Fotos: Privatarchiv H. R.
1983 – ich sage gern – ‚lebte‘ ich in Paris, denn das tat ich wirklich, so kurz die Zeit auch war. Damals war der Klimawandel noch kein allgemein anerkanntes Problem, Rassismus fand aus heutiger Sicht überall statt, oft ohne böse Absicht, und Männer und Frauen, die sich im falschen Körper wähnten, galten als so kleine Minderheit, dass sie im öffentlichen Diskurs nicht vorkamen. Das Geschlecht ‚divers‘ war noch nicht erfunden.
Wovon man wusste, war, dass es Frauen gab, die sich sexuell etwas aus Frauen machen, und Männer, die untenrum ebenfalls das eigene Geschlecht bevorzugten. Das war nicht mehr so lebensgefährlich wie bisweilen in den zweitausend Jahren zuvor. Nicht mal mehr ins Gefängnis mussten die Kranken oder Verdorbenen, die sich widernatürlich betätigten, jedenfalls dann nicht, wenn sie das Glück hatten, in einem westlich-liberalen Land zu leben. Eine Ächtung gab es aber in weiten Kreisen immer noch. Mein Vater hätte sich sehr gewundert, wenn er gewusst hätte, dass Schwule im neuen Jahrtausend heiraten dürfen. Aber er war nicht prüde und akzeptierte (vielleicht ungern), dass sein einziger Sohn mit einem Mann zusammenlebte. In unserem Freundeskreis war er beliebt. Er hatte Charme und Witz und hat es – von sowjetischen Kommissaren bis zu amerikanischen Industriellen – immer geschafft, sein Gegenüber für sich einzunehmen. Er hatte Einfühlungsvermögen und den Wunsch, es seinen Partnern recht zu machen. Sich selbst natürlich auch. Er war konservativ genug, einen Fortbestand der Familie wohl gewünscht zu haben, aber einsichtig genug, um zu wissen, dass er mit Kindern nichts anzufangen wusste. Großvater? – Musste nicht sein.
Foto: Privatarchiv H. R.
Paris habe ich erst nach Rom und London kennengelernt. Im Dezember 1972. Eine Geschäftsreise mit Übernachtung. Da hatte ich mir Rom schon längst einverleibt: Jahr für Jahr schiere Kultur, sexlos. Ja, so war ich mal. London hatte ich 1971 hinter mir gelassen: von Frühling bis Herbst zwischen Mayfair und Hampstead, endlich etwas begegnungsfreudiger. Als ich im Mai ’77 auch mit Roland in Paris war, wusste ich schon oder immer noch: Davon will ich mehr. Aber wann?
Video (Ausschnitt aus ‚Pingpong ’77‘ – Teil 1): Privatarchiv H. R.
Sechs Jahre später traute ich mich. Bezahlbare Unterkünfte gab es nur am Stadtrand. Aber der Pianist Krystian Zimerman hatte im Marais eine Wohnung, die er mir zur Verfügung stellte. Dort konnte ich komponieren, schreiben, leben. In Paris war ich also, um zu ‚leben‘. So nennt man das aber nicht als Angestellter eines Industrieunternehmens. Also war ich da, um ‚mein Französisch zu verbessern‘. Mir waren einige Künstler zugewachsen (also aufgebrummt worden), deren Hauptsprache Französisch war, und so ließ sich mein Anliegen bemänteln und meine Abwesenheit rechtfertigen.
Foto: Privatarchiv H. R.
Wie jeder einigermaßen selbstbewusste Mensch wusste ich um meine Unersetzbarkeit, doch auf eine allzu lange Folter wollte ich meine Vorgesetzten trotzdem nicht spannen: Not macht nur allzu erfinderisch. Für einen Fortgeschrittenen-Kurs aber reichte die Zeit. Zwischen Lernen (oft in Gruppe) und Schlafen (manchmal allein) war noch Zeit, die nicht fürs Filmen draufging. So erdachte ich mir eine Art Sprachführer, inspiriert von den Lehrbüchern, die ich zur Vorbereitung meines Paris-Aufenthalts studiert hatte.
