ANDERE UMSTÄNDE
(Die Mutter: M; der Sohn: S)
M: Pass auf!
S: Was ist?
M: Du wärst fast auf einen Pilz getreten.
S: Oh, das hab ich gar nicht gemerkt.
M: Nein, ich weiß. Ihr seht immer nach oben: in den Himmel oder in die Ferne.
S: Wer ‚ihr‘?
M: Dein Vater und du.
S: Du hast mir nicht beigebracht, die Augen niederzuschlagen.
M: Weiß Gott nicht.
S: Trotzdem hab’ ich es lernen müssen.
M: Was meinst du?
S: Ach, Mama! – Es ist schön hier.
M: Ich verstehe nicht, was du meinst.
S: Ich wollte gar nichts Bestimmtes sagen.
M: Doch, das wolltest du. Aber es ist nun mal so: Die Frau achtet auf den Weg, sie schafft die kleinen Hindernisse beiseite. Der Mann bestimmt die Richtung. Und alle, die es anders wollen, werden irgendwann merken, dass sie im Unrecht sind. – Wie viele ‚Volksbewegungen‘ habe ich losschreien und verschwinden sehen! Moden sind das, die nichts ändern, nicht auf Dauer.
S: Es ist wirklich schön hier.
M: Ja, es ist schön hier. Ich mache den Spaziergang oft allein. Es tut gut, ihn jetzt mit dir zu machen. – Ich war nicht sicher, ob du lieber zum Friedhof gegangen wärst …
S: Nein, so ist es besser.
M: Dein Vater und ich sind viel hier gelaufen. Wir können ja nachher noch mal zum Friedhof gehen.
S: Ja.
M: Vielleicht müsste ich deswegen ein schlechtes Gewissen haben, aber das Grab sagt mir nichts. Was liegt da schon? Er ist in meinem Herzen. Hier sind wir zusammen gegangen, hier haben wir über alles gesprochen. Hier erinnere ich mich an ihn. Auf dem Friedhof erinnere ich mich nur an seine Beerdigung.
S: Tut es noch sehr weh?
M: Ach, weißt du, du hast mir sehr geholfen. Es tat mir gut, dass du damals gleich gekommen bist. Ich habe mich manchmal gefragt, ob es richtig war, hierherzuziehen. Aber auf diese Weise hat dein Vater es noch ein paar Jahre lang genießen können, nicht in der Stadt zu leben. – Nun liegt er da, seit einem halben Jahr auf diesem Friedhof, mit dem ihn nichts verbindet.
S: Ich hatte, offen gesagt, etwas Angst vor der Beerdigung, aber es war dann alles sehr würdig.
M: Ja, und so viele Menschen. Alle wollten sie Abschied nehmen von ihm. – Sieh mal, diese Rotbuche! Unter der haben wir oft gesessen und von dir gesprochen.
S: Ein schöner Baum.
M: Sein größter Wunsch war es immer gewesen, noch mal Großvater zu werden.
S: Noch mal? Sylvia hat doch schon zwei Kinder.
M: Er wollte einen Enkel, der seinen Namen trägt.
S: Ja, da war ich nun so ein braver, wohlerzogener Junge und zufrieden gemacht hab’ ich euch auch nicht damit. Die Enkel habt ihr von meiner Schwester, die zweimal sitzengeblieben ist und schon vor der Hochzeit in anderen Umständen war.
M: Rede nicht so! Außerdem verklärt sich dir deine Wohlerzogenheit in der Erinnerung.
S: Ach, alles in allem war ich, glaub’ ich –
M: Ich werde nie vergessen, wie Doktor Schroeder – damals noch mit seiner ersten Frau – zum Essen bei uns war. Maria brachte das Kalbsbries mit Rosmarin herein, und Frau Schroeder fragte: „Oh, was ist denn das?“
S: Ach ja. Was hab’ ich gesagt?
M: Das weißt du ganz genau.
S: Nein, ich hab’ es vergessen.
M: Du hast gesagt: „Hodenkrebs vom Menschen an feinen Kräutern, gnädige Frau.“ – Ich hätte in den Erdboden versinken mögen.
S: Das ist doch lustig.
M: Lustig? Es war der Gipfel der Geschmacklosigkeit, und das in der damaligen Zeit!
S: Es war wohl unpassend, aber ihr habt Haltung bewahrt. Andere Eltern hätten sicher ein schreckliches Theater gemacht.
