wenig Anlass für Albernheiten. Wer Schwule von Partys her als amüsant in Erinnerung hat, sollte nicht die Freizeit mit dem Alltag verwechseln.

Männer (und Frauen!), die dabei sind, mit viel Zivilcourage sich und den Ihren Rechte zu erobern, müssen keine Volksbelustiger sein, müssen nicht einmal Abstand haben.
Ein Aufbruch findet statt – für sie ein Stück Freiheit für alle; zum ersten Mal in der Geschichte verlangten Schwule etwas, das in der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch unerhört erschien und in vielen Ländern immer (noch) unerhört ist. Vielleicht ist ein solcher Aufbruch – behindert, bedroht durch Vorurteil, Krankheit, Angst und Hass –, vielleicht ist solch ein Aufbruch wirklich etwas Heiliges – und wer lacht schon in der Kirche? Höchstens, dass ein paar Nervöse kichern: aus Verlegenheit, Furcht und hilfloser Bewunderung.
Die Schwulen tun sich gern mit einer unterdrückten Mehrheit zusammen: den Frauen. Der Feminismus und die Schwulenemanzipation haben ein gemeinsames Feindbild: den heterosexuellen weißen Mann. Wenn der wie Trump ist, genießen die Kämpfer*innen das große Glück, kein Schreckgespenst an die Wand malen zu müssen: Es steht leibhaftig vor ihnen auf dem Bildschirm. Wenn man gegen dieses Ungetüm anbrandet, geht es nicht mehr um simple Sexualität, sondern um das große Ganze.

Man kann kein guter Schwuler sein, wenn man nicht seinen Anteil dazu beiträgt, eine Klimakatastrophe zu verhindern. Zwar kann man ein guter Koch oder ein guter Liebhaber oder ein guter Nachbar sein, ohne sich mit Feinstaub auseinanderzusetzen – aber Schwulsein heißt Menschsein, da gelten andere Maßstäbe. Ja, wirklich: Dass man auch Liebhaber und auch Nachbar ist, vergisst man manchmal. Dass man schwul ist, vergisst man nie.

Wollen Sie dem Lehrgang so weit folgen? Wenn ja, gut. Man muss zu weit gehen dürfen, unbedingt, als Einzelner und in der Gruppe – allerdings muss man mit den Folgen leben, wenn auch nicht widerspruchslos. Wann wird endlich die Erregung öffentlichen Ärgernisses abgeschafft in einer Zeit, die kaum etwas mehr genießt als die Provokation? Soll man doch die konservativ Klerikalen als die Minderheit sichtbar machen, die sie sind.

Geht Ihnen das alles zu weit? Den meisten anderen auch. Deshalb bröseln Bewegungen auseinander, geschlagen von den Viren im Blut, der Gleichgültigkeit im Kopf und der Feigheit im Herzen. Viele haben inzwischen schon wieder ein ruhiges Gewissen, wenn sie einem gut gebauten Kerl auf die Hose schielen, ohne dabei eine geistig-politische Konzeption im Visier zu haben. Ruhigen Gewissens? – Na ja. Gewiss, Stillstand ist schön, wenn es einem gut geht. Fortschritt ist schrecklich, wenn man keine Veränderung will. Und doch gibt es Revolutionäre, die Rosen züchten, und Rosenzüchter, die plötzlich Revolution machen. Natürlich sind sie in der Minderheit, aber Minderheiten tun gut daran, sich ihre Minderheiten vorurteilsfrei anzusehen. Wichtig sind Menschen, die keine Macht haben, sich also keine Macht erhalten wollen: Arbeitslose, Kinder, Straßensänger, entlassene Generäle, pensionierte Manager. Sie geben nicht den Ton an, aber wer versäumt, ihnen zuzuhören, läuft Gefahr, taub zu werden.

Nun sind Progressive beileibe keine besseren Zuhörer als Konservative – im Gegenteil. Dennoch: Beide Gruppen wollen das Beste – vor allem für sich.

