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Wahnsinn

An den Wahnsinn

Du Gatte der Nacht aus dem Reich der Träumer,
des kurzen Schlafs, des langen Todes mittleres Geschwister du.
Als Nebel des Vergessens bist du mir willkommen:
mit tröstlich warmer Blindheit schützt du dann die Augen,
die stolz – zu stolz in dein Gebiet geschaut,
die in zu steile Höhe ihre Blicke zwangen,
führst strafend, lohnend du zurück in tiefsten Schoß.

Nach kühnstem, grellstem, schauerlichstem Blitz
bist du der runde Donner,
letzte Antwort auf die Frage aller Fragen,
Weg dort, wo kein Weg ist,
Mahnmal des Suchens und Versagens.
Du kündest uns, dass zu verbissenes Trotzen
ein Scheitern bleibt und reihst angleichend
das Genie dem allerschwächsten Geist.
Den Menschen lässt du nicht zerbrechen unter seiner Last,
die er getragen, ach, so gern!

Stählerne Klingen kriegerischer Wirklichkeit
machst du zunichte, führst den Greis, den jungen Mann
ans Tor der Ewigkeit zurück, wenn er genug gelitten,
ans Tor der Ewigkeit, die er dann doch
nur durch die Hintertür und nach geraumer Zeit erreicht:
Im Wartezimmer endet er sein Leben –
der Virus bist du, und der Arzt zugleich.

Wer möchte nicht, wenn er in alle Himmel sehnend stürmt,
im selben Augenblick in deinen Armen Ruhe finden?
Wer weiß schon, wenn er spürt, wie es ihn vorwärts stößt,
ob er raketengleich emporschießt, um an Gottes Stirn zu lesen,
ob er vielleicht ins weiche Bett stürzt oder schwebt,
von dir bereitet, ihn zu schützen und zu wärmen?
Du, Flamme, löschst die Zahlen, Zeichen,
als seien sie in Wachs geritzt, das nun zerschmilzt,
zerrinnen muss zu neuen Formen – gleicher Stoff, doch frisch geprägt.

In Stein gemeißelt, gläserner Bestand,
scheint, was verstiegener Verstand
uns überliefert und geschaffen.
Dein Wind, nur zärtlich lau, geht über unsre Waffen –
schmächtiges Bollwerk wird zu Staub und Sand,
Papierschirmchen, vom Wasserfall zerrissen.
Denn mit Gewalt zwingst du den Starken, der sich widersetzt,
der Schwächliche erliegt dir eher, wehrt sich kaum zum Scheine,
weniger Mensch, mehr Werkzeug, schnell bereit,
Lohn oder neuen Dienst in dumpfer Demut zu empfangen,
brauchst du den Willen dessen nicht zu brechen,
der nie den Wunsch besaß, ihn zu besitzen.
Den andern nur, der dich schon ahnt, erfürchtet und erhofft,
sich dir mit allem stellt, was er nicht hat, was dir gehört –
ihn nimmst du ganz und nimmst ihm alles,
lenkst ihn zum Guten – oder lässt ihn treiben?
Groß ist dein Meer, das um die Klippe unsres Lebens brandet.

Dein Hauch lässt Wurzeln sterben, Blumen knospen.
Der Schweiß, den du uns treibst, ist klebrig süß,
sein Duft steigt nicht empor,
sinkt zwischen Moos und Anemonen,
wiegt uns, die Müden, sanft in Schlaf.
Herbst, du Verfall des Leibes wie der Seele,
traumblaue Sehnsucht stillst du,
Tränen längst erstarrt,
verhärtet zu bizarren Zapfen,
rosteisendem Metall –
du löst sie!
Außenwelt fest abgeschirmt,
kein Mensch dringt durch die Mauer deines Friedens,
innigste Glättung rauh zerfurchter Sorgen,
Ende der Bürde,
Unschuld, nie besessen,
kehrt ein in dir,
wiedergewonnen frühste Kindheit; nicht umsonst
fällt manchmal die Entscheidung schwer:
Narr oder Weiser.
Wohlig weiche Stumpfheit;
nach schrillem Lärm
tief-tiefe Ruhe du.
Lohn zäher Mühen,
schwimmendes Verschwimmen,
was ist es, das mich zittern lässt vor dir?
Der klaren Melodie, die uns zu fad geworden,
setzt du verschwomm’ne Harmonien.
Doch gleichst du äuß’re Nüchternheit damit nicht aus,
Zwiespalt nur wächst aus dir,
und deine Finsternis durchzucken Stunden
von fahlem Licht zerberstend. Grell
zischt aller Schmerz zornglühend auf,
der jäh den Menschen zu dir trieb,
wühlt für Sekunden, die dein Schutz vergaß.

