Leben lernen / Ein Versuch
Die Einleitung
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#1.1 Die Ausgangssituation
Zu sterben wäre nach allem, was ich schon erlebt habe, angemessen, aber auch schade; denn für diese Saison habe ich mir mehr vorgenommen, als ich verkraften kann. Mal sehen, ob ich es doch verkraften kann. Schon früher habe ich nur das ausgehalten, wozu ich mich gezwungen habe. Geblieben von damals ist eine Art Geilheit ...
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#1.2 Die Eingangssituation
Jeden Morgen, wenn die Ritzen in meinen Rollläden und mein Verstand mir sagen, dass ein weiteres Schlafen nicht mehr möglich oder nicht mehr sinnvoll ist, dann sage ich ungläubiger Christ stumm vor mich hin wie ein Mantra, wie das Aya einer Sure, wie eine Perle aus dem Rosenkranz: „Lieber Gott, lass mich sterben, lieber Gott, lass mich sterben ...“
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Die erste Reise
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#2.1 Herr, mach ein Ende!
Das, bis hierher, habe ich geschrieben, bevor es losging: authentisch. Was jetzt kommt, schreibe ich mehr als ein Jahr später: ein Segen für den Leser. Nun habe ich das meiste vergessen und muss mich – notgedrungen – kurzfassen, also: auf das Wesentliche beschränken. Tja, da fängt es schon an: Was im Gedächtnis hängen bleibt vom Besuch des Petersdoms, ist für den einen der weihevolle Schauplatz, für den Nächsten, dass ihm das Portemonnaie geklaut wurde ...
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#2.2 Mord und Totschlag in Flaschen
Unser Mittagstisch war in der ‚See-Idylle‘ gedeckt: ‚An der Seemühle 4, in 16868 Wusterhausen/Dosse‘ lautete die Adresse. Ich frage mich, wie meistens antwortlos, ob ich, als ich jung war, auch so aufs Geratewohl herumgereist wäre, wenn es damals das Internet schon gegeben hätte.
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#2.3 Kein Reisebus mit hundert Rentnern
Zunächst aber wollten wir das Prunkstück des Ortes betrachten: Schloss Ribbeck. Bis zur Wende war der Bau systemkonform verkommen und verfallen (für die geschätzten Kosten des Außenanstrichs bekam man 1988 schon eine ganze Hochhauswand in Platte), seit 2009 neu eröffnet in aristokratischem Glanz.
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#2.4 Sicher und diskret genießen
Annemarie war 1951 – nach meinen Eltern – die wichtigste Bezugsperson für mich. Sie war in meinen Augen schon fast erwachsen und verfügte offensichtlich über Erfahrungen, die bei uns im Grunewald kaum zu machen waren. Wenn sie mich ins Bett gebracht hatte, sagte sie, bevor sie die Tür schloss: „Träum süß von sauren Gurken!“
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#2.5 Verwanzte Unterwäsche
17.11.1967
‚Als ich Donnerstagmittag losfuhr, nahm ich leider mein Tonbandgerät nicht mit, erstens weil ich damit rechnete, Freitagabend schon wieder zurück zu sein, zweitens und entscheidend, weil es doch allen Ostzonengrenzbeamten unter Sibirienandrohung untersagt ist, Transitreisende mit Tonbändern den Marsch durch das Territorium der sowjetisch besetzten Zone in die selbstständige politische Einheit Westberlin zu gewähren, ...
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#2.6 Schmutzige Bilder, blankes Grauen
Am Übergang brach natürlich das Grauen über mich herein. Mein Gewissen wird automatisch schlecht, wenn es eine Grenze spürt, was aber völlig nebensächlich ist, weil ich ja weiß, wie nahe selbst dem reinsten Gewissen die Scheiterhaufen der Inquisition und die Gulags Sibiriens sind. Zagend passierte ich die Mauer. Alles war grau, barsch, feindselig. Schaudernd lenkte ich meinen Kadetten in Richtung Marx-Engels-Schlossplatz.
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#2.7 Der zerrissene Vorhang
Von solchen Erlebnissen kann ich viele ausgraben. Ich beschränke mich auf nur ein weiteres, siebzehn Jahre später, im Oktober 1984:
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#2.8 Symbolfigur der freien Welt
Craig machte das übliche betretene Gesicht, das er berufshalber aufsetzt, wenn er Smoking trägt und Bernsteins Kleidung durch die Flure oder wenn er Fans den Zugang ins Allerheiligste verwehrt.
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#2.9 Wien in Berlin
Wir fuhren zum ‚Hotel Metropol‘. Es ist die etwas größere Ausgabe des ‚Hotels Unter den Linden‘, steht ihm aber an Geschmacklosigkeit nicht nach. Neben Bernstein hatte sich ein sehr blauäugiger junger Mann positioniert und genoss es, dass ihn der Empfangschef als Bernstein-Begleitung einlassen musste, obwohl er wegen politischer Unbotmäßigkeit seinen Posten als Portier dort verloren hatte ...
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#2.10 Ein schockierender Trinkspruch
Nachdem das Gepäck in unseren ‚Dude‘-Räumen verstaut war, fuhr Rafał mich zu Tim Lienhard. Wikipedia nennt ihn ‚Reporter, Autor und Produzent‘. Er wohnt, wie sich das gehört, in einer schmucken Altbauwohnung.
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#2.11 Flüchtlinge unwillkommen!
Am 18. Mai, einem Donnerstag, verabschiedeten wir uns von der Empfangsdame des ‚Dude‘, um 10 Uhr wie vorgesehen, und zwanzig Minuten später verabschiedeten wir uns auch von Berlin, bereit zu Neuem.
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#2.12 Herz in Schwefelsäure
Nicht nur, dass man alles, was direkt am Wegesrand liegt, mitnehmen muss, ein bisschen Umweg ist auch gerechtfertigt. Der schnellste Weg von A nach B ist etwas für Vielflieger, ich bin auto.