M: Das wäre doch noch peinlicher für die Gäste geworden.
S: Eben. Aber dass Vater das so hingenommen hat!
M: Er hatte sehr viel Verständnis für dich, auch wenn er es nicht immer gezeigt hat.
S: Wirklich?
M: Verlass dich drauf!
S: Ich fand ihn immer so unheilbar gesund.
M: Er war nicht sehr schwärmerisch …
S: Nein, wirklich nicht!
M: Aber er hat die Dinge zu schätzen gewusst.
S: Was heißt das?
M: Er hatte in den letzten Jahren genießen gelernt.
S: Schade, dass er mir das nicht mehr vermitteln konnte.
M: Sei nicht so spöttisch! Dein Vater hat immer großen Anteil an dir genommen.
S: Ja, er hat meine Entwicklung mit viel Interesse verfolgt. Ansonsten war er auch in dieser Hinsicht mehr für die Fernziele wie Enkel und Urenkel zuständig als für meine Ferien und für meine Erziehung.
M: Ich verbiete dir, so von ihm zu reden! Er ist immerhin dein Vater.
S: O ja, und gegen Ende seines Lebens hat er sogar genießen gelernt: Waldspaziergänge und Sauerbraten rückten am Horizont ins Blickfeld.
M: Und ich dachte immer, du hast ihn geliebt.
S: Hab’ ich auch. Das hab’ ich auch. Aber gerade deshalb muss ich ihm doch nicht Eigenschaften andichten, die er nicht hatte.
M: Es tut mir sehr weh, dich so von ihm sprechen zu hören. Wirklich. Ihr habt euch doch immer so gut verstanden.
S: Ja, sicher.
M: War denn das alles nur an der Oberfläche?
S: Nein, nein, das war es nicht. Und du hast ganz recht, er war nachher viel zugänglicher, viel … ja väterlicher.
M: Vorher hatte er ja auch immer die Arbeit. Er hat so viel gearbeitet.
S: Ja, ich weiß. Und die Menschen werden eben erst interessant, nachdem sie ihr Lebensziel aufgegeben haben: Was machen sie dann? – Meist fangen sie an, nachzudenken. Sie werden gütig – oder sie drehen durch.
M: Was redest du da für Unsinn? Dein Vater hat nie sein Lebensziel aufgegeben, nie. Und dir habe ich auch beizubringen versucht, dass man ein Ziel im Leben haben muss. Es wäre ein großer Schmerz für mich, wenn ich in dieser Absicht gescheitert wäre.
S: Nein, du bist nicht gescheitert. Ich habe ein Ziel. Aber ist es nicht auch schön, hier einfach durch den Wald zu gehen, ziellos?
M: Es ist ein Rundweg.
S: Früher seid ihr auch schon immer ‚ums Karree‘ gelaufen, nach dem Abendessen. Im Sommer und im Winter. Bei Regen und bei Schnee.
M: Ja. Nur wenn es glatt war und schon dunkel, haben wir es zum Schluss nicht mehr gemacht. Wir mochten den Winter nicht, die Kälte, die Dunkelheit vor allem.
S: Ich habe die Dunkelheit immer gemocht, als Kind, weil man dann die unordentlichen Wolken am Himmel nicht sah, Angst hatte ich nie, damals.
M: Irgendwas ist passiert, als du sechzehn warst.
S: Ich wurde noch artiger.
M: Und verschlossener.
S: Findest du mich verschlossen?
M: Was ist das für eine Aufgabe, von der du gesprochen hast? Ein politisches Mandat?
S: Das klingt etwas hochtrabend.
M: Wenn du Politiker werden willst – und ich fände das eine gute Entscheidung –, dann könntest du viel von deinem Vater lernen. Er war imstande, Kompromisse zu schließen, aber er konnte sich auch durchsetzen. Die Leute akzeptierten seine Vorschläge, aber auch seine Entscheidungen.
S: Wie soll ich von ihm lernen? Er ist tot!
M: Ja, er ist tot. Nicht mal fünf Jahre hat er noch gehabt, um seine Freiheit auszukosten.
S: Sein Beruf war seine Freiheit.
M: Noch ganz zum Schluss, kurz bevor es zu Ende ging, hat er gesagt: „Sieh zu, dass der Junge eine gute Frau bekommt!“ – Es war wie ein Auftrag.