Video (Ausschnitt aus ‚Grüne Kringel ’85 – Teil 2): Privatarchiv H. R.
Das ist nun bald vierzig Jahre her. Ein veralteter Ausdruck wie ‚Neger‘ (so nannte man früher Schwarze) kommt einmal in der wörtlichen Rede vor, und ‚Normale‘ (abwertend für Heterosexuelle) lasse ich manchmal als Lokalkolorit stehen. Ein bisschen Patina schmückt. Ähnlichkeiten zu unserer Zeit gibt es dennoch reichlich. Unter denen, die es betraf, ging die Aids-Angst schlimmer um als heute die Furcht vor Corona. Genderitis war noch unbekannt, also kümmerte man sich nicht groß um das Geschlecht derer, denen man sowieso nicht an die Wäsche wollte, sondern benannte alles und alle einfach so, wie einem der Schnabel (oder etwas ähnlich Hervorstechendes) gewachsen war. Masken trug man nicht. Man hütete sich damals nicht gleich vor allen Fremden auf der Straße‚ bloß vor ‚schlechter Gesellschaft‘. Es sei denn, man gehörte selbst dieser Gesellschaft an und verhielt sich leichtsinnig queerdenkend oder hasenfüßig enthaltsam. Trotzdem – ich muss es zugeben – war man damals doch ein bisschen dankbar, wenn man, dass man, vom Gros der Unschwulen nicht ausgegrenzt wurde. Die Forderung ‚Finde mich gefälligst selbstverständlich, du Scheißhete!‘ stand noch nicht im Raum, im Park, im Gesetzbuch und war auch nicht unser Selbstverständnis.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
So vieles Gute ist seither erreicht worden! Nicht immer im Guten, sondern oft im Rabiaten. Geht nicht anders. Genug ist es ja sowieso noch immer nicht. Nie. Was wird denn sonst aus unseren Zielen? Alltag. Mist. Doch selbst bei heutigem immer noch verbesserungswürdigen Stand muss der Lebensfrohe einräumen: Mit Political Correctness und Identitätspolitik ist das Leben anstrengend und Humor ausgeschlossen, denn es ist das Wesen des Humors, unkorrekt zu sein und nicht, Identifikation zu schaffen, sondern Abstand. Trotzdem: weiterkämpfen! Auch bei uns? Was schon 1982 in New York möglich war, zeigt mein Film-Ausschnitt von damals. Irene mittendrin. Aber dann kam eben Aids …
Video (Ausschnitt aus ‚Spiel ’82‘ – Teil 2): Privatarchiv H. R.
Vom Pleistozän bis zum Jahr 2000 lebte der Mensch (zunächst der Homo erectus, bis gestern unser Vater) in einer ‚analogen‘ Welt. Das traf auch auf den Homo sexualis zu, selbst wenn mancher sich in einer ‚analen‘ Welt wähnte. Seit wir überwiegend digital funktionieren, hat sich auch unsere Gefühlswelt verändert. Das Kennenlernen ist dem Dating gewichen, und natürlich macht es einen Unterschied, ob ich erst auf einem rechts oder links getragenen, farblich aussagekräftigen Taschentuch ablesen muss, ob jemand dasselbe will wie ich oder ob mir bereits eine App anzeigt, wer im Umkreis von drei Meilen der Deckel ist, der auf mich Topf passt. Apps behaupten zwar, vor Corona zu schützen, Irrtümer in der Partnerwahl gelten allerdings wie Erdrutsche im Versicherungswesen als höhere Gewalt. Das schicke ich vorweg, denn auf die virtuelle Form der Anbahnung werde ich im Haupttext nicht mehr zurückkommen, während ich mein Forschungsobjekt seziere.
