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0809
Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.45 ‚Zum trauten Fischerheim‘

Um 20 Uhr trafen wir uns im Hauptgebäude, um gemeinsam den Speisesaal zu besuchen. Als Silke erschien, superpünktlich wie stets, hatten Rafał und ich die Aperitifs verstohlenerweise schon hinter uns. Das erste Abendessen zurück in Deutschland: so ganz ohne vorherige Grenzkontrollen nicht besonders feierlich. Bis 1990, als ich auch schon 44 Jahre auf der Erde zugebracht hatte, wäre das gar nicht möglich gewesen und auch nicht wünschenswert im runtergekommenen Gebäude, damals vermutlich ein Arbeiterwohlfahrtsheim. (Die Arbeiterwohlfahrt ist eine segensreiche Institution, aber ich habe da nichts zu suchen.) Unser Privathotel schien mir die schönste Unterkunft in Sellin zu sein; und er, das war Bedingung für unseren Aufenthalt, denn hier kommen wir nun endlich nach meinen Urgroßeltern, Eltern und Rafałs Verwandtschaft auf mich zu sprechen, und das bleibt auch so bis zum Ende dieser Reise, wenn nicht gar bis zum Ende aller Reisen.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Mir wurde versichert, dass ich bereits als Einjähriger in Ahrenshoop gewesen sein soll, das liegt auch an der Ostsee, etwas weiter westlich. Davon gibt es sogar Fotos, und eins davon sogar mit Kinderschwester (ganz für mich allein!), also stimmt es wohl. Ich weiß davon nichts. Aber auf Rügen, da setzte mein Gedächtnis ein, also mein Bewusstsein. Meine Mutter führte mich an Lederriemen, die mir um den Körper gezogen worden waren, wie ein angeleintes Hündchen die Selliner Straßen entlang, eine Art Leibkorb also, der das Maul frei lässt. Nennt man so etwas Gängelband? Aber weder hielt Irene mich an, an den Laternenpfählen notdürftig das Bein zu heben, noch hat sich meine sexuelle Präferenz in Richtung Bondage entwickelt; kaum, dass ich mal entfesselt war. Wenn ich ihr diese, meine erste Kindheitserinnerung vorhielt, dann erläuterte sie, ich sei uneinsichtig und unberechenbar gewesen, es sei zu meinem Schutz geschehen (was alle Mütter und Diktatoren behaupten). Wörter wie ‚spontan‘ und ‚kreativ‘ würden mir mehr schmeicheln, abgegriffen, wie sie sind. Vor allem lachte sie dabei immer so eigentümlich – sei es schadenfroh, sei es verlegen.

Foto oben: Lena Pan/Shutterstock | Foto unten: Denis Petrov/Shutterstock

Zugegeben: Als meine Mutter bald nach meinem vierten Geburtstag – vermutlich beinahe zu Tode gelangweilt von mir und den Dünen – abreiste und meine Großeltern aus Thüringen kamen, meinten die sorglosen Alten, ihre Obhut für mich mit grässlichen Leuten, aber ohne straffe Festschnallung fortsetzen zu können. – Ein Irrtum. Im Speisesaal des Hotels riss ich die tablettbeladenen Kellner um; auch daran und dass ich die Schweinerei nicht wegzuwischen brauchte, erinnere ich mich. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass – zumindest damals und noch vierzig Jahre lang – Speisen, die in Ostseebädern angeboten wurden, ohnehin nicht auf den Tisch gehörten. Inzwischen liegen ja dort Mittelmeerfische auf Eis und stehen auf den Speisekarten: Seeteufel mit Rügener Rübchen. Ich war mehr ein Landteufel und hatte pädagogischerweise von meiner erzieherischen Mutter zum Geburtstag ein Buch über einen Kasper, der ausreißt und deshalb vom Krokodil ins Bein gebissen wird, bekommen. Krokodile habe ich mit Irene in Australien beobachtet, ausgerissen bin ich nie. Womöglich bin ich überhaupt kein Teufel, sondern ein Rübchen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Guntram erwähnte manchmal, dass er und seine drei Brüder nie gemeinsam mit den Eltern verreist waren. In den Ferien wurden sie einzeln über den ‚Offiziersbund alter Frontsoldaten‘ verschickt. Das war wohl so, wie es klingt: schrecklich. Mein Vater kam selten und noch seltener für längere Zeit mit oder hinterher, wenn Irene mich zum Durchlüften ans Meer begleitete. Das lag ihm nicht so. Mit Kindern konnte Guntram nicht mehr anfangen als seine eigenen autoritären Eltern. Als ich schon Mitte zwanzig war, überraschte meine Großmutter mich mit dem Satz: „Ich hätte nie Kinder haben dürfen.“ Sie wäre so viel lieber Pianistin geworden als Hausfrau! Zu spät. „Wenn Hanno älter ist, werde ich mich mehr kümmern“, sagte Irene, dass Guntram es gesagt habe. Dafür musste ich dann allerdings ziemlich viel älter werden. Aber immer schon bekam ich die volle Unterstützung – finanziell und seelisch. Als ich erwachsen war, reisten wir viel zusammen, meine Eltern und ich – meistens ans Mittelmeer. Der erwachsene Guntram war mit seinen Eltern an die Ostsee gefahren, an der meine Mutter mit ihrer Mutter aufwuchs. Arm, aber mondän.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