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#2.13 Auf Entzug
Ich mache jetzt keine ausführlichen Landschaftsbeschreibungen, füge lieber anschauliche Bilder ein und beschränke mich – ausnahmsweise – auf das Wesentliche.
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#2.14 Kein Weg zum anderen Ufer
Silke und Rafał kamen zurück. Da saßen wir in Görlitz, ziemlich allein, am Ende der Welt, am Beginn der Reise. Keine Müßiggänger, aber Müßigsitzer. Für Rafał war es Beruf, für Silke und mich Lebensabend, na ja, später Nachmittag.
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#2.15 Man muss es mögen
Ein sanftmütiger Vorfrühlingstag, licht und leicht. Die Vögel äußerten sich. Für Menschenohren war es schwer auszumachen, ob sie jubilierten oder klagten. Wenige, lange Töne halten wir im Allgemeinen für Trauer, viele, kurze deuten wir als Frohsinn. Es war Zwitschern, sonst nichts.
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#2.16 Im Rollstuhl
Genau gegenüber der Fleischerei beginnt eine Querstraße, die geradeswegs auf den Roosens Weg zuführt. Sie heißt Ernst-August-Straße, und kein Mensch interessiert sich dafür, wer das wohl mal war. (Der Pinkel-Prügel-Prinz aus Hannover kann ja nicht gemeint sein.) Wir bewegten uns die Ernst-August-Straße herunter: Guntram, von mir geschoben, ich von Erinnerungen, Irene von Wehmut erfüllt.
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#2.17 Ganz unterschiedliche Ringe
Nachdem Rafał den Rollstuhl wieder in die Dachbox bugsiert hatte, fuhren wir keine zehn Minuten; dann kamen wir erst an eine Neiße-Brücke und gleich darauf unkontrolliert nach Polen. Schlesien ist das Gebiet meiner Vorfahren ...
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#2.18 ‚Die Wurzel von Leid‘
Zum Mittagsimbiss blieben wir im Hotel, ich blieb sogar bis zum Abend in meinem ‚Art‘-Schlafraum. Um Silke und Rafał nicht um ihren Nachmittagsausflug beneiden zu müssen, redete ich mir ein, dass mir inzwischen die wesentlichen Teile von Breslau vertraut seien und ich sparsamerweise den Zimmerpreis abzuwohnen hätte. Klappte ganz gut.
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#2.19 Geheim oder wirklich geheim
Am Sonntagvormittag gingen wir erst in die Kirche, dann fuhren wir weiter. Breslauer Dom und Landstraße. Das Ewige und das Treibende. Wer wie ich in allem ein Prinzip sucht, der findet es auch.
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#2.20 Karriere einer Kokotte
Reinholds jüngster Bruder Viktor wurde Arzt wie sein Vater. Geheim war da nichts mehr, aber er rückte doch aus: vor seiner Frau, als Stabsarzt nach Kamerun, eine der wenigen Kolonien, die die Deutschen zu ergattern vermocht hatten. Aber im Gegensatz zu ihren Schwägerinnen setzte Viktors Frau alles daran, ihren entflohenen Ehemann zurück zu bekommen.
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#2.21 Moralische Bedenken
Was ich von Oppeln nicht wusste, war, dass es die Hauptstadt Oberschlesiens gewesen war, dass es erst mal zu Mähren gehört hatte, ab 907 zu Böhmen, ab 990 zu Polen, 1039 wieder zu Böhmen, 1050 von Kasimir I. zurückerobert wurde und dass 1138 nach dem Tod von Bolesław III. Schiefmund (den hatten wir schon mal) Schlesien an seinen ältesten Sohn ging. Der wird in der Geschichtsschreibung ‚Władysław der Vertriebene‘ genannt; ein echter Spoiler, der die Spannung effektlos runterschraubt, weil man gleich weiß: Das Glück währte nicht lange.
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#2.22 Schlimme Orte
Zabrze/Hindenburg und Gliwice/Gleiwitz gehen ineinander über. Auschwitz liegt etwas abseits der Strecke auf dem Weg nach Krakau. Gleiwitz und Auschwitz sind zwei Namen, die fatal mit der deutschen Geschichte verbunden sind, und Silke und Rafał waren sich so einig wie selten: Dahin wollten sie auf keinen Fall.
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#2.23 Vierzehn Meter hoher Papst
Am Montag war kein Urlaubswetter, jedenfalls kein gutes. Um 11 Uhr holte uns der vorbestellte Elektrokarren ab. Die Umgebung wirkte etwas milchig und das war gut so. Statt aus unserer Motorkutsche direkt in die Straße gucken zu müssen, sahen wir nämlich durch eine Art Haut, die uns sicher vor Regen und halbwegs vor Kälte schützte. Na ja, Sonne ist hübscher, aber wenn es die nicht gibt, soll man sich über ziemlich durchsichtiges, strapazierfähiges Plastik nicht beklagen, sondern freuen, selbst wenn man sonst streng darauf achtet, die Ozeane nicht mit Plastik zuzumüllen.
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#2.24 Absicherung gegen Alltagsrisiko
Am Nachmittag kam Rafałs Schwester Zaneta, und ich wurde gleich begrüßt wie der ausländische Schwiegervater. Küsse mussten die sprachliche Verständigung ersetzen. Zum Abendessen blieben wir drei West-Besucher vor Ort. Vier gestandene Männer, vermutlich die Hausverschönerer, saßen ebenfalls im Roten, sonst wären wir uns doch sehr einsam vorgekommen und nicht wie im Hotel.
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#2.25 Panzer aus Pappe
Silke und Rafał kamen zurück. Spät war es noch nicht. Ein Ausflug war noch möglich; auch lag Rafał daran, seine halbgeliebte Heimat in ein besseres Licht zu rücken, zumal die Sonne bereit war, ihn dabei zu unterstützen. So fuhren wir nach Piotrków Trybunalski, wohin denn sonst? Die Deutschen nannten den Ort Petrikau, das fanden sie besser zu behalten und auszusprechen.