Die Progressiven sind stolz darauf, fortschrittlich zu sein, die Konservativen genieren sich zu recht, dass sie sich als rückschrittlich einzustufen haben. (Wie Schwule mit der Peinlichkeit leben, siehe immer wieder Dialog 1.) Für sie, die Regressiven, haben private Nebensächlichkeiten wie Essen, Wohnen, Lieben immer noch einen beschämend hohen Stellenwert, während so entscheidende Dinge wie der Aufbau eines SZGL oder die Teilnahme am Bundeskongress der LGSZ für sie eine untergeordnete Bedeutung haben. Doch in beiden Lagern gibt es glücklicherweise auch immer noch genügend Schneidige, die sich den als Verständnis und Friedfertigkeit getarnten Zersetzungserscheinungen entgegenstemmen und bereit sind, den jeweiligen Standpunkt kämpferisch zu vertreten. Selbst Kriegsgegner müssen nicht darauf verzichten, ihre Überzeugung zu verteidigen, notfalls mit der Waffe: Gewalt gegen Gewalt ist friedliebend, das hat doch fast was Mathematisches.

Wer sich durchsetzt, hat immer recht. Das kann man schon in den Geschichtsbüchern lesen, natürlich nicht wörtlich, aber zwischen den Zeilen. Insofern haben die Progressiven die besseren Chancen, das heißt, weniger die progressiven Kriegsfreunde im konservativen Lager als die konservativen Kriegsgegner im progressiven Lager: Nach der Umwälzung der bestehenden Verhältnisse wird eine spießige Flucht ins Private – so oder so – nicht mehr angesagt sein: Wer sich nicht gleich freiwillig entfaltet als nützlicher Teil eines – dann ja hoffentlich antifaschistischen – Volksganzen, der kann ganz leicht eines Besseren belehrt werden. Nach dem nächsten Krieg wird es nichts mehr zu essen, nichts zu wohnen, nichts zu lieben geben. Das hilft natürlich.

Weit weniger bewunderungswürdig als das aufrechte Häuflein der aggressiv Emanzipatorischen ist eine andere, leider viel größere Randgruppe: die um jeden Preis Angepassten. Sie wittern da, wo es keine offene Drangsalierung mehr gibt, immer noch heimlichen Spott. Zu Recht. Gute Witze gehen gegen die Herrschenden, schlechte Witze ziehen die Wehrlosen noch tiefer. Ansammlungen nicht zu trauen ist vernünftig. Wie schnell schlagen bei Massenveranstaltungen Stimmungen um und Saalordner zu. Aber haben deshalb die schwulen Angsthasen recht? Wenn man ihnen vorschlägt, das eiserne Korsett ihrer Tarnung ein wenig zu lockern – mehr wegen der Bequemlichkeit, gar nicht, um zu politisieren –, dann reagieren manche von ihnen immer noch so, als hätte man ihnen vorgeschlagen, mit Bananenröckchen ins Büro zu gehen.
Diese Zaghaften möchten nicht durch die Umarmung ihres Freundes im Treppenhaus riskieren, dass die Portiersfrau zu grüßen aufhört. Und tatsächlich: Sie grüßt anderenfalls auch wirklich nicht mehr. Dagegen schwärmt sie von den guten Manieren der Tapferen, auch wenn die mal juchzend die Stiege runterhopsen.
Die Angepassten finden bis auf den eigenen Freund, den sie, wenn überhaupt, nur maßlos diskret ‚betrügen‘ (ein Wort ihres Sprachschatzes), alles unerträglich, was mit Mann-zu-Mann-Beziehung zu tun hat. Oder sie leben mit ihrer Mutter und denken genauso.
So jemand sagt dann: ‚Wir können wirklich dankbar sein. Wir haben viel erreicht. So gut ging es ‚uns‘ doch noch nie.‘ Na ja. An seinem Arbeitsplatz in der Versicherung würden die Leute zwar pausenlos witzeln und herumsticheln, wenn sie wüssten, dass er vom anderen Ufer ist, aber – stimmt schon – auf die Folterbank müsste er nicht mehr. Der Katalog dessen, was man in der Öffentlichkeit besser nicht tut, ist für die Verfechter der Innerlichkeit stattlich. Man soll weder kesse Blicke noch Flugblätter verteilen. Und schrille Farben (Achtung, Tunte!) sind genauso unangebracht wie schwarzes Leder (Achtung, auch Tunte!).

