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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.2 Mord und Totschlag in Flaschen

Unser Mittagstisch war in der ‚See-Idylle‘ gedeckt: ‚An der Seemühle 4, in 16868 Wusterhausen/Dosse‘ lautete die Adresse. Ich frage mich, wie meistens antwortlos, ob ich, als ich jung war, auch so aufs Geratewohl herumgereist wäre, wenn es damals das Internet schon gegeben hätte. Hätte ich trotzdem zum Essen einfach angehalten, wo es schön war und übernachtet, wo es Platz gab? So folgenlos die Antwort ist, so sehr wünsche ich mir, ich hätte genauso gehandelt, wie ich es tat; denn es entspricht meinem Selbstbild, spontan und mutwillig zu sein. Was für nicht vorauszusehende Entdeckungen habe ich gemacht! Welche Genugtuung, ein fabelhaftes Gericht zu essen, das man sich ausgesucht hat, ohne dass es einem empfohlen wurde. Einen Menschen zu treffen, mit dem man nicht gerechnet hatte! Unerwartet helfen, teilnehmen, begeistern zu können. Wer so unbeweglich ist, wie ich es mir zu sein einbilde, der kann dem Zufall nur noch wenig überlassen, bilde ich mir ein. Laufen, so weit die Füße tragen: zum wohligsten Lokal, zum wildesten Sex, diese Anstrengung würde jetzt an der nächsten Ampel enden, und die steht durchgehend auf Rot. Früher wäre ich einfach weitergerannt und wäre trotzdem unter keinen Laster gekommen, höchstens unter das Laster. Jetzt muss ich schon zufrieden damit sein, das meiste überhaupt nicht erst zu wollen. ‚Wunschloses Unglück‘ ist eins von Handkes besten Büchern.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Heute ist es sehr schwer solche herrlichen Entdeckungen zu machen. Selbst die kleinste Kaschemme hat doch ihren Internetauftritt; den nicht zu kennen, wäre nicht Abenteuerlust, sondern Wissensmangel. Seine Reisegruppe in das falsche Lokal einzuladen, ist heute nicht mehr Pech, sondern verantwortungslos: schlecht gekümmert.

Fotos links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Uellue/Shutterstock

Da brauchte ich mir an der Dosse nichts vorzuwerfen. Sie bietet für Wusterhausen einen etwas klangvolleren Namenszusatz, als ihn die nahe gelegene größere (Hanse)-Stadt Kyritz trägt, der man unterstellt, sie läge an der ‚Knatter‘. Das stimmt sogar, nur dass die Knatter verrohrt ist und deshalb die fünf knatternden Wassermühlen nicht mehr existieren. Kyritz erhielt bereits 1237 Stadtrecht, hat inzwischen 9360 Einwohner (Quelle: maz-online.de, vom 24.01.2019) und dabei zehn Ortsteile. Ist das Luxus? Schon 1488 wurde das erste Mal Kyritzer Bier gebraut. Es hieß originellerweise ‚Mord und Totschlag‘. Ob sich das Münchner Hofbräuhaus diesen Namen in der Schwemme heute noch trauen würde? Oder Budweiser mit ‚Murder and Homicide‘? Kyritz jedenfalls traut sich wieder und vermarktet sein Dunkles auch übers Internet. Wer nicht im Internet ist, findet nicht statt. Darum könnte ich eben nicht mehr auf Entdeckungsreisen gehen wie 1965; denn jeder, vor allem ich selbst, würde mich nach zu durchgebratenen Steaks im Lokal oder zu durchgelegenen Matratzen im Hotel empört fragen: „Ja, hast du dir denn die ‚TripAdvisor‘-Besprechungen nicht angesehen?“

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Aus dem Haus zu gehen, hat seine Unschuld verloren. Wer heute an der Schwelle eines Gebäudes noch nicht weiß, was ihn drinnen erwartet, der hat sich eben nicht gründlich genug am Bildschirm vorbereitet auf das, was kommt. Statt Unschuld: selber schuld! Nicht suchen, …

Foto: Privatarchiv H. R.