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#2.26 Gräten der Sünde
Den meisten Deutschen ist Łódź von einem Schlager her bekannt. Die auf Korfu geborene Βίκυ Λέανδρος, zu Deutsch: Vicky Leandros, behauptet in dem Lied, ganz dringend nach Łódź zu wollen. Dabei wollte sie das Lied erst gar nicht singen ...
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#2.27 Genies, Genießer, Sieger, Mister
Für die Fahrt von Łódź nach Warschau braucht man anderthalb Stunden, Rafał also eine. Dabei irritierte Silke Rafał wie immer, wenn er beschäftigt ist – mit der zügigen Bewältigung von Strecke (er) –, von hinten (sie): von Furcht geplagt (auch sie) mit ihren wirkungslosen, aber störenden Schnapplauten.
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#2.28 Das GROSSE GANZE gegen das kleine unerhebliche
Zum nächsten Chopin-Wettbewerb fünf Jahre später reiste ich wieder an. Wieder konnte ich den Sieger verpflichten. Stanislav Bunin. Auch über ihn lese ich mit Erstaunen, dass er eine Weile in Hamburg gelebt hat, jetzt in Japan wohnt und weltweit gastiert. Seltsam, in den Medien, die ich verfolge, kommt Klassische Musik kaum vor, eher Pop-Alben, Kino, Literatur, Seelen-Graffiti. Vielleicht ist die Klassik gar nicht tot, vielleicht bin bloß ich scheintot ...
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#2.29 Schlösser in Parks
Gegen halb sieben wurde es wieder Zeit für Gemeinsames. Rafał klopft dann zur vereinbarten Zeit an meine Tür und wir machen uns Gedanken darüber, wie Silke sich wohl gekleidet haben wird, damit ich das modisch parieren kann. Für das Abendessen im ‚Bristol‘ hat sie sich bestimmt etwas Besonderes ausgedacht ...
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#2.30 Die ‚Bristols‘
Silke und Rafał mussten auf die Straße laufen, um ihrer Pflicht nachzukommen, die Stadt zu erobern. Ich durfte mich auf mein Zimmer zurückziehen und rückwärts denken ...
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#2.31 Geschlechter, Geschichten
Nachdem wir alle drei gegessen hatten, wonach uns zumute gewesen war, fuhren wir weiter durch Ostpreußen. Darunter stellte ich mir vor: 1945 Flüchtlingstrecks im Schnee, vorher Herrenhäuser, in denen Junker mit ihren Familien lebten und jetzt immer noch Storchennester auf jedem Dach. Störche sahen wir wirklich, die Flüchtlinge und die Junker liegen im Grab und stehen im Geschichtsbuch.
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#2.32 Von der Ordensburg zur Skateboard-Halfpipe
Ostróda liegt an der Pojezierze Iławskie, ja, das ist schon schwieriger als ‚Eylauer Seenplatte‘ zu Deutsch. Wir parkten direkt am See und gingen nach rechts. Das führte zu keinem befriedigenden Ergebnis.
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#2.33 Mittellanger Nachklang
Ohne erwähnenswerte Zwischenfälle erreichten wir nach einer Stunde Fahrt unser Hotel mit Blick auf die Marienburg. Der Zwischenfall war das Hotel selbst. Ich hatte es ausgesucht wegen dieses Blicks. Was man auf den Bildern im Netz nicht sehen konnte, war der Umstand, dass die Eingangstür unmittelbar neben der Schnellstraße lag. Fahrbahn und Haus gingen praktisch ineinander über.
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#2.34 Tänzerin, Schwarzvieh, Bäcker
Hier setzt nach zwei Tagen Pause wieder meine eigene Geschichte ein – oder zunächst die Geschichte meiner Mutter. Geboren wurde sie im ‚Storchenhaus‘ Danzig-Langfuhr, das erfuhr ich ziemlich früh und fand den Namen der Klinik für eine Entbindung sehr passend.
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#2.35 Totentanz
Die reichen, polnisch-jüdischen Cohns zogen 1918 von Warschau nach Danzig. Die zweisprachige Maria brachte dem Sohn des Hauses das in Danzig überwiegend gesprochene Deutsch bei. Offenbar gab sie ihm zusätzlich noch andere Anweisungen, jedenfalls entstand im Rahmen der ausgedehnten Unterrichtsstunden die kleine Irena.
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#2.36 Vabanque
Eben stoße ich bei der Suche nach etwas ganz anderem auf meinen Brief an Pali. Da ich – ganz wie das Universum – keinerlei Scheu vor Ausdehnung habe, fällt es mir nicht schwer, meine Beobachtungen von 1997 hier nachträglich draufzupfropfen.
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#2.37 Rückkehr ohne Wiedersehen
Alles klappte wie am Schnürchen: Die Propellermaschine landete, ohne zu zerbrechen; unser Gepäck war da, nur wenig ramponiert; der Mietwagen auch, allerdings weder – wie versprochen – mit Schiebedach noch mit Automatik, so dass mir, bevor ich mich wieder an die Kupplung gewöhnt hatte, ein paar stockende Abwürger widerfuhren ...
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#2.38 Romantik des Entlegenen
Irenes Hoffnung, auf dieser Reise die Wurzeln dessen wiederzufinden, was sie sich dort als Lebenswunsch erarbeitet hat: Eleganz – Perspektive – Weltbewusstsein konnte sich in diesem Badeort von 1997 nicht erfüllen. Vielleicht wird uns mit zunehmendem Alter das Herz deshalb so schwer, weil wir so vieles zu tragen haben, das uns kein Mensch mehr abnehmen kann: das Herz als Rucksack.
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#2.39 Aufgescheuert
Ich war nach kurzem Schlaf und kaltem Bad wieder bei Kräften, meine Eltern weniger. Ich trug leicht an meinen einundfünfzig Lenzen, Guntram schwer an seinem Herbst und Irene noch schwerer an ihrer ausgelöschten Jugend. Trotzdem quälte sie sich aus dem Bett und schleppte sich mit uns in die düstere Halle.