Rücksichtnahme auf die Empfindungen anderer ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die man achten soll. Aber dann aus Überzeugung, nicht aus Feigheit und auf Gegenseitigkeit. Die Öffentlichkeit ist keine Sphinx, sie besteht aus Menschen. Dem einen wird warm ums Herz, wenn zwei Männer sich umarmen, der andere kriegt Frühlingsgefühle, wenn ein Mädchen einen Jungen küsst. Weggucken können beide. Doch so geht es nicht zu in der Welt, und so wird es wohl auch nie zugehen. Selbst wenn es ‚nie wieder Krieg‘ gibt: Kampf wird es immer geben.

Diejenigen, die die Welt verändern wollen/müssen, machen notgedrungen einiges kaputt. Man erstickt also komfortabler unter denen, die nichts ändern wollen – falls man zu ihnen gehört.
Ausgereifter Weichkäse oder frischer Wind? Die Frage stellt sich nicht bewusst. Man kann die äußeren Umstände für eine bestimmte politische Haltung nicht manipulieren, und sei sie noch so revolutionär. Man fühlt es oder man fühlt es nicht. Wer nichts fühlt, hat es manchmal leichter und ist immer leerer. Diese Einsicht hilft eher den Propagandisten einer neuen Seligkeit als den Bewahrern gegebener Standpunkte. Wer also den alten Glauben verloren hat, der sympathisiert vage mit neuen Werten: Wenn sowieso nichts bleibt, dann ist es verführerisch, für den ‚Fortschritt‘ zu sein und niemanden gelten zu lassen, der sein Leben still für sich und häppchenweise verspeist: aufgepasst – angepasst!

Na ja. Verherrlichen lässt sich alles: der Soldat, der Arbeiter, die Gottesmutter Maria oder gleich die Masse, wenn nicht gar die Massen, und nur selber verherrlichen macht fett. Schlimmstenfalls dienen solche Massen als Aufputschmittel, mit dessen Hilfe sich der eigene Wille zum Engagement stimulieren lässt. Bestenfalls wird man ihr Prophet, Märtyrer, Erlöser. Meist bleibt man – wie überall – Mitläufer. Klingt das kaltschnäuzig für Sie? Das soll es nicht. Es soll nicht mal resignierend klingen. Nur ist guter Rat, wie meist, billig. Die gute Tat ist teurer. Doch sie braucht einen Grund, damit wir sie begehen. Ach, unsere Ideale, so teuer sie uns sind, sie können verblassen. Da hätten wir eben nicht nur lernen sollen, wie man Träume abwürgt, um erwachsen zu werden, sondern auch, wie man es anschließend erträgt, ohne Träume zu leben.

Früh fangen die Enttäuschungen an: Wenn man aufhört, ans Christkind zu glauben. Kann man sich dann freuen, dass man nun der Wahrheit ein Stück näher ist – ohne dem zerbrochenen Weihnachtszauber nachzutrauern, der durch keinen neuen Zauber ersetzt wird? Ach, wie viele von uns hätten den Baum der Erkenntnis am liebsten nie angerührt, Unwissenheit gleich Unschuld als Ideal! – Ist vom lieben Gott nicht vorgesehen. Menschwerdung bedeutet: Die Früchte dieses Baumes werden uns die Kehle hinabgestoßen. Genudelt werden wir, bis wir fast ersticken – auf dass wir unsere Pflicht erfüllen und der Engel mit dem Flammenschwert die seine.

Doors-Medley

Auszug aus Hanno Rinkes ‚Liedschatten‘

Die vollkommene Entäußerung. Jim Morrison. Das war ‚mein‘/‚unser‘ 1968. Kein Sex, wenig Drugs, no Rock ’n’ Roll. Deshalb haben wir auch überlebt. Damals. Morrisons früher Drogentod hat ihn zur Legende gemacht. Trotzdem unverzeihlich: Im Alabama-Song änderte er Brechts Zeile: ‚Show us the way to the next pretty boy‘ in ‚to the next little girl‘. Die ganze 68er-Bewegung war homophob, ich hasste sie. Okay: Bei Brecht singen das Mädchen. – Keine Entschuldigung. Wir machen Schluss! Mit Morrisons quengelig-trotzigem Beschwören des Endes beenden wir nach der Auflistung von Vokabeln jetzt auch die Auflistung von Musikbeispielen. Die letzten zehn Lektionen konzentrieren sich ganz auf den Lehrstoff.