Nach solch ordnenden Gedanken schlief ich unbesorgt dem Morgen entgegen, bis Rafał kam, um mir in den Tag zu helfen und vor allem, um in mir einen Adressaten für das Aufrollen seiner Nachterlebnisse zu haben. Manchmal frage ich mich, ob ich ihn fragen würde, so als Teilnahme heuchelndes Geplänkel, aber das ist unrealistisch. Er erzählt ja doch gleich los. Das Internet bescherte ihm jemanden mit Motorrad, so dass es nicht nur zu erotischen, sondern auch zu geografischen Ausschreitungen kam: Rügen satt, nochmal Greifswald und Stralsund und überhaupt.

Foto oben: Jag_cz/Fotolia | Foto unten: Glebstock/Fotolia

Es ist nicht so, dass ich Rafał um seinen Sex beneide, vielleicht um die Begegnungen. Das Neue, das mir verwehrt ist, und das mich im Sex immer mehr interessiert hat als in Kunst und Küche. Ausgeschlossen. Nicht mehr eingreifen zu können, sondern mich im Rollstuhl herumfahren zu lassen und mir hinter Silkes Rücken von Rafał einen Flachmann besorgen zu lassen, das ist schwer zu ertragen. Aber alles, was die Angst bezähmt, ist willkommen. Nur kaum, dass die Angst weg ist, kehrt die unstillbare Lust zurück. Leider bezieht sie sich nie aufs Essen. Nie habe ich durch weltberühmte Bauwerke oder philosophische Einsichten großer Geister die gleiche Befriedigung erfahren wie durch sexuelle Manipulationen. Leider? Leben lernen. Ich habe es versucht. Ich hatte meine Glanzzeit, in der ich manchmal verstört war, aber selten verstörend. Jetzt kann ich nur noch nach Einsichten fischen, ohne etwas Lebendiges an die Angel zu bekommen. Früher bin ich auf alles, was mich reizte, zugestürmt. Jetzt lasse ich den Wind hinter meiner Stirn abflauen, um nicht durchzudrehen. Ich bin gern durchgedreht, früher, aber ich bin nicht mehr beweglich genug, um mich auszutoben. Ach, nicht mal mehr bedürftig genug.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Zuerst habe ich meinen Körper verachtet, weil ich dachte, ein guter Katholik sei sich und Gott das schuldig. Dann habe ich meinen Körper benutzt: als Aushängeschild, als Lustspender. Und jetzt bin ich auf ihn angewiesen. Dem, was er mir jahrelang an Genugtuung verschafft hat, schmecke ich noch nach und versuche, ihn mit Therapien und ausgefeilter Nahrung bei Laune zu halten. Ist das kläglich? Es ist normal. Und trotzdem kläglich? Gute Eltern und gute Schulen wollen die neue Generation darauf vorbereiten, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen. Leben lernen. Altwerden muss man sich selbst beibringen. Lügen ist dabei erlaubt. Solange man sich nicht auf die Schliche kommt.

Fotos (3): Michael/Fotolia

Das Wetter war einigermaßen, die Laune sogar noch etwas besser. Alles sprach für einen Ausflug, und so fuhren wir umher über teilgesperrte Straßen. Rafał war uns nach seiner nächtlichen Motorradtour klar im Vorteil. Silke hatte Rügen noch nie gesehen, und ich erinnerte mich, was die Gegend betraf, nur doch daran, dass wir, als mein Vater meine Mutter 1950 abholen kam, gemeinsam die Dünen runtergerutscht waren, ein inzwischen sicher verbotenes Vergnügen. Damals kam es mir jedenfalls sehr lang und sehr steil vor, fast wie Achterbahn. Vielleicht waren es ja gar keine Dünen, sondern Kreidefelsen, an die ich mich allerdings nur auf Caspar David Friedrichs Bild erinnere. Sehr wahrscheinlich ist aber auch das nicht, na, dann bleibt das Ereignis eben in meiner Erinnerung und sonst nirgendwo.