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#2.40 Martini im ‚Grand Hotel‘
„Na“, dachte ich, „jetzt wird das Hotel ja auf neuestem Stand sein und die letzten Reste von Sozialismus abgestreift haben.“ Erwartungsvoll stieg ich die Treppe hinauf und trat ein. Nichts war verändert. Der Ostblockcharme hing nach wie vor in der Luft wie Mottenkugelparfüm. Die Halle, die Bar, die Speiseabfertigung waren unverändert. ‚Ein traditionsbewusstes Haus‘, könnte man freundlich sagen.
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#2.41 Die Wahrheit der Hirngespinste
Am Donnerstag fuhr uns, nun wieder Rafał, nach Oliva. Der Olivaer Platz in Berlin war mir seit meiner Kindheit geläufig. Allerdings hielt ich immer die kleine Ausbuchtung am Ku’damm für den Platz. Erst seit ich in der ‚Pension Dittberner‘ statt im aufwändigen ‚Kempinski‘ abstieg, lernte ich den ganzen Platz und seine Lokale zu schätzen.
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#2.42 Hübsche Menschen in schicker Umgebung
Ich weiß, wir leben im Zeitalter des Bildes, aber mancher ist doch eindrucksvoller zu erlesen als zu erblicken, das gilt ganz besonders für Hel(a). Wir fuhren bis zum Ende der Straße, also der Insel, aber wir sahen nirgendwo etwas, das zum Bleiben einlud. Im Gegenteil: Wir fuhren an Jurata vorbei, der Sommerresidenz des polnischen Präsidenten.
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#2.43 ‚Familie, die einer Seewäsche bedarf‘
‚Zielonych Świątek‘ ist in Polen nur am sowieso freien Sonntag ein Feiertag, und so fuhren wir am Pfingstmontag mehr als fünf Stunden lang durch das arbeitende Pommern mit seinen Lastwagen ohne Autobahn. Spannend war das nicht, aber es gibt immer diese Tage, da muss man bloß Strecke hinter sich bringen, und das ist auf deutschen Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbeschränkung nun mal wohltuender als auf Landstraßen hinter einem Diesel mit Tempo 60.
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#2.44 ‚Das Schlachten einer historischen Altstadt‘
In Frankfurt, dem am Main, war der Pfingstdienstag bis in die 90er-Jahre noch ein Feiertag. Jetzt nicht mehr. Der Priester hatte sein rotes Gewand wieder ausgezogen, und wir fuhren schrankenlos zurück nach Deutschland.
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#2.45 ‚Zum trauten Fischerheim‘
Um 20 Uhr trafen wir uns im Hauptgebäude, um gemeinsam den Speisesaal zu besuchen. Als Silke eintraf, hatten Rafał und ich die Aperitifs schon hinter uns. Das erste Abendessen zurück in Deutschland: so ganz ohne vorherige Grenzkontrollen nicht besonders feierlich.
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#2.46 Sperrgebiet
Prora wurde gebaut, damit sich dort der stahlharte arische Mensch, zusammen mit der Heldenmutter seiner vielen Kinder erholen konnte vom Aufbau des Großdeutschen Reiches. Natürlich würde der arische Mensch nicht allein sein bei seinem Kräftetanken. Gemeinschaft war wichtig: ‚Kraft durch Freude‘.
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#2.47 Lebendige Wesen
Wir fuhren so lange weiter, bis es wirklich nicht weiter ging. Die Straße endete in einem Parkplatz. Dahinter begann ein Gehweg, für mich ein Fahrweg. Rafał schob. Die Bodenbeschaffenheit war nicht sehr dammfreundlich. Meine Blase merkte das noch eher als mein Sitzfleisch. Ich wand mich aus dem Rollstuhl und versuchte, den Augenblick abzupassen, in dem weder von rechts noch von links Beobachter hinter der Biegung auftauchten, bevor ich mich hinter die Büsche schlich.
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#2.48 Volljährig
Für Silke und Rafał bestand kein Anlass, vor Hamburg noch einen Zwischenschritt einzulegen. Für mich schon: meine Volljährigkeit. Heute wird man volljährig, wenn man in die allerunanständigsten Filme gehen darf, für die man sich sogar im Internet einloggen muss. Mit achtzehn also.
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#2.49 Alles nach Plan
Die Fahrt nach Hause entsprach nur noch der Entfernung eines nicht sehr weiten Tagesausflugs. Das war, fand ich, ein lustiges Understatement. Am Montag abgefahren, am Sonntag wieder angekommen. So gehört sich das. Ohne ‚Formalismus‘ geht gar nichts. Das behaupte ich jedenfalls, seit ich dieses Wort kenne.
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Die zweite Reise
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#3.1 Heimloses Zuhause
Einen Monat später begann die nächste Reise – und sie begann mit einer Überraschung: Endlich schlägt die Stunde derer, für die Lesen eine Zumutung ist: Ich habe kaum noch etwas zu sagen. Das ist an sich nichts Neues, aber dieses Mal gebe ich es sogar zu. Ich weiß ja selber, als Bilderfolge ist so eine Reise viel zeitgemäßer ...
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#3.2 Auf der letzten Etappe
Giuseppe hatte mir noch in Hamburg zugeredet, auf das weitere Südprogramm mitten in der Sommerhitze zu verzichten. So unterblieb der Anschluss Bologna, Florenz, Rimini, Venedig, und niemand war traurig, na ja, ich ein bisschen, aber auch erleichtert.
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#1.1 Die Ausgangssituation
Zu sterben wäre nach allem, was ich schon erlebt habe, angemessen, aber auch schade; denn für diese Saison habe ich mir mehr vorgenommen, als ich verkraften kann. Mal sehen, ob ich es doch verkraften kann. Schon früher habe ich nur das ausgehalten, wozu ich mich gezwungen habe. Geblieben von damals ist eine Art Geilheit ...
weiterlesen#1.2 Die Eingangssituation
Jeden Morgen, wenn die Ritzen in meinen Rollläden und mein Verstand mir sagen, dass ein weiteres Schlafen nicht mehr möglich oder nicht mehr sinnvoll ist, dann sage ich ungläubiger Christ stumm vor mich hin wie ein Mantra, wie das Aya einer Sure, wie eine Perle aus dem Rosenkranz: „Lieber Gott, lass mich sterben, lieber Gott, lass mich sterben ...“
weiterlesen#2.1 Herr, mach ein Ende!