‚Alabama Song‘ / ‚The End‘ (aus LP ‚The Doors‘, erschienen 1968 bei Elektra, produziert von Metronome Records GmbH, © Nipper Music, Producer: Paul A. Rothchild, Organ, Piano, Bass: Ray Manzarek, Drums: John Densmore, Guitar: Robby Krieger, Vocals: Jim Morrison) | ‚Love Me Two Times‘ / ‚People Are Strange‘ (aus LP ‚Strange Days‘, erschienen 1967 bei Hit-Ton Schallplatten, realisiert von Sunset Sound Recorders, Mastering von Madison Sound Studios, produziert von Deutsche Vogue GmbH, Bass [Occasional]: Douglas Lubahn, Drums: John Densmore, Guitar: Robby Krieger, Keyboards, Marimba: Ray Manzarek, Producer: Paul A. Rothchild, Vocals: Jim Morrison, Words by, Music by, arranged by The Doors) | ‚Touch Me‘ (aus LP ‚The Soft Parade‘, erschienen 1969 bei Elektra, arranged by Jim Morrison, John Densmore, Ray Manzarek, Robbie Krieger, arranged by [Orchestra] Paul Harris (2), Bass: Doug Lubahn, Harvey Brooks, Congas: Reinol Andino, English Horn, Soloist: Champ Webb, Fiddle: Jimmy Buchanan, Guitar: Robby Krieger, Keyboards: Ray Manzarek, Mandolin: Jesse McReynolds, Producer: Paul A. Rothchild, Saxophone, Soloist: Curtis Amy, Trombone, Soloist: George Bohanan, Vocals: Jim Morrison) | ‚Spanish Caravan‘ (aus LP ‚Waiting For The Sun‘, erschienen 1968 bei SR International, Acoustic Bass: Leroy Vinegar, Bass [Occasional]: Douglas Lubahn, Drums: John Densmore, Guitar: Robby Krieger, Keyboards: Ray Manzarek, Producer: Paul A. Rothchild, Vocals: Jim Morrison, written by, arranged by The Doors

34 Kommentare zu “Dialog 20: Am Brunnen

    1. Ein wenig mehr Wertschätzung wäre sogar gar nicht blöde. Die einen nehmen den Sex zu wichtig, die anderen ihr gegenüber zu unwichtig.

      1. Sex, ohne Kinder zeugen zu wollen, ist sinnlos, lernte ich noch in der Kirche. Diese Erkenntnis hat sich in großen Teilen Afrikas durchgesetzt.

  1. Ich erinnere mich gar nicht wann die Erkenntnis, dass es kein Christkind gibt, kam. Es scheint keinen so großen Eindruck hinterlassen zu haben. Auf Weihnachten habe ich mich jedenfalls trotzdem immer gefreut.

      1. Den Weihnachtsmann fanden meine Eltern, also auch ich, blöd. Das Christkind wurde geboren, sonst nichts. Die Geschenke kamen von Vater und Mutter, der Karpfen aus der Küche. Der Baum trug echte Kerzen, fing aber nie Feuer.

      2. Vor allen Dingen fand ich den Weihnachtsmann immer weitaus gruseliger als meine Eltern.

  2. Zu weit gehen ist heute schwierig. Da würde dann ja sofort gecancelled. Das finde ich bei allem Aktivismus (den gibt es zu recht!) bedauernswert.

    1. Cancel Culture verstehe ich tatsächlich auch nicht. Fehler zu machen gehört ja zur persönlichen Entwicklung dazu. Wenn das nicht mehr geduldet wird, dann bleiben wir alle auf der selben Stufe stecken.