Fotos oben (2): Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten: Tithi Luadthong/Shutterstock

Rafał kutschierte zunächst über straßenähnlichen Untergrund nach Klein Zicker, das schon wegen seines Namens sehenswert ist. Außerdem winkt dort die Gaststätte ‚Zum trauten Fischerheim‘. Wir winkten zurück, und dann war die Straße wirklich zu Ende. Aber Rafał war um weitere Schleichwege nicht verlegen. Dass sie an der Einfahrt das weiße runde Schild mit rotem Rand trugen, störte uns nicht weiter. ‚Durchfahrt verboten‘ ging uns nichts an. Interessanter war es zu erraten, ob wir jemals wieder auf Erlaubtes stoßen oder im Gassensack versanden würden. Klappte immer. Und hätte uns ein vorwitziger Dorfpolizist angehalten, dann hätten wir nur Polnisch gesprochen wie damals Irenas Mutter mit Guntram in Warschau.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Rafał war ja motorradversiert und dachte wohl auch: Was eine Harley-Davidson kann, kann ein Mercedes schon lange. So kamen wir bis nach Prora, und Rafał konnte uns in dem Ungetüm fremdenführerhaft nicht nur die scheußlichste Stelle zeigen, sondern auch die allerscheußlichste.

Foto oben: hadot/Fotolia | Foto unten: Eberhard/Fotolia | Titelillustration mit Bildern aus dem Privatarchiv H. R. und Wikimedia Commons/gemeinfrei sowie von Shutterstock: LanaMay, StudioPhotoDFlorez, Pixfiction, corund

27 Kommentare zu “#2.45 ‚Zum trauten Fischerheim‘

  1. Interessant in welchem Alter die ersten Erinnerung einsetzen bzw an was man sich erinnert. Ich bin persönlich ehrlich gesagt gar nicht sicher…

    1. Die erste Erinnerung muss immer etwas Einschneidendes sein. An das täglichen Kindermüsli erinnert man sich also erst, wenn es zum Geburtstag mit „Karotten und Vanillemilch“ (Milupa) kredenzt wird.

    2. Es gibt anscheinend so etwas wie Kindheitsamnesie. Unsere Sprachentwicklung löscht dann quasi alle vorherigen nonverbal gespeicherten Erinnerungen aus bzw. macht das Abgreifen schwieriger. Deshalb erinnern wir uns selten an Erlebnisse der ganz frühen Kinderjahre.

  2. Mit meinen Eltern war ich ab der Pubertät nie wieder in Urlaub. Mittlerweile ist es leider zu spät und ich bedauere es doch ein wenig.

    1. Man kann die Dinge nicht mehr ändern. Ich war einmal mit meiner Mutter in Spanien und habe es sehr genossen sie einmal außerhalb ihres Alltagsstresses zu erleben.

      1. Der Alltagsstress meiner Mutter war ich. Dafür habe ich sie ab 1980 zwischen Australien, Hawaii und Israel entschädigt (ich beruflich, sie begeistert).

  3. Be mir geht das so: Die unstillbare Lust kommt auf, ich treffe mit Glück auf jemanden, dem es ähnlich geht, und stelle dann fest, dass ich meist auch eher an dem Neuen, an der menschlichen Begegnung Lust finde als am Sex. Kompliziertes Leben.

      1. Oh, das ist zwar unverständlich aber da soll es schon den ein oder anderen geben.

      2. Naja, je komplizierter das Leben – desto mehr sehnt man sich ab und an nach Einfachheit.

  4. Woher kommt wohl so ein Bedürfnis wie Bondage oder SM? Aus Kindertagen doch sicher nicht. Gängelbänder sind heute zumindest nicht mehr sehr en vogue. Es muss also noch andere Schlüsselerlebnisse geben.

    1. Sexuell Gefesserte kommen als Leiche in jedem dritten Krimi vor. Das sehen die Leute auf smartphone oder Leinwand und machen es nach. Was die Betrachter erst in der Mitte erfahren: Der Mörder hat den Sextod nur vorgetäuscht, damit die Kommissarin nicht merkt, dass es eigentlich um Rache, Erbschaft oder Eifersucht ging.

    2. Sado-Maso-Spielerein sind ein Spiel mit der Macht. Wie Sex ja sowieso häufig. Viel weiter muss man wahrscheinlich gar nicht gehen um eine Erklärung für das Interesse der Menschen zu finden.

      1. Wie war das noch gleich? Everything is about Sex, except Sex, Sex is about Power.

    1. Gutes Wetter bedeutet für den Landwirt etwas anderes als für den Urlauber. Dem entsprechend ist die Laune nur bei einem von beiden gut. Der Bauer guckt skeptisch auf seine Felder, während der Tourist bei 28° am Meer schon einige Euphorien im Kanister muss haben, damit seine Laune die Qualität des Wetters noch übertrumpft.

      1. Im Bett ist immer gutes Wetter. Ob wenigstens diese Erkenntnis für Ballermannbesucher und Bauer die gleiche ist?

  5. „Aus heutiger Sicht weiß ich, dass Speisen, die in Ostseebädern angeboten wurden, ohnehin nicht auf den Tisch gehörten.“ LOL

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