… sondern finden.

Foto: Privatarchiv H. R.

Also war die ‚See-Idylle‘ keine Überraschung, jedenfalls nicht für mich, sie sah auch nicht weniger einladend aus als auf ihrer Website, und, um das Thema abzuschließen: Einfach auf gut Glück hätten wir sie nie gefunden, das ging nur über deren Internetpräsenz.

Foto: Tero Vesalainen/Shutterstock

Das Wetter war gut, aber nicht gut genug, um draußen zu sitzen. Frieren ist schick auf Sylt im März, nicht an der Dosse im Mai. Der Kellner war sehr freundlich, die Umgebung war hübsch, und das Essen habe ich vergessen, war also gut, sonst hätte ich es behalten.

Foto: Iakov Filimonov/Shutterstock

Nun näherten wir uns unserem Tagesziel: Ribbeck. Da musste man immer durch zu DDR-Zeiten, natürlich ohne anhalten zu dürfen, und etwas Trostloseres als diesen abgehalfterten Flecken mochte man sich nur ungern vorstellen. Und heute? Wie sehr sich etwas zum Positiven entwickeln kann, das ist in Rom und Paris kaum noch zu besichtigen. In der früheren DDR geht das in jedem Dorf.

Foto: picture alliance/ZB

Theodor Fontanes Ballade gehörte zu den vielen Gedichten, die ich auswendig aufsagen konnte. Jeder kannte zumindest die Eingangszeile. Für eventuelle junge Leser und ihre Freundinnen schiebe ich hier das Original ein.

Darunter schreibt die YouTuberin Ola Plaza:

‚Ich musste es vor circa 10 Jahren Auswendiglernen.. krass dass hier heut zu Tage immer noch welche mit dem Gedicht geknebelt werden.‘

Das kommentiere ich nicht. Aber für Leser(-innen) meines Alters kommt hier – ziemlich auf der Höhe unserer Zeit – die Rap-Version.

Und wer sehr viel Muße hat und das deutsche Fernsehen liebt, der und die können sich den Anfang eines Mordfalls in Ribbeck anschauen: drei Minuten Ottfried Fischer als Pfarrer Braun in ‚Heiliger Birnbaum‘. – Horror pur.

Silke hatte meine dem Internet entnommene Idee von märkischem Landleben durch Hotelbuchung umgesetzt. Das führte uns an vielen Feldern vorbei zum Landhaus Ribbeck. Die Hausherrin machte sich im hohen Gras, das man nicht als Garten bezeichnen konnte, zu schaffen. Obwohl sie in Gummistiefeln und Arbeitskleidung fast als Personal hätte durchgehen können, war ihr Kofferschleppen natürlich nicht zuzumuten, was vor allem für Rafał bedauerlich war. Alle Gästezimmer lagen im ersten Stock; denn bei dem sogenannten ‚Landhaus‘ handelte es sich um einen denkmalgeschützten Schafstall und in dem war die erste Etage so hoch oben angesiedelt wie normalerweise das dritte Geschoss in einem Mietshaus, vielleicht, damit der Schäfer oben seine Ruhe hatte. Einen Fahrstuhl gab es deshalb auch nicht: Die Schafe hätten gegenüber dem Wolf keine Fluchtmöglichkeiten gehabt, und so blieb Rafał nichts anderes übrig, als das Gepäck mit beiden Händen zu Fuß zu befördern. Na ja, hätte ich das selber gekonnt, dann würde Rafał nicht bei mir arbeiten. Bestimmt nicht. Einen Butler hätte ich mir nie gestattet. Aber ein Krankenpfleger ist ja nicht Luxus, sondern Notwendigkeit. Dass ich eine Fachkraft für mich habe und sie nicht mit zwanzig alten Leuten im Heim teilen muss, liegt daran, dass ich mir meine Eltern so geschickt ausgesucht habe.