Nicht heller Tag des Wissens, kurz und gut,
noch Nacht des stummen Todes du! –
Dämmerndes Grauen, ja, dein Lächeln lockt,
doch grinst es Hohn dem Edelsten in mir.
Du Zwitter sollst mich nicht verführen!
Den Schacht, den ich mir grub, betret‘ ich nicht:
ich blicke nur hinab.
Denn in den Himmel fließt mein Dom,
fromm, gotisch, hoch und heiter.
Wille zur Reinheit formt sein Fundament.
Ursprünglichkeit ist Kanzel,
Klarheit Predigt.
Wahrheit heißt mein Altar.
Ihr Tore, ewig offen, seid Apostel.
Die wache Orgel tönt noch in Kadenzen,
mein Evangelium ist ihr Klang.

Durch buntes Fensterglas scheint tags Geborgenheit,
nachts braust noch lauter der Choral,
und alle Säulen, Kreuze, Schiffe sind die Chöre,
die dich bezwingen, denn sie töten meine Qual.

Ewige Lampe,
nie wird sie mir löschen,
ihr rotes Glühen sei Gewissheit und Befehl!
Dein irres Stammeln geisterte –
kühl strich es meine Haut.
Licht dringt.
Verblasse, Schatten!
Flieh!
Weißt du nicht, dass sie Panzer ist?

(So sah ich das 1966 mit zwanzig. Kein Wunder, dass aus mir kein Achtundsechziger wurde …)

Foto: Privatarchiv H. R.

14 Kommentare zu “An den Wahnsinn

  1. Sie muß immer sinnen: Ich bin… ich bin…
    Wer bist du denn, Marie?
    Eine Königin, eine Königin!
    In die Kniee vor mir, in die Knie!

    Sie muß immer weinen: Ich war… ich war…
    Wer warst du denn, Marie?
    Ein Niemandskind, ganz arm und bar,
    und ich kann dir nicht sagen wie.

    Und wurdest aus einem solchen Kind
    eine Fürstin, vor der man kniet?
    Weil die Dinge alle anders sind,
    als man sie beim Betteln sieht.

    So haben die Dinge dich groß gemacht,
    und kannst du noch sagen wann?
    Eine Nacht, eine Nacht, über eine Nacht, –
    und sie sprachen mich anders an.
    Ich trat in die Gasse hinaus und sieh:
    die ist wie mit Saiten bespannt;
    da wurde Marie Melodie, Melodie…
    und tanzte von Rand zu Rand.
    Die Leute schlichen so ängstlich hin,
    wie hart an die Häuser gepflanzt, –
    denn das darf doch nur eine Königin,
    daß sie tanzt in den Gassen: tanzt!…

  2. Sind wir nicht alle wahnsinnig? Kann man die Welt überleben ohne wahnsinnig zu sein? Bzw. ist das denn überhaupt erstrebenswert? Ich zweifle…

  3. Das Leben besteht aus wenigen lichten Momenten des Wahnsinns… hat mal irgendjemand der wohl sehr schlau war gesagt.

    1. Das Leben besteht vor allem aus ’ner Menge Pappnasen, die einem einreden wollen, dass man irre ist. Dabei folgt man in der Regel nur nicht blind den ganzen stupiden Mainstream-Massen. Aber wenn’s das Label braucht, ja dann bin ich gerne wahnsinnig.

    1. Das ist eine der beiden politischen Möglichkeiten. Entweder man wird schön wohlig weich eingepackt und so zu- und abgestumpft, dass man links und rechts nichts mehr mitbekommt (Merkel) … oder so eingeschüchtert, aufgekratzt und angespitzt, dass man jeden Scheiss als Bedrohung sieht (AfD). Beides ziemlich gefährlich.

  4. Hildegard Knef hatte einen Song: „Wer nicht verrückt wird, der ist nicht normal …“ Aber zwischen dem alltäglichen Wahnsinn und Nietzes Geistiger Umnachtung gibt es vermutlich einige biochemische Unterschiede.

    1. Die Knef sagte ja auch: „Ich habe ein einfaches Rezept, um fit zu bleiben – Ich laufe jeden Tag Amok.“ Vielleicht taugt das nicht nur als Rezept um in Form zu bleiben, sondern auch als Rezept um nicht völlig verrückt zu werden. Quasi den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

    2. Die Verrückten denken, dass sie normal sind. Die Normalen wissen aber, dass sie verrückt sind. So läuft die Welt.

    3. „Normal“ klingt halt immer gleich langweilig. „Abartig“ wiederum zu durchgedreht. Solange man sich auf „seine kleinen Macken“ berufen kann, die einen doch so liebenswert machen, ist alles gut.

  5. A propos Wahnsinn: Ich warte immer noch auf eine detaillierte Analyse der US-Amerikanischen politischen Situation durch Hanno Rinke 😉

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