S: Warum hat er dir den erteilt?
M: Ich habe ein Gefühl für Qualität. Er wusste das.
S: Und? Hab’ ich dir schon mal leichte Mädchen ins Haus geschleppt oder mich sonst irgendwie für eine eigene Entscheidung disqualifiziert?
M: Sei doch nicht so aggressiv! Er wollte doch nur dein Bestes.
S: Mama, ich möchte dieses Thema nicht weiter erörtern.
M: Du weichst mir aus, wie immer, wenn es dir unangenehm wird.
S: Mama, das ist Heuchelei jetzt.
M: Was sagst du? Wie redest du mit mir?
S: Mama, ich war einmal mit Rudolf hier, du weißt, dass wir zusammen wohnen. Was denkst du dir dabei?
M: Was soll ich mir dabei denken? Nichts denk’ ich mir dabei.
S: Du solltest dir aber etwas denken.
M: Nun, ich denke, ihr werdet gute Freunde sein.
S: Sehr gute sogar. Wir schlafen miteinander.
M: Ach.
S: Mama, ich bin schwul.
M: Schrei doch nicht so!
S: Hast du Angst, die Eichhörnchen könnten es hören? Der Wald rauscht es den Nachbarn zu?
M: Nun steigere dich da nicht hinein! Vielleicht geht es wieder vorbei.
S: Nein, es geht nicht vorbei. Ich bin schwul!
M: Hör endlich auf, dieses schreckliche Wort zu benutzen! Kannst du das nicht anders sagen?
S: Ich lebe in einer homosexuellen Beziehung. Klingt das besser? Oder klingt es genauso abstoßend?
M: Ich weiß nicht, warum du ein solches Drama daraus machst. Kann man denn mit dir überhaupt nicht mehr in Ruhe reden?
S: Mama! Du ... Du bist gar nicht ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
M: Dann sag nichts! Hörst du?! Hörst du den Eichelhäher? Seit langer Zeit ist er zum ersten Mal wieder da.
S: Mama, es geht um meine Existenz, nicht um irgendeinen blöden Vogel.
M: Papa sagte immer, ihr jungen Leute nehmt euch zu wichtig, statt eure Aufgabe wichtig zu nehmen.
S: Papa hielt Schwule für einen schlecht wegradierten Orthografiefehler im Diktat des Lebens.
M: Das ist dir doch nicht jetzt eingefallen. So ein hochgestochener Satz findet sich irgendwo in deinen Tagebüchern.
S: Hast du sie gelesen?
M: Wie sollte ich? Du hast sie mir ja nie gezeigt.
S: Es war lange Zeit sehr schwer für mich, bis ich mir darüber klar war, und dann, weil ich euch die Wahrheit nicht zumuten konnte.
M: Du siehst, ich versuche sie zu schlucken. Es ist auch für mich nicht leicht.
S: Nein, ich weiß. – Habt ihr nichts geahnt? Habt ihr nie miteinander darüber gesprochen?
M: Nein, wir haben nie darüber gesprochen. – Und was ist das nun für eine Aufgabe, die du übernommen hast?
S: Ich weiß nicht, ob du begeistert sein wirst.
M: Wieso? Ist sie unehrenhaft?
S: Überhaupt nicht. Ich, äh, ich werde Referent unserer Partei für die Belange der Homosexuellen.
M: Was?
S: Ich wusste ja, du würdest es ungewöhnlich finden.
M: ‚Ungewöhnlich‘ nennst du das? Das ist ungeheuerlich! In dieser Minute bin ich zum ersten Mal froh, dass dein Vater nicht mehr am Leben ist.
S: Ich bin sehr traurig, dass du es so schwer trägst.
M: Halt! Ich muss einen Augenblick stehen bleiben. Warte!
S: Willst du dich auf die Bank da setzen?
M: Ja.
S: Komm! Vorsicht, die Wurzel! So.
M: Nein, nicht in die Sonne. Geh du nach rechts!
S: Weißt du, ich –
M: Wie willst du dich denn überhaupt durchsetzen, mit so einem heiklen Thema?
S: Wie meinst du das?
M: Du hast doch gar nicht die Kraft, das durchzustehen. Die Anfeindungen, der Spott.