Das, bis hierher, habe ich geschrieben, bevor es losging: authentisch. Was jetzt kommt, schreibe ich mehr als ein Jahr später: ein Segen für den Leser. Nun habe ich das meiste vergessen und muss mich – notgedrungen – kurzfassen, also: auf das Wesentliche beschränken. Tja, da fängt es schon an: Was im Gedächtnis hängen bleibt vom Besuch des Petersdoms, ist für den einen der weihevolle Schauplatz, für den Nächsten, dass ihm das Portemonnaie geklaut wurde ...
weiterlesen#2.2 Mord und Totschlag in Flaschen
Unser Mittagstisch war in der ‚See-Idylle‘ gedeckt: ‚An der Seemühle 4, in 16868 Wusterhausen/Dosse‘ lautete die Adresse. Ich frage mich, wie meistens antwortlos, ob ich, als ich jung war, auch so aufs Geratewohl herumgereist wäre, wenn es damals das Internet schon gegeben hätte.
weiterlesen#2.3 Kein Reisebus mit hundert Rentnern
Zunächst aber wollten wir das Prunkstück des Ortes betrachten: Schloss Ribbeck. Bis zur Wende war der Bau systemkonform verkommen und verfallen (für die geschätzten Kosten des Außenanstrichs bekam man 1988 schon eine ganze Hochhauswand in Platte), seit 2009 neu eröffnet in aristokratischem Glanz.
weiterlesen#2.4 Sicher und diskret genießen
Annemarie war 1951 – nach meinen Eltern – die wichtigste Bezugsperson für mich. Sie war in meinen Augen schon fast erwachsen und verfügte offensichtlich über Erfahrungen, die bei uns im Grunewald kaum zu machen waren. Wenn sie mich ins Bett gebracht hatte, sagte sie, bevor sie die Tür schloss: „Träum süß von sauren Gurken!“
weiterlesen#2.5 Verwanzte Unterwäsche
17.11.1967
‚Als ich Donnerstagmittag losfuhr, nahm ich leider mein Tonbandgerät nicht mit, erstens weil ich damit rechnete, Freitagabend schon wieder zurück zu sein, zweitens und entscheidend, weil es doch allen Ostzonengrenzbeamten unter Sibirienandrohung untersagt ist, Transitreisende mit Tonbändern den Marsch durch das Territorium der sowjetisch besetzten Zone in die selbstständige politische Einheit Westberlin zu gewähren, ...
#2.6 Schmutzige Bilder, blankes Grauen
Am Übergang brach natürlich das Grauen über mich herein. Mein Gewissen wird automatisch schlecht, wenn es eine Grenze spürt, was aber völlig nebensächlich ist, weil ich ja weiß, wie nahe selbst dem reinsten Gewissen die Scheiterhaufen der Inquisition und die Gulags Sibiriens sind. Zagend passierte ich die Mauer. Alles war grau, barsch, feindselig. Schaudernd lenkte ich meinen Kadetten in Richtung Marx-Engels-Schlossplatz.
weiterlesen#2.7 Der zerrissene Vorhang
Von solchen Erlebnissen kann ich viele ausgraben. Ich beschränke mich auf nur ein weiteres, siebzehn Jahre später, im Oktober 1984:
weiterlesen#2.8 Symbolfigur der freien Welt
Craig machte das übliche betretene Gesicht, das er berufshalber aufsetzt, wenn er Smoking trägt und Bernsteins Kleidung durch die Flure oder wenn er Fans den Zugang ins Allerheiligste verwehrt.
weiterlesen#2.9 Wien in Berlin
Wir fuhren zum ‚Hotel Metropol‘. Es ist die etwas größere Ausgabe des ‚Hotels Unter den Linden‘, steht ihm aber an Geschmacklosigkeit nicht nach. Neben Bernstein hatte sich ein sehr blauäugiger junger Mann positioniert und genoss es, dass ihn der Empfangschef als Bernstein-Begleitung einlassen musste, obwohl er wegen politischer Unbotmäßigkeit seinen Posten als Portier dort verloren hatte ...
weiterlesen#2.10 Ein schockierender Trinkspruch
Nachdem das Gepäck in unseren ‚Dude‘-Räumen verstaut war, fuhr Rafał mich zu Tim Lienhard. Wikipedia nennt ihn ‚Reporter, Autor und Produzent‘. Er wohnt, wie sich das gehört, in einer schmucken Altbauwohnung.
weiterlesen#2.11 Flüchtlinge unwillkommen!
Am 18. Mai, einem Donnerstag, verabschiedeten wir uns von der Empfangsdame des ‚Dude‘, um 10 Uhr wie vorgesehen, und zwanzig Minuten später verabschiedeten wir uns auch von Berlin, bereit zu Neuem.
weiterlesen#2.12 Herz in Schwefelsäure
Nicht nur, dass man alles, was direkt am Wegesrand liegt, mitnehmen muss, ein bisschen Umweg ist auch gerechtfertigt. Der schnellste Weg von A nach B ist etwas für Vielflieger, ich bin auto.
weiterlesen#2.13 Auf Entzug
Ich mache jetzt keine ausführlichen Landschaftsbeschreibungen, füge lieber anschauliche Bilder ein und beschränke mich – ausnahmsweise – auf das Wesentliche.
weiterlesen#2.14 Kein Weg zum anderen Ufer
Silke und Rafał kamen zurück. Da saßen wir in Görlitz, ziemlich allein, am Ende der Welt, am Beginn der Reise. Keine Müßiggänger, aber Müßigsitzer. Für Rafał war es Beruf, für Silke und mich Lebensabend, na ja, später Nachmittag.
