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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.27 Genies, Genießer, Sieger, Mister

Für die Fahrt von Łódź nach Warschau braucht man anderthalb Stunden, Rafał also eine. Dabei irritierte Silke Rafał wie immer, wenn er beschäftigt ist – mit der zügigen Bewältigung von Strecke (er) –, von hinten (sie): von Furcht geplagt (auch sie) mit ihren wirkungslosen, aber störenden Schnapplauten. Selbst ich erwähne von Zeit zu Zeit möglichst beiläufig: „Wir haben es nicht eilig.“ Gleichzeitig weiß ich natürlich, dass bei einem gemeinsamen Unfalltod Rafał dreißig Jahre versäumt, die Silke und ich schon angesammelt haben.

Foto: Novikov Aleksey/Shutterstock

Das Hotel ‚Bristol‘ war das erste Grandhotel-Highlight dieser Reise. Unser Berliner ‚Sofitel‘ hat zwar auch fünf Sterne, gehört aber zu einer Kette, was in Snob-Kategorien eine Wertminderung darstellt. Alles war so prächtig wie erhofft, und ich glaubte, nur ich könne den Luxus wirklich wertschätzen, weil ich in Erinnerung habe, wie der Bau vor vierzig Jahren aussah.

1976 war ich zu Pfingsten mit Roland in Berlin.

Im November hatten wir uns kennengelernt; im Januar war er zu mir gezogen. Nun besuchten wir Freunde und zeigten einander unsere Schauplätze. Am Pfingstmontag brachte mich Roland zum ziemlich neuen Flugplatz Tegel und ich flog nach Warschau. Zum ersten Mal. Es war mein erster größerer Auftrag in meinem neuen Job. Ich war zuständig für den Ostblock. Ausgerechnet ich mit meiner Sozialismus-Phobie! Ostberlin, Moskau und die Transitstrecke durch die DDR hatte ich immer ganz furchtbar gefunden. Aber Warschau gefiel mir. Da hatte ich in den Straßen nicht das Gefühl, in Feindesland zu sein. Ein junger Einheimischer zeigte mir die Stadt, ich hatte ihn sehr in Verdacht, mir noch mehr zeigen zu wollen, aber auf die andere Seite der Weichsel wollte ich doch nicht. Er kann nicht sehr hübsch gewesen sein, denn die katholischen Zeiten, in denen ich mich lange bitten ließ und dann trotzdem entsagte, die waren mehr als vorbei.

Am nächsten Tag musste ich in den Kulturpalast, ein riesiges Zuckerbäcker-Monstrum mit zweiundvierzig Stockwerken und dreitausendzweihundertachtundachtzig Räumen. Dort traf ich bei der staatlichen polnischen Künstleragentur Pagart den Sieger des letzten Chopin-Wettbewerbs Krystian Zimerman, und obwohl die Konkurrenz, die britische EMI, schon da gewesen war, gelang es mir doch, das Steuer rumzureißen und den Pianisten für die ‚Deutsche Grammophon‘ zu verpflichten. Seinen schlesischen Akzent legte er im Laufe der Jahre ab. Wir blieben Freunde.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich sagte mal zu Krystian, dass mir Polen viel besser gefiele als Ostberlin und Moskau, schon deshalb, weil es hier nicht diese scheußlichen Plakate gab mit Kampfparolen und heroisch gezeichneten Arbeiten. „Das haben sie bei uns auch versucht“, sagte Krystian, „aber gleich in der ersten Nacht wurden die immer abgerissen. Da haben sie schließlich aufgegeben. Mit Polen kann man das nicht machen.“ Die doofen Deutschen haben das bei den Nazis ertragen und in der DDR erst recht. „Ein Regime, das solche aufdringlichen Tiraden nötig hat, steckt voller Minderwertigkeitskomplexe“, dachte ich. Und dass sich die Kommunisten nicht schämten, das ganze Nazibrimborium nachzumachen mit Paraden und Jungen Pionieren – für mich unverständlich.