S: Ach was! In welcher Zeit lebst du eigentlich? Und überhaupt: Doch, Mama, die Kraft hab’ ich. Von euch hab’ ich sie. Du siehst mich immer noch als dein Kind, und vielleicht benehm’ ich mich auch so, hier mit dir. Bei meinen Freunden und Feinden tret’ ich etwas anders auf.
M: Wirklich?
S: Bestimmt.
M: Muss denn das sein? Ich meine, wo es nun schon so ist. – Man kann ja alles Mögliche machen, wenn es einigermaßen diskret passiert. Aber was geht denn das die Öffentlichkeit an?
S: Nichts. Aber solange uns die Öffentlichkeit nicht gleiche Rechte einräumt, müssen wir kämpfen.
M: ‚Wir‘, ‚wir‘! Wer ist ‚wir‘?
S: Wir, das sind –
M: Nein, sag nichts! Jetzt willst du mir den Namen einer Gruppierung nennen, das hab’ ich nie leiden können. Solche Vereine setzen sich immer aus den Anfangsbuchstaben viel zu langer Wörter zusammen, und dann kann ich nachher den Deutschen Juristenbund nicht mehr vom Badischen Leichtathletikverband unterscheiden. Darüber hat sich dein Vater schon immer lustig gemacht.
S: Wenn du es nicht wissen willst …
M: Es kann auch mal wieder anders kommen. Dann bist du aktenkundig.
S: Das sind doch Klischees.
M: Hach! Was glaubst du, wie schnell das gehen kann!
S: Bisher hast du dich immer mehr darum gesorgt, dass die Parteien zu mächtig werden, die in dieser Hinsicht nicht gefährlich für mich sind.
M: Du hast also auch eine andere politische Richtung eingeschlagen.
S: Es sieht wohl so aus.
M: Ja, möchtest du es denn der Masse recht machen?
S: Nicht der Masse, aber jedem Einzelnen.
M: Denkst du dabei auch an deine eigene Zukunft? Von mir will ich gar nicht sprechen.
S: Ja, ich denke an die Zukunft, aber nicht wie du. Ihr habt immer nach Sicherheit gesucht: für euer Geld, für euer Haus, für euer Seelenheil. Ich hoffe, die Kirche war die richtige Versicherung für Papas Seelenheil, damit wenigstens etwas bleibt von dieser Sehnsucht nach Sicherheit bis in alle Ewigkeit. – Ich bin dreißig Jahre jünger, aber manchmal bin ich froh, wenn ich noch den nächsten Tag schaffe.
M: Ich sage dir doch, diese Aufgabe ist nichts für dich, wenn es überhaupt eine Aufgabe ist.
S: O ja, es ist eine Aufgabe, eine sehr wichtige sogar, auch wenn du das nicht verstehen kannst.
M: Vielleicht werde ich es ja verstehen können, wenn du mir etwas Zeit lässt.
S: Nein, du wirst mich nie verstehen. Man kann nur verstehen, was man fühlt.
M: So?
S: Wir haben unsere Schwierigkeiten, jawohl, unsere Verzweiflungen sogar, aber wir wollen wirklich unsere Schwierigkeiten haben, wir wollen anfangen, endlich unsere eigenen Probleme zu lösen, und wir wollen uns nicht dauernd eure Probleme aufdrängen lassen und eure Probleme mit uns.
M: Ist das ein Manifest?
S: Das ist ein Ziel, eine Hoffnung. Wir wollen aufhören, uns schuldig zu fühlen. Wir wollen leben wie ihr, anders als ihr. Besser, freier.
M: ‚Besser‘! ‚Freier‘! Besser wäre es, wenn du dich etwas zusammennehmen könntest und mir nicht von einem homosexuellen Grüppchen vorschwärmen würdest wie ein Backfisch von seinem Klassenlehrer.
S: Nein, Mama, nein! Ich will mich nicht länger unterdrücken lassen. Wenn du es wünschst, werde ich gehen. Aber ich werde mich nicht mehr beugen. Ich habe gelernt: Wenn ich meine Widersprüche und Triebe unterdrücke, dann beschädige ich mich.
M: Nun sei doch nicht so zimperlich! Schlaf von mir aus, mit wem du willst, aber hör auf, mir dieses Theater vorzuspielen.
S: O Mama! Du ziehst mir schon wieder den Boden unter den Füßen weg. Ich glaube, die Hölle, das wird ein Kasperletheater sein, mit Flammenkulissen, von dir gemalt.