weiterlesen#2.15 Man muss es mögen
Ein sanftmütiger Vorfrühlingstag, licht und leicht. Die Vögel äußerten sich. Für Menschenohren war es schwer auszumachen, ob sie jubilierten oder klagten. Wenige, lange Töne halten wir im Allgemeinen für Trauer, viele, kurze deuten wir als Frohsinn. Es war Zwitschern, sonst nichts.
weiterlesen#2.16 Im Rollstuhl
Genau gegenüber der Fleischerei beginnt eine Querstraße, die geradeswegs auf den Roosens Weg zuführt. Sie heißt Ernst-August-Straße, und kein Mensch interessiert sich dafür, wer das wohl mal war. (Der Pinkel-Prügel-Prinz aus Hannover kann ja nicht gemeint sein.) Wir bewegten uns die Ernst-August-Straße herunter: Guntram, von mir geschoben, ich von Erinnerungen, Irene von Wehmut erfüllt.
weiterlesen#2.17 Ganz unterschiedliche Ringe
Nachdem Rafał den Rollstuhl wieder in die Dachbox bugsiert hatte, fuhren wir keine zehn Minuten; dann kamen wir erst an eine Neiße-Brücke und gleich darauf unkontrolliert nach Polen. Schlesien ist das Gebiet meiner Vorfahren ...
weiterlesen#2.18 ‚Die Wurzel von Leid‘
Zum Mittagsimbiss blieben wir im Hotel, ich blieb sogar bis zum Abend in meinem ‚Art‘-Schlafraum. Um Silke und Rafał nicht um ihren Nachmittagsausflug beneiden zu müssen, redete ich mir ein, dass mir inzwischen die wesentlichen Teile von Breslau vertraut seien und ich sparsamerweise den Zimmerpreis abzuwohnen hätte. Klappte ganz gut.
weiterlesen#2.19 Geheim oder wirklich geheim
Am Sonntagvormittag gingen wir erst in die Kirche, dann fuhren wir weiter. Breslauer Dom und Landstraße. Das Ewige und das Treibende. Wer wie ich in allem ein Prinzip sucht, der findet es auch.
weiterlesen#2.20 Karriere einer Kokotte
Reinholds jüngster Bruder Viktor wurde Arzt wie sein Vater. Geheim war da nichts mehr, aber er rückte doch aus: vor seiner Frau, als Stabsarzt nach Kamerun, eine der wenigen Kolonien, die die Deutschen zu ergattern vermocht hatten. Aber im Gegensatz zu ihren Schwägerinnen setzte Viktors Frau alles daran, ihren entflohenen Ehemann zurück zu bekommen.
weiterlesen#2.21 Moralische Bedenken
Was ich von Oppeln nicht wusste, war, dass es die Hauptstadt Oberschlesiens gewesen war, dass es erst mal zu Mähren gehört hatte, ab 907 zu Böhmen, ab 990 zu Polen, 1039 wieder zu Böhmen, 1050 von Kasimir I. zurückerobert wurde und dass 1138 nach dem Tod von Bolesław III. Schiefmund (den hatten wir schon mal) Schlesien an seinen ältesten Sohn ging. Der wird in der Geschichtsschreibung ‚Władysław der Vertriebene‘ genannt; ein echter Spoiler, der die Spannung effektlos runterschraubt, weil man gleich weiß: Das Glück währte nicht lange.
weiterlesen#2.22 Schlimme Orte
Zabrze/Hindenburg und Gliwice/Gleiwitz gehen ineinander über. Auschwitz liegt etwas abseits der Strecke auf dem Weg nach Krakau. Gleiwitz und Auschwitz sind zwei Namen, die fatal mit der deutschen Geschichte verbunden sind, und Silke und Rafał waren sich so einig wie selten: Dahin wollten sie auf keinen Fall.
weiterlesen#2.23 Vierzehn Meter hoher Papst
Am Montag war kein Urlaubswetter, jedenfalls kein gutes. Um 11 Uhr holte uns der vorbestellte Elektrokarren ab. Die Umgebung wirkte etwas milchig und das war gut so. Statt aus unserer Motorkutsche direkt in die Straße gucken zu müssen, sahen wir nämlich durch eine Art Haut, die uns sicher vor Regen und halbwegs vor Kälte schützte. Na ja, Sonne ist hübscher, aber wenn es die nicht gibt, soll man sich über ziemlich durchsichtiges, strapazierfähiges Plastik nicht beklagen, sondern freuen, selbst wenn man sonst streng darauf achtet, die Ozeane nicht mit Plastik zuzumüllen.
weiterlesen#2.24 Absicherung gegen Alltagsrisiko
Am Nachmittag kam Rafałs Schwester Zaneta, und ich wurde gleich begrüßt wie der ausländische Schwiegervater. Küsse mussten die sprachliche Verständigung ersetzen. Zum Abendessen blieben wir drei West-Besucher vor Ort. Vier gestandene Männer, vermutlich die Hausverschönerer, saßen ebenfalls im Roten, sonst wären wir uns doch sehr einsam vorgekommen und nicht wie im Hotel.
weiterlesen#2.25 Panzer aus Pappe
Silke und Rafał kamen zurück. Spät war es noch nicht. Ein Ausflug war noch möglich; auch lag Rafał daran, seine halbgeliebte Heimat in ein besseres Licht zu rücken, zumal die Sonne bereit war, ihn dabei zu unterstützen. So fuhren wir nach Piotrków Trybunalski, wohin denn sonst? Die Deutschen nannten den Ort Petrikau, das fanden sie besser zu behalten und auszusprechen.
weiterlesen#2.26 Gräten der Sünde
Den meisten Deutschen ist Łódź von einem Schlager her bekannt. Die auf Korfu geborene Βίκυ Λέανδρος, zu Deutsch: Vicky Leandros, behauptet in dem Lied, ganz dringend nach Łódź zu wollen. Dabei wollte sie das Lied erst gar nicht singen ...