Foto: Claire Houck from New York City, USA/Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.0
Es wird dabei um Solotänzer gehen, herausgelöst aus dem Gesellschaftstanz der Übrigen. Sie sind also nicht Durchschnitt, aber innerhalb ihrer Gruppe manchmal ganz schön durchschnittlich. Ärgerlich, denn fast jeder wäre gern außergewöhnlich. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass sich jeder gern als ‚nicht normal‘ bezeichnen ließe, selbst wenn ihm einleuchtet: Das Normale ist nicht außergewöhnlich, noch ist das Außergewöhnliche die Norm. Das augenblickliche Gerede um Identitätspolitik kommt mir als Betroffenem so vor, als diene es nur dazu, die Kluft zwischen Üblichem und Besonderem wieder zu vertiefen. Hofft die Corona-Kanzlerin auf Inzidenzwerte unter 50 Prozent oder besser noch unter 35 Prozent, so scheint die SPD-Spitze ambitionierter und Werte unter 10 Prozent bei der Bundestagswahl im September anzupeilen.
Foto links (Kevin Kühnert, SPD): picture alliance/dpa / Jörg Carstensen | Foto rechts (Saskia Esken, SPD): Martin Kraft/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
Wir gehen anders vor. Der vorliegende Kursus versucht in dreißig Lektionen das Besondere im Alltäglichen auszuleuchten: tänzerisch – mal Schamanentanz, mal Pas de deux. Tanz als Zeremoniell und Tanz als Selbstaufgabe. Teufelstanz im Teufelskreis. Erweckungstanz, Totentanz. Groteske. Bei der erneuten Durchsicht der Dialoge glaubte ich jetzt zu spüren: Die Zeiten ändern sich, die Menschen nicht.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Um den Ansatz meiner Bemühungen besser zu verstehen, schicke ich dem eigentlichen Studium drei Briefe – wie immer an Pali – voraus: den ersten, in dem ich meine Absicht formuliere, zwei weitere vom Aufenthalt selbst. Susi, meine enge Freundin und Palis (fast Privat-)Assistentin, Susi las die Briefe auch immer mit und wird deshalb ein paarmal einfühlwillig erwähnt. Am Sonntag geht es los.
Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Titelbild: Catarina Belova/Shutterstock
Erster Januar Zweitausendeinundzwanzig#2 – Totensonntagseuphorie
Da sind Sie ja wieder. Und dann gleich mit einem Teufelstanz. Ich hatte Sie am Sonntag bereits vermisst.
Danke. Aber am kommenden Freitag auch. Dramaturgie.
Anarchie 😉 Dann freue ich mich umso mehr auf den von Ihnen bereits angeteaserten Kurs!
Erstmal kommen ja noch die angeteaserten Briefe
Ja. Und da ist mir auch nach 40 Jahren noch etwas blümerant, wenn ich an die Reaktionen denke.
Schwule dürfen im neuen Jahrtausend ganz selbstverständlich heiraten. Nur der Vatikan verweigert stur seinen Segen und sieht dabei seltsam aus der Zeit gefallen aus.
Wer allgemeingültig sein will, hat es manchmal schwer, Mode von Zeitenwander zu unterscheiden.
Gegen eine Wohnung im Marais hätte ich auch nichts einzuwenden. Sei es auch nur für ein paar Monate. Aber das ist heute bestimmt noch weniger bezahlbar als in den 1980ern.
Ich habe mal etwas von bis zu 25.000€ pro qm2 gelesen. Jedenfalls für etwas hochwertigere Wohnungen in der Lage.
Da freue ich mich an meinen preiswerten Erinnerungen.
Man wird glatt neidisch
Interessant! Neidisch nicht auf Erlebnisse, sondern auf Erinnerungen. Die sind sowieso bequemer.
Finde mich gefälligst selbstverständlich. So kann man es auch sagen. Aber muss man überhaupt zu allem eine Meinung haben?
Muss man anderen deren Meinung zubilligen?
Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen wähnen, wenn jemand eine Meinung ausspricht.
Die neue Lesart: Wer sich angegriffen fühlt, wurde angegriffen. Punkt.
Das ist in der Tat eine höchst seltsame Sicht der Dinge. Diese Entwicklung im gemeinschaftlichen Verständnis verstehe ich nicht.