M: Die Idee hat etwas Einleuchtendes. – Ich bin jedenfalls froh, dass du dich langsam zu beruhigen scheinst. Glaub mir, es ist auch für mich kein so leichter Vormittag, wie du annehmen magst, oh, und jetzt kommt zu allem Überfluss noch die Sonne hinter der Kastanie vor.
S: Wollen wir die Plätze tauschen?
M: Nein, lass nur, es geht schon. – Er hat mir eigentlich ganz gut gefallen, dein Rudolf. Natürlich kenn’ ich ihn bisher noch zu flüchtig ...
S: Du hast ihm komischerweise auch gefallen.
M: Und ihr lebt also zusammen. Was macht ihr denn so?
S: Wie meinst du das? Wir haben eben eine gemeinsame Wohnung.
M: Das weiß ich schon.
S: Na ja, und …
M: Und?
S: Was ‚und‘?
M: Na, ihr werdet euch doch nicht bloß an den Händen halten.
S: Also Mama!
M: Ist es ... schön?
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ERLÄUTERUNGEN
Es ist klar, was aus kleinen Jungen wird, die einen schwachen Vater und eine starke Mutter haben: Die werden schwul, weil sie in der übermächtigen Mutter für alle Zeit die Frau fürchten. Was aus kleinen Jungen wird, die eine schwache Mutter und einen starken Vater haben, ist auch klar: Die werden schwul, weil sie sich mit der leidenden Mutter identifizieren und sich dem Vater-Mann unterwerfen. Wie trotz solcher psychologischer Einsichten manchmal aus kleinen Jungen heterosexuelle Erwachsene werden können, hat die Wissenschaft noch nicht geklärt.
Auch das Rätsel der verwundbaren, verwundenden Bindung zwischen Eltern und Kindern ist oft beschrieben, aber nie gelöst worden. Wer nie Eltern hatte, kann diese Beziehung genauso wenig begreifen wie das sexuelle Gebaren Andersfühlender. Die Waise staunt, der Weise lächelt.
Eltern nehmen ihren Kindern zweierlei besonders übel: erstens, dass sie nicht so sind wie sie, und zweitens, dass sie jünger sind als sie. Beides aber nehmen sie sich noch mehr selbst übel, was ihr Verhalten völlig unberechenbar macht. Auf der anderen Seite stehen sie zu ihren Kindern, und selbst wenn sie sie nicht liebten, würden sie doch blutshalber alles für sie tun. Na ja, fast alles, jedenfalls die Mütter. Väter sind da etwas reservierter. Sie haben eben nur gezeugt und nicht gekreißt.
Über Väter und Söhne ist viel geschrieben worden, und jede neue Generation schreibt mindestens ein weiteres Kapitel dazu. Ob Ödipus seinen Vater aus Versehen tötete oder Orest seine Mutter aus Rache – hoch hergegangen ist es schon immer zwischen Erzeugern und ihrer Brut.
Womöglich wäre auch Hamlets Vater die Beziehung zu Ophelia weitaus sympathischer gewesen als die zu Horatio, doch da er tot war, konnte Hamlet ihn nicht mehr fragen, sondern auch bloß noch rächen. Die Welt hat in stolzer Trauer mit Vätern gelitten, die ihre Söhne im Krieg fürs Vaterland verloren haben, und sie hat Tränen gelacht, wenn sich in Boulevard-Komödien erzkonservative Söhne über ihre ausgeflippten Väter erregten.
Nicht jedem Vater ist es gegeben, das Problem wie Chronos kulinarisch zu lösen, und auch Medeas Einfall, ihren Gatten zu ärgern, brauchen wir als Ausnahme in diesem Kursus nicht zu berücksichtigen, unser Thema ist das nicht.
Wenn dagegen ein Vater seinen Sohn an einen Mann verliert, dann ist die Trauer schon weit weniger stolz, und hier setzt unser Lehrgang wieder ein.
Kein vernünftiger Schwuler wird darauf hoffen, dass sein Vater seine Neigung gutheißt, er wird höchstens verlangen, dass er sie hinnimmt – oder ihn in Ruhe lässt. Eine Frau wie seine Mutter kann sich in einer aufrichtigen Minute schon einmal vorstellen, was an einem Mann dran ist – von seinem Vater darf er solches Einfühlungsvermögen nicht erwarten.