weiterlesen#2.27 Genies, Genießer, Sieger, Mister
Für die Fahrt von Łódź nach Warschau braucht man anderthalb Stunden, Rafał also eine. Dabei irritierte Silke Rafał wie immer, wenn er beschäftigt ist – mit der zügigen Bewältigung von Strecke (er) –, von hinten (sie): von Furcht geplagt (auch sie) mit ihren wirkungslosen, aber störenden Schnapplauten.
weiterlesen#2.28 Das GROSSE GANZE gegen das kleine unerhebliche
Zum nächsten Chopin-Wettbewerb fünf Jahre später reiste ich wieder an. Wieder konnte ich den Sieger verpflichten. Stanislav Bunin. Auch über ihn lese ich mit Erstaunen, dass er eine Weile in Hamburg gelebt hat, jetzt in Japan wohnt und weltweit gastiert. Seltsam, in den Medien, die ich verfolge, kommt Klassische Musik kaum vor, eher Pop-Alben, Kino, Literatur, Seelen-Graffiti. Vielleicht ist die Klassik gar nicht tot, vielleicht bin bloß ich scheintot ...
weiterlesen#2.29 Schlösser in Parks
Gegen halb sieben wurde es wieder Zeit für Gemeinsames. Rafał klopft dann zur vereinbarten Zeit an meine Tür und wir machen uns Gedanken darüber, wie Silke sich wohl gekleidet haben wird, damit ich das modisch parieren kann. Für das Abendessen im ‚Bristol‘ hat sie sich bestimmt etwas Besonderes ausgedacht ...
weiterlesen#2.30 Die ‚Bristols‘
Silke und Rafał mussten auf die Straße laufen, um ihrer Pflicht nachzukommen, die Stadt zu erobern. Ich durfte mich auf mein Zimmer zurückziehen und rückwärts denken ...
weiterlesen#2.31 Geschlechter, Geschichten
Nachdem wir alle drei gegessen hatten, wonach uns zumute gewesen war, fuhren wir weiter durch Ostpreußen. Darunter stellte ich mir vor: 1945 Flüchtlingstrecks im Schnee, vorher Herrenhäuser, in denen Junker mit ihren Familien lebten und jetzt immer noch Storchennester auf jedem Dach. Störche sahen wir wirklich, die Flüchtlinge und die Junker liegen im Grab und stehen im Geschichtsbuch.
weiterlesen#2.32 Von der Ordensburg zur Skateboard-Halfpipe
Ostróda liegt an der Pojezierze Iławskie, ja, das ist schon schwieriger als ‚Eylauer Seenplatte‘ zu Deutsch. Wir parkten direkt am See und gingen nach rechts. Das führte zu keinem befriedigenden Ergebnis.
weiterlesen#2.33 Mittellanger Nachklang
Ohne erwähnenswerte Zwischenfälle erreichten wir nach einer Stunde Fahrt unser Hotel mit Blick auf die Marienburg. Der Zwischenfall war das Hotel selbst. Ich hatte es ausgesucht wegen dieses Blicks. Was man auf den Bildern im Netz nicht sehen konnte, war der Umstand, dass die Eingangstür unmittelbar neben der Schnellstraße lag. Fahrbahn und Haus gingen praktisch ineinander über.
weiterlesen#2.34 Tänzerin, Schwarzvieh, Bäcker
Hier setzt nach zwei Tagen Pause wieder meine eigene Geschichte ein – oder zunächst die Geschichte meiner Mutter. Geboren wurde sie im ‚Storchenhaus‘ Danzig-Langfuhr, das erfuhr ich ziemlich früh und fand den Namen der Klinik für eine Entbindung sehr passend.
weiterlesen#2.35 Totentanz
Die reichen, polnisch-jüdischen Cohns zogen 1918 von Warschau nach Danzig. Die zweisprachige Maria brachte dem Sohn des Hauses das in Danzig überwiegend gesprochene Deutsch bei. Offenbar gab sie ihm zusätzlich noch andere Anweisungen, jedenfalls entstand im Rahmen der ausgedehnten Unterrichtsstunden die kleine Irena.
weiterlesen#2.36 Vabanque
Eben stoße ich bei der Suche nach etwas ganz anderem auf meinen Brief an Pali. Da ich – ganz wie das Universum – keinerlei Scheu vor Ausdehnung habe, fällt es mir nicht schwer, meine Beobachtungen von 1997 hier nachträglich draufzupfropfen.
weiterlesen#2.37 Rückkehr ohne Wiedersehen
Alles klappte wie am Schnürchen: Die Propellermaschine landete, ohne zu zerbrechen; unser Gepäck war da, nur wenig ramponiert; der Mietwagen auch, allerdings weder – wie versprochen – mit Schiebedach noch mit Automatik, so dass mir, bevor ich mich wieder an die Kupplung gewöhnt hatte, ein paar stockende Abwürger widerfuhren ...
weiterlesen#2.38 Romantik des Entlegenen
Irenes Hoffnung, auf dieser Reise die Wurzeln dessen wiederzufinden, was sie sich dort als Lebenswunsch erarbeitet hat: Eleganz – Perspektive – Weltbewusstsein konnte sich in diesem Badeort von 1997 nicht erfüllen. Vielleicht wird uns mit zunehmendem Alter das Herz deshalb so schwer, weil wir so vieles zu tragen haben, das uns kein Mensch mehr abnehmen kann: das Herz als Rucksack.
weiterlesen#2.39 Aufgescheuert
Ich war nach kurzem Schlaf und kaltem Bad wieder bei Kräften, meine Eltern weniger. Ich trug leicht an meinen einundfünfzig Lenzen, Guntram schwer an seinem Herbst und Irene noch schwerer an ihrer ausgelöschten Jugend. Trotzdem quälte sie sich aus dem Bett und schleppte sich mit uns in die düstere Halle.
weiterlesen#2.40 Martini im ‚Grand Hotel‘
„Na“, dachte ich, „jetzt wird das Hotel ja auf neuestem Stand sein und die letzten Reste von Sozialismus abgestreift haben.“ Erwartungsvoll stieg ich die Treppe hinauf und trat ein. Nichts war verändert. Der Ostblockcharme hing nach wie vor in der Luft wie Mottenkugelparfüm. Die Halle, die Bar, die Speiseabfertigung waren unverändert. ‚Ein traditionsbewusstes Haus‘, könnte man freundlich sagen.