Ich weiss gar nicht ob sich wirklich so viel geändert hat. Diese Apps schützen ja z.B. nicht vor Corona, sondern teilen uns lediglich mit, dass wir einem Risiko ausgesetzt waren.
Es gibt narürlich Risiken, bei denen einem die App. egal ist.
Das mit der Corona-App stimmt natürlich, aber ansonsten hat sich wohl schon sehr vieles geändert. Auch wenn es um die Pandemie geht muss man froh sein, dass uns das im Jahre 2021 lebt und nicht in den 80ern.
Aids in den 80ern war viel tödlicher, aber bei der Zielgruppe der Schwulen und Bluter und den Übertragungswegen war ein Shutdown nicht erforderlich. Kondom-Empfehlung reichte.
Man mahnt heutzutage immer an, dass Ungerechtigkeiten mit Vernunft und Anstand aus der Welt geschaffen werden müssten. Aber manchmal geht es nur rabiat. Auch der eigentliche Christopher Street Day war ein gewalttätiger Aufstand. Da kann man Bewegungen wie BLM in den USA keine großen Vorwürfe machen.
Was daraus wird, wenn alle mitreden dürfen, sehen wir am Umgang mit Corona. Basis-Demokratie ist etwas für ruhige Zeiten.
Huch, dürfen da denn alle mitreden? Wird da nicht eher recht wahl- und ziellos hin und her entschieden?
Entschieden wird zwischen den Länder-Oligarchen, der wissenschaftsgläubigen Regierung und dem vermuteten (un)gesunden Volksempfinden. Und bei der Impstoffbeschaffung so, dass Bulgarien, Estland und Irland gleichermaßen zufrieden sind.
Und nicht zuletzt natürlich so, dass die eigene Wiederwahl möglichst abgesichert ist. Bei der CDU scheint der Plan momentan allerdings gar nicht so sonderlich gut aufzugehen.
Abwarten. An einen grünen Kanzler glaube ich trotzdem noch nicht.
Eine grüne Kanzlerin wär‘ doch mal drollig. Wer hat Merkel etwas zugetraut, bevor sie an die Macht kam? Ihr Vorgänger jedenfalls nicht.
Warum denn nicht gleich eine diverse, also gender-fluide Kanzler*in? Wenn schon, denn schon. Aber Spaß beiseite, neue Einflüsse sind selten schlecht. Es soll ja eine Weiterentwicklung geben, keinen Stillstand.
Neue Einflüsse sind wertneutral. Sie können in die Diktatur, den Turbo-Kapitalismus oder den sozialen Rechtsstaat führen.
Genau. Ob der Einfluss positiv oder negativ war, weiss man meistens ja doch erst im Nachhinein. Man kann höchstens den Fakt, dass es überhaupt neue Einflüsse gibt, positiv bewerten.
Jetzt sind wir wohl doch erstmal wieder bei einer Inzidenz um die 100. Das heisst dann wohl auch, dass sowohl Frau Merkel wie ihre politischen Mit- und Gegenspieler sich ebenso gedulden müssen wie wir es tun.
Dafür darf jetzt aber wieder mit dem unbeliebten Astra-Wirkstoff geimpft werden. Aber wenn man sich anschaut, dass es 37 Komplikationen bei 17Mio. geimpften Menschen gab, dann sollte das wohl schon in Ordnung gehen.
Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich Menschen verunsichern lassen. Eine Terroristenschwalbe macht schon einen Paniksommer. Ein vergifteter Schokoriegel im Regal kann einen ganzen Lebensmittelkonzern ruinieren.
Wer eh schon skeptisch auf die Corona-Politik der Bundesregierung und die deutlich ausgesprochene Impfempfehlung sieht, der freut sich natürlich über solche unerwarteten Nebenwirkungen.
Das Besondere im Alltäglichen – das scheint also ein klassischer Rinke zu werden. Ich freue mich darauf.
Danke. Aber erst mal müssen wir durch drei Briefe durch ohne Alltägliches.
Na dann mal los 😉