Meine Mutter wusste: „Die Polen können die Deutschen nicht leiden, aber die Russen hassen sie noch mehr.“ Ich kannte auch den Spruch: ‚Welches sind die besseren Deutschen, die im Osten oder die im Westen? Antwort: Die im Westen natürlich, die brauchen wir wenigstens nicht zu lieben.‘

Foto: roompoetliar/Shutterstock

1980 flog ich wieder nach Warschau, dieses Mal direkt zum Chopin-Wettbewerb. Inzwischen hatte ich mich in meiner neuen Stellung gut etabliert. Martha Argerich war in der Jury gewesen, aber bereits abgereist, als ich ankam. Sie war empört darüber gewesen, dass der Kroate Ivo Pogorelich nicht in die Endrunde gekommen war. Sie sagte mir später: „Er hätte nicht gewinnen müssen, aber für die Endrunde hat er sich qualifiziert.“ Von dieser Äußerung machte ich vor den Medien Gebrauch und las dann in der Zeitung: ‚Martha Argerich: Er ist ein Genie!‘ Zwischen hilfreichen Enthüllungen und auflagengeiler Lügenpresse habe ich so ziemlich alles kennengelernt, was die Medien zu bieten haben.

Foto: Deutsche Grammophon Gesellschaft

Pogorelich, obwohl ausgeschieden, war noch da und hielt Hof für die Presse auf einem geeigneten Schloss. Er verließ sich nicht nur auf sein Klavierspiel, sondern beeindruckte mit seinen Ansprüchen. So erfuhr die Öffentlichkeit im Laufe des folgenden Jahres, wie ein Künstler seines Formats zu handeln und sich behandeln zu lassen hat. Hotel: Präsidenten-Suite, Champagner: Dom Pérignon, Wagen: Limousine mit Chauffeur. Wer das verlangt, der muss doch was sein! Auf dem Balkan ist das wohl so, dachten die weltfremden, Bahn fahrenden, musikhörigen Schwärmer in ihren Hinterzimmern bei Büchsensaft mit oder ohne Wodka, und sie schrieben darüber. Da wurden auch die Journalisten der Lifestyle- und Gesellschaft-Ressorts aufmerksam. Mir war schnell klar: vielleicht Genie, Genießer bestimmt. Mich nannte er damals in Warschau immer „Mister!“, und er machte mir klar, wie großartig er sich fand. Ich ließ mich von derartigen Anwandlungen schon nicht mehr einschüchtern und verpflichtete ihn für eine Solo-Aufnahme in München. Von unserer Administration bekam ich dann ein Schreiben, das mich belehrte, ich hätte dieses Projekt nicht in die Wege leiten dürfen. Der Etat sei nicht genehmigt gewesen. Als die Einspielung im nächsten Jahr hunderttausendmal verkauft wurde, waren mir auch die Buchhalter nicht mehr böse. Mit dem ersten Preisträger Đặng Thái Sơn hatte ich anstandshalber auch eine Platte gemacht, aber er verschwand wieder in Fernost und blieb erfolglos. Dachte ich. Nun lese ich aber bei Wikipedia, dass er in Berlin Meisterkurse gegeben hat, die vietnamesische und die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt und in Montreal lebt. Ich weiß eben gar nichts mehr. Aber wenigstens weiß ich noch, wo ich suchen muss.

Foto: Deutsche Grammophon Gesellschaft

Es gibt wie so oft einen Brief an Pali, den ich damals schrieb. Jetzt füge ich ihn hier ein, denn wann sonst sollte ich das tun?

Warschau! 21.10.1980

Pali,
mehr Ideen spuken mir im Kopf rum als während der ganzen langen Amerikareise. Weil ich ohne Gefährten bin? Ist Alleinsein an sich schon ein Wert? Kommen da schon die Gedanken angepoltert wie die Kölner Heinzelmännchen? Purzeln einem die Musen nur in den Unterleib, wenn man nicht im behindernden/schützenden Clan ist? Vermutlich. Wie aber kann ich dann die Nesthaftigkeit eines bürgerlichen Elternhauses literarisch verherrlichen, anstatt ‚Trostloses‘ zu produzieren – wenn man zu Hause bloß im eigenen Fleisch schmort, ohne dabei wenigstens die unerlässliche Soße abzusondern?