  3. Ahhh, schon wähnt man sich im Bett, in der Küche oder beim Freund in Sicherheit merkt man, dass man doch die Freizeit mit dem Alltag verwechselt hat. Allerdings gibt es dann auch sofort wieder so viel zu tun und zu meinen, dass man gar nicht weiss wo man anfangen soll.

    1. Ähnlich wie jetzt bei diesem unendlichen Konflikt im Mittleren Osten. Da hat man arabische Freunde, die einem ihre Seite erklären und jüdische Freunde, die einem wieder eine andere Sicht erklären. Und man merkt warum es diesen Konflikt schon seit so vielen Jahrzehnten gibt.

      1. Der Gedankensprung kommt für mich überraschend, aber das von Ihnen beschriebene Problem kenne ich auch. Abgesehen davon, dass Krieg keine Lösung sein sollte, und abgesehen davon, dass Krieg leider von den Regierungen als „nützliches“ Instrument missbraucht wird, wird die Diskussion schnell schwierig.

      2. Mit dem Thema Progressiv – Konservativ hat das tatsächlich nichts zu tun, wichtig ist es natürlich trotzdem. Ich war in Gaza und ich bin parteiisch: Es war ein großer Fehler der Israelis, den Gazastreifen der Hamas zu überlassen. Jetzt haben sie den Salat. Die fanatischen Halbstarken mit islamistischem Hintergrund auf Deutschlands Straßen müssen belehrt werden, erst mit klaren Worten, dann mit Wasserwerfern.

  4. Dass das eigene Schwulsein durch die gesellschaftliche Ablehnung zur Ideologie werden kann, das leuchtet mir ein. Eigentlich fand ich es immer ein wenig komisch, wenn sich jemand durch die eigene Sexualität definiert. Aber so macht das natürlich Sinn.

    1. Schlimm ist natürlich, dass trotz allem so viele Israelis Netanyahu wählen. Aber gleiches kann man über die AfDler und Trumpisten sagen.

      1. Solide Mehrheiten gibt es ohnehin nicht. In einem so kleinen Staat so viele Gesinnungen von ultrakonservativ orthodox bis islamitisch und liberal aushalten zu müssen – das will man nicht regieren müssen.

  5. Ich habe eigentlich nichts gegen Konservatismus, solange er eben nicht regressiv ist. Fortschritt muss sein. Wir brauchen neue Ideen. Wenn das mit etablierten Werten überein geht, umso besser.

      1. Es gibt ja immer so viel zu tun und zu verbessern. Aber neu und anders allein reicht sicherlich in keiner Weise als Wahlprogramm aus. Da braucht es schon schlüssigere Konzepte und Ideen.

  6. Die Mehrheit hat es oft ja einfach zu gemütlich um viel verändern zu wollen. Können könnten sie natürlich. Aber Randgruppen und Minderheiten haben meistens einen größeren Ansporn.

      1. Wobei die regierende Partei ja auch bei uns selten die absolute Mehrheit hat. Mal schauen was Kanzlerin Baerbock alles verändern wird. Sicherlich trotzdem einiges.

      2. Meine Frage wäre ja dann auch ob eine hypothetische grün-schwarze Regierung wirklich progressiv oder doch eher konservativ (Kretschmann!) wäre.

      3. Ich finde es immer schwerer zu unterscheiden, was progressiv und was konservativ ist. Digitalisierung und Umweltschutz wollen alle. Ist Steuern zu erhöhen progressiv oder eine konservative Maßnahme von Sozialisten?

      4. Und der Schutz der Umwelt? Also der Erhalt? Das müsste nämlich doch auch Konservatismus sein, nicht? Ich teile Ihre Meinung.

      5. Das sind doch am Ende sowieso alles nur Labels. Der Umweltschutz steckt immer noch in den Kinderschuhen, da kann also nicht allzu viel konserviert werden. Aber wen man nun im Herbst wählen soll, da muss man einfach schauen wem man am meisten zu- und wem man besten auch noch ein wenig vertraut.

      6. Ich gehe davon aus, dass viele das wählen werden, was ihnen (angeblich) am meisten Geld spart und wer oder was ihnen in den sozialen und den unsozialen Medien am besten gefallen hat.

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