weiterlesen#2.41 Die Wahrheit der Hirngespinste
Am Donnerstag fuhr uns, nun wieder Rafał, nach Oliva. Der Olivaer Platz in Berlin war mir seit meiner Kindheit geläufig. Allerdings hielt ich immer die kleine Ausbuchtung am Ku’damm für den Platz. Erst seit ich in der ‚Pension Dittberner‘ statt im aufwändigen ‚Kempinski‘ abstieg, lernte ich den ganzen Platz und seine Lokale zu schätzen.
weiterlesen#2.42 Hübsche Menschen in schicker Umgebung
Ich weiß, wir leben im Zeitalter des Bildes, aber mancher ist doch eindrucksvoller zu erlesen als zu erblicken, das gilt ganz besonders für Hel(a). Wir fuhren bis zum Ende der Straße, also der Insel, aber wir sahen nirgendwo etwas, das zum Bleiben einlud. Im Gegenteil: Wir fuhren an Jurata vorbei, der Sommerresidenz des polnischen Präsidenten.
weiterlesen#2.43 ‚Familie, die einer Seewäsche bedarf‘
‚Zielonych Świątek‘ ist in Polen nur am sowieso freien Sonntag ein Feiertag, und so fuhren wir am Pfingstmontag mehr als fünf Stunden lang durch das arbeitende Pommern mit seinen Lastwagen ohne Autobahn. Spannend war das nicht, aber es gibt immer diese Tage, da muss man bloß Strecke hinter sich bringen, und das ist auf deutschen Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbeschränkung nun mal wohltuender als auf Landstraßen hinter einem Diesel mit Tempo 60.
weiterlesen#2.44 ‚Das Schlachten einer historischen Altstadt‘
In Frankfurt, dem am Main, war der Pfingstdienstag bis in die 90er-Jahre noch ein Feiertag. Jetzt nicht mehr. Der Priester hatte sein rotes Gewand wieder ausgezogen, und wir fuhren schrankenlos zurück nach Deutschland.
weiterlesen#2.45 ‚Zum trauten Fischerheim‘
Um 20 Uhr trafen wir uns im Hauptgebäude, um gemeinsam den Speisesaal zu besuchen. Als Silke eintraf, hatten Rafał und ich die Aperitifs schon hinter uns. Das erste Abendessen zurück in Deutschland: so ganz ohne vorherige Grenzkontrollen nicht besonders feierlich.
weiterlesen#2.46 Sperrgebiet
Prora wurde gebaut, damit sich dort der stahlharte arische Mensch, zusammen mit der Heldenmutter seiner vielen Kinder erholen konnte vom Aufbau des Großdeutschen Reiches. Natürlich würde der arische Mensch nicht allein sein bei seinem Kräftetanken. Gemeinschaft war wichtig: ‚Kraft durch Freude‘.
weiterlesen#2.47 Lebendige Wesen
Wir fuhren so lange weiter, bis es wirklich nicht weiter ging. Die Straße endete in einem Parkplatz. Dahinter begann ein Gehweg, für mich ein Fahrweg. Rafał schob. Die Bodenbeschaffenheit war nicht sehr dammfreundlich. Meine Blase merkte das noch eher als mein Sitzfleisch. Ich wand mich aus dem Rollstuhl und versuchte, den Augenblick abzupassen, in dem weder von rechts noch von links Beobachter hinter der Biegung auftauchten, bevor ich mich hinter die Büsche schlich.
weiterlesen#2.48 Volljährig
Für Silke und Rafał bestand kein Anlass, vor Hamburg noch einen Zwischenschritt einzulegen. Für mich schon: meine Volljährigkeit. Heute wird man volljährig, wenn man in die allerunanständigsten Filme gehen darf, für die man sich sogar im Internet einloggen muss. Mit achtzehn also.
weiterlesen#2.49 Alles nach Plan
Die Fahrt nach Hause entsprach nur noch der Entfernung eines nicht sehr weiten Tagesausflugs. Das war, fand ich, ein lustiges Understatement. Am Montag abgefahren, am Sonntag wieder angekommen. So gehört sich das. Ohne ‚Formalismus‘ geht gar nichts. Das behaupte ich jedenfalls, seit ich dieses Wort kenne.
weiterlesenDie zweite Reise
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Leben lernen / Ein Versuch
#3.1 Heimloses Zuhause
Einen Monat später begann die nächste Reise – und sie begann mit einer Überraschung: Endlich schlägt die Stunde derer, für die Lesen eine Zumutung ist: Ich habe kaum noch etwas zu sagen. Das ist an sich nichts Neues, aber dieses Mal gebe ich es sogar zu. Ich weiß ja selber, als Bilderfolge ist so eine Reise viel zeitgemäßer ...
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Leben lernen / Ein Versuch
#3.2 Auf der letzten Etappe
Giuseppe hatte mir noch in Hamburg zugeredet, auf das weitere Südprogramm mitten in der Sommerhitze zu verzichten. So unterblieb der Anschluss Bologna, Florenz, Rimini, Venedig, und niemand war traurig, na ja, ich ein bisschen, aber auch erleichtert.
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#3.1 Heimloses Zuhause
Einen Monat später begann die nächste Reise – und sie begann mit einer Überraschung: Endlich schlägt die Stunde derer, für die Lesen eine Zumutung ist: Ich habe kaum noch etwas zu sagen. Das ist an sich nichts Neues, aber dieses Mal gebe ich es sogar zu. Ich weiß ja selber, als Bilderfolge ist so eine Reise viel zeitgemäßer ...
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Giuseppe hatte mir noch in Hamburg zugeredet, auf das weitere Südprogramm mitten in der Sommerhitze zu verzichten. So unterblieb der Anschluss Bologna, Florenz, Rimini, Venedig, und niemand war traurig, na ja, ich ein bisschen, aber auch erleichtert.
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