Da aber die ersten Kindheitserinnerungen vieler Schwuler darin bestehen, dass sie ihren Vater in der Badewanne beobachtet haben, kann diese Gruppe sich an der Erinnerung nicht sattsehen, sondern nur immer hungriger, und deshalb versucht sie, ihm ständig irgendwelche Bisexualität nachzuweisen.
Der erste Schritt in diesem Indizienprozess ist einfach: Der Vater ist über die Veranlagung seines Sohnes entsetzt oder ‚spielt‘ den Gleichgültigen, woraus klar zu schließen ist, dass er nur auf diese mühsame Weise seine mühsam verdrängten Wünsche mühsam unter Kontrolle halten kann. Ab dann wird es mühsam, denn bei der weiteren Beweisführung bleibt der Wunsch meist Vater der Gedanken-Söhne, die sich dann entsprechend danebenbenehmen.
Irgendwann dämmert intelligenten Schwulen, die den Schock ihrer Triebrichtung verkraftet haben, die nächste schmerzliche Einsicht: Vater und Sohn haben kein gemeinsames Sexualobjekt: weder (wie üblich) die Frau, noch (wie erhofft) den Mann, und sie sind auch sonst nicht füreinander geschaffen.
Nun schlägt die Stunde der Mutter. Da sie in beiden Lagern Siegerin ist, vom Vater als Frau begehrt, vom Sohn als Instanz akzeptiert, die weiß, warum man Männer begehrt, darum eignet sie sich prächtig als Vermittlerin. Nun kann sie ihre Provinzen befrieden, und das goldene Zeitalter bricht an.
Ach, schön wär’s! Und manchmal ist es das ja auch. Was für eine wundervolle Stütze können sich Eltern und Kinder sein! Wie tröstlich können sie miteinander weinen. Wie angeregt können sie miteinander diskutieren, lachen und weiterbauen an der Welt, die ihre vorige oder vorvorige Generation geschaffen hat.
Die meisten Familien sind allerdings schon froh, wenn ihr gemeinsamer Tagesablauf in den Schienen routinierter Rituale daherhoppelt, ohne dass ständig jemand entgleist. Denn: Der Vater begehrt die Mutter nicht mehr im Mindesten (ohne dabei schwul zu werden), der Sohn akzeptiert die Mutter keineswegs als Instanz, die seine Triebrichtung versteht (ohne dass er deswegen heterosexuell würde), die Mutter versteht überhaupt nicht, warum ihr Sohn ‚so‘ ist, und ihren Mann hat sie auch höchstens mal geliebt, aber nie begehrt. So sieht es nämlich aus bei Hempels unterm Bett. Und wer hat das schlechte Gewissen deswegen? – Der schwule Sohn, völlig ohne Grund! Die Leute sollen doch dankbar sein: Keine Schwiegertochter würde sich das bieten lassen, was sein Liebhaber hinnimmt. Dabei liefern die beiden noch nicht mal Kleinkinder ab, wenn sie abends ins Kino gehen. – Aber das zählt ja nicht, das sind platte Argumente. Natur, Moral und Nachkommen dagegen sind erhaben. Die Natur liegt am Boden, die Moral auch – Nachkommen gibt’s keine. Also nichts wie ab zur nächsten Lektion, da werden zur Entspannung die Freuden des Jungseins beleuchtet.
Es gibt ja auch die psychologische Theorie, nach der die Kinder immer die „Position“ in der Familie einnehmen, die noch nicht besetzt ist. Aber am Ende bleiben das wahrscheinlich alles immer nur grobe Richtungen.
Ich dache, Kinder imitieren bestehende Positionen.
Ich habe beide Theorien schon mal gehört. Die untere klingt für mich logischer, die obere dafür interessanter.
An meine ersten Kindheitserinnerungen kann ich mich ehrlich gesagt gar nicht erinnern. Also ich kann nicht sagen, welche die ersten waren. Meine Eltern nackt im Bad zu sehen hat jedenfalls keinen allzu großen Eindruck hinterlassen.
Wenn Sie sich nicht erinnern können, sind es wohl keine Erinnerungen. Dann bleibt es halt bei den unspektakurären nacknen Eltern.
Ich erinner mich seltsamerweise sehr gut an unsere erste Wohnung. Da kann ich allerdings nicht älter als drei Jahre gewesen sein, danach sind meine Eltern umgezogen.