Den Hausherrn lernten wir auch kennen. Weitere Gäste fielen mir nicht auf. Da montags das Hotel-Restaurant geschlossen hat und ist, ließen wir uns beraten, wo wir unsere Nachtmahlzeit würden einnehmen können. Wir hatten es in der ‚See-Idylle‘ nicht zum Äußersten kommen lassen, sondern dort eher eine Art Imbiss eingenommen, was, ich wusste es, sinnlos gewesen war: Ich habe am Abend trotzdem keinen Appetit, Rafał kann immer alles essen (außer, wenn er beleidigt ist und gar nicht isst), und Silke vergisst sich und ihre Figur nie.

Foto: BorisK9/Shutterstock | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Maks Narodenko, Anton Starikov, Runrun2, Mariyana M, ifong

21 Kommentare zu “#2.2 Mord und Totschlag in Flaschen

  1. Hahaha stimmt, schlechte Restaurant-Besuche brennen sich viel leichter ins Gedächtnis ein als leckeres Essen.

  2. ENTDECKUNGSreisen sind die besten. Was ist ein Urlaub ohne Überraschungen und unerwartete Entdeckungen. Wenn man die schlimmsten Fallen durch Tripadvisor vermeiden kann umso besser. Ich versuche in der Regel einfach drauf los zu laufen und schaue nur kurz im Internet nach ob mein Gespür richtig oder falsch ist.

    1. Langsam kriege ich eh das Gefühl, dass die Hälfte dieser Online-Rezension gefälscht werden. Entweder schreibt man sich selbst übertrieben gute Bewertungen oder macht seine Konkurrenten besonders schlecht. Jedenfalls passt das was ich lese nicht unbedingt immer zu meiner eigenen Erfahrung.

      1. Die gibt es sicherlich und die sind in der Regel auch ziemlich leicht zu durchschauen.

  3. Ich kann auch immer essen. Meine Figur ignoriert das aus unerklärlichen aber freudigen Gründen irgendwie. Umso besser!

    1. Ein Segen. Ich denke ja eher immer, dass wirklich jedes Gramm Fett direkt zu einem neuen Gramm Körperfett wird.

  4. Also wenn man Gedichte jetzt erst als Rap herausbringen muss um Jugendliche überhaupt dafür zu interessieren, dann weiss ich auch nicht weiter…

    1. Also Goethes Gedichte liest man seit 250 Jahren. Da hat Fontane wohl noch ein paar Jahre bis er Schüler gleichermaßen ‚geknebelt‘ hat.

    2. Sie können es nachlesen: für die Jugendlichen ist die Normalversion bestimmt. Rap ist für die Alten, damit die auf der Höhe der Zeit bleiben: so ernst gemeint wie manches bei mir.

  5. Gibt’s denn eigentlich auch schlaue Menschen, die auf Youtube kommentieren? Oder sind das immer nur die dümmsten Exemplare? (Pardon my french)

    1. Gute Frage, jedenfalls würde ich sagen wer keine eigenständige Meinung hat, teilt diese besonders gerne.

    2. Die meisten stundenlangen Handy-Gespräche und Chats im Netz sind so, dass man anfängt, darüber nachzudenken, ob man den Kommunizierenden das Wahlrecht entziehen oder lieber gleich verzweifeln soll.

      1. Na am Handy oder im Chat kommuniziert man wenigstens noch. Das schlimmste sind mir tatsächlich die Kommentarspalten auf Facebook, Instagram, Youtube. Da wird dann einfach drauflos gemeckert und gepöbelt.

  6. Mit dem internet muss man umgehen können. Anstatt sich vom Überangebot stressen oder vom Performancedruck überwältigen zu lassen. Gibt es für so etwas eigentlich mittlerweile Kurse in der Schule?

      1. Stimmt. Aber zwingen kann man Schüler (wie auch alle anderen Menschen) ja eh zu nichts. Das Angebot wäre ja wenigstens ein erster Schritt.

  7. Tatsächlich Horror. Also der Pfarrer Braun. Jetzt wird selbst in den öffentlich rechtlichen alles nochmal neu verfilmt?!

  8. Frieren ist immer schicker als mit verschwitztem Leib in der Bar zu sitzen. Der Sommer ist (zumindest in der Großstadt) viel zu überschätzt.

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