Und Sie mussten mit. Ungern? Ich habe mit sieben Jahren unseren Umzug von Berlin nach Hamburg gehasst. Und habe seither den Stadtteil nicht mehr verlassen (bis auf Reisen in alle Welt).
Obwohl Sex ja eigentlich (fast) alles bestimmt – spielt er denn wirklich eine so große Rolle innerhalb der Familie?
Im alltäglichen Familienleben wahrscheinlich eher nicht. Zumindest in der Beziehung der beiden Elternteile untereinander aber wohl doch.
Ich denke, die Eltern beobachten pubertierende Kinder recht genau auf ihr Sexualverhalten hin.
Gruselig irgendwie. Aber Sie werden recht haben.
Wenn die Eltern gegenüber ihren Kindern völlig ignorant und gleichgültig wären, wäre das aber genau so gruselig.
Gruselig ist es eher für Kinder, sich ihre Eltern beim Sex vorzustellen.
Es gibt ja sogar Kinder, die trifft es noch schlimmer. Und zwar wenn es nicht nur bei der Vorstellung bleibt, sondern die Schlafzimmertür im falschen Moment offen steht.
Irgendwie tröstlich, wenn dann der Mann im Bett der Pappi ist.
Der Sohn im Dialog ist zu bewundern. Bei der Mutter hätte ich schon lange aufgegeben.
Hahaha, das hab ich mir auch gedacht.
Wenn die Liebe groß genug ist, erträgt man vieles.
Sich komplett von den Eltern loszusagen ist auch ein ziemlich extremer Schritt. Selbst wenn man kein richtig enges Verhältnis hat.
Für eine gestandene Schauspielerin ist der Text, glaube ich, ganz vergnüglich.
Für den gestandenen Blogleser ebenfalls 😉 Man amüsiert sich und freut sich (oder hofft), dass die Realität oft weniger schlimm ist.
Nun ja, die Eltern kann man sich eben nicht aussuchen. Und selbst im überspitzen Dialog interessiert sich die Mutter doch am Ende. Happy ending quasi.
In jeder Art von Beziehung muss man Geduld miteinander haben. Anders geht es selten.
Jepp. „Die meisten Familien sind allerdings schon froh, wenn ihr gemeinsamer Tagesablauf in den Schienen routinierter Rituale daherhoppelt, ohne dass ständig jemand entgleist.“ Vielen Paaren geht es da sehr ähnlich.
Das war, als ich es schrieb, eine unfreundliche Beobachtung. Bei mir selbst lief der Zug anders, steht allerdings inzwischen an der Endstation Sehnsucht.
Durchaus unfreundlich, aber dadurch nicht weniger wahr. Jeder, der mehr für sich und sein Leben erwartet, hat recht. Aber es wird mit wachsenden Ansprüchen nicht einfacher. Für manche reicht schon die Sicherheit.
Nach Morgenstern ist die beste Erziehungsmethode für ein Kind, ihm eine gute Mutter zu verschaffen. Andersherum macht ein „gutes“ Kind aber manchmal auch aus der Mutter einen besseren Menschen.
hmmm, na ja gut, man lernt ja immer voneinander. dass gut erzogene kinder eine gute erziehung genossen haben scheint auch offensichtlich. was will uns morgenstern denn nun genau sagen?
Es geht wohl in die Richtung „Mutti ist die Beste“.
Der dem Kalauer nicht abgeneigte Dichter meinte wohl: Man solle sich gut überlegen, welche Frau ‚Mann‘ schwängert.
Man kann sich wohl zumindest darauf einigen, dass ein Kind es weitaus leichter hat, wenn es liebende Eltern hat.
Wie schon der Ex-Bundeskanzler und lupenreine Demokratie-Experte Gerhard Schröder sagte: ‚Fördern und fordern‘.
Die Eltern sind ja auch gar nicht ausschließlich dazu da, dem Kind eine gute Zeit zu bieten, sondern eben auch dazu, auf das eigenständige Leben vorzubereiten. Die Mischung muss halt stimmen.
Ich freue mich auf die Freuden des Jungseins heute Nachmittag! Wenn nicht im wahren Leben, dann doch wenigstens literarisch 😉
Naja.
Für mich sind solche oder ähnliche Dialoge keine Freude. Sie rufen Erinnerungen hoch – und sind damit schmerzlich. Muß ich nicht haben!