‚Garnierung‘, Pali, ist doch das furchtbarste Wort, das es gibt, nicht? Schlimmer nur die Realität dahinter: Erbsen, so groß wie die Pupillen von Heroinsüchtigen und genauso ausgelaugt, fades Geschnippeltes zerkochten Gemüses um einen Klumpen Fleisch. Immerhin, ich habe mich meiner Umgebung angepasst: Erst hab’ ich drei Scheiben geräucherte Gans mit Meerrettich gegessen (das fand ich besonders polnisch) und dann hab’ ich Lammfilet bestellt, weil ich das den Polen, bei denen Fleisch ja so knapp sein soll, ganz bestimmt nicht wegesse. Schafe gibt es hier auf der Weide so viele wie Palmen in finnischen Wäldern. Dass aber in den für die Touristen gefüllten Tiefkühltruhen die Importware von Zeit zu Zeit umgeschlagen wird, kann ja nur im Sinne des Kommunismus sein.

Foto: Ahanov Michael/Shutterstock

Essen bedeutet mir nichts. Das stimmt so nicht. Es ist Konversationsstoff und langt, in Vorfreuden-Einheiten gerechnet, bis zu zwölf Stunden. In derselben Vorfreudenwährung bringt es der Jahresurlaub auf etwa vier Monate und Weihnachten auch noch auf sechs Wochen. (Wie bei allen Währungen kann man nachher die Ware im Plastikbeutel weniger zufriedenstellend finden als vorher die Münze im Portemonnaie.)

Foto: Proxima Studio/Shutterstock

Ein Gespräch zwischen Carter und Breschnew ist zweifellos viel aufregender als ein Fick zwischen mir und Geeignetem – nur dass mein Schwanz das partout nicht einsehen will. ‚Hunger auf Menschen‘ – klingt gut. Stimmt auch. Es gibt faszinierende Nonnen und atemberaubende Nutten.

Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin ein Vieh, das ausgerottet werden muss. Das bringt uns zur letzten Geschichte meines neuen Buches ‚Niemals, und auch dann nicht‘.

Bei all den Problemen, die das Buch verursacht hat, sind wir nie dazu gekommen, über die ungelösten Probleme zu sprechen, die in dem Buch stecken und mein Leben ausmachen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Meine Mutter hat sich nach eigener Aussage nur schwer dazu entschließen können, mich jemals wiedersehen zu wollen – und wundert sich gleichzeitig nach wie vor, dass ich kein Vertrauen zu ihr habe. Wie sollte ich? Erst am letzten Sonntag drohte sie recht unverblümt mit Selbstmord für den Fall, dass ich das Buch veröffentliche. Findest du das mütterlich? Was meine Mutter als trost- und lieblos empfindet, macht für mich das Leben lebenswert.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Etwas Großes zu vollbringen, dieses Bedürfnis hat sich immer noch nicht übertölpeln lassen, aber es steht so blödsinnig im Raum und guckt zu, wie ich an mehr oder minder behaarten Körpern rumlecke. Alles, was ich erlebt habe, ist so schillernd, so doppelbödig, so wie hier in Warschau zu sitzen und diese ernst gemeinten Frivolitäten zu schreiben bei den Discoklängen von ‚Evita‘. Das Musical habe ich vor genau vier Wochen in Los Angeles atemberaubt gesehen, mein Gott, wirklich vier Wochen schon? Dieses Leben zuckt an mir vorbei in einer Geschwindigkeit, dass sogar ich meine staksige Art zu tanzen verlerne. Wenn ich tue, was ich tue; wenn ich lasse, was ich lasse – wo hört der Wahn auf, wo fängt der Sinn an? Ich würde so gern über etwas Wichtiges schreiben. Ich entdecke so gern, ich forme so gern Leben, ich chiffriere und entschlüssele. Jede Einzelheit hier nehme ich wahr, das Bewundernswerte, das Groteske. Polen ist so wenig der Ostblock, wie New York der Wilde Westen ist. Anregungen, Erkenntnisse, der Wunsch, sich mitzuteilen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Weißt du, das Leben fasziniert mich einfach. Ein jugoslawischer Pianist, der es nicht bis in die Endrunde des Chopin-Wettbewerbs geschafft hat, macht hier mehr Furore als der Sieger. Martha Argerich ist bereits ‚empört‘ abgereist. Ivo Pogorelich heißt er. Ich denke, ich werde versuchen, ihn unter Vertrag zu nehmen und Marthas Abreise publizistisch ausschlachten. Vor vier Jahren kam ich mit dem Preisträger Krystian Zimerman – und das war ein voller Erfolg. Dieses Mal lautet die Botschaft wie Hemingways Short Story: ‚Der (in diesem Fall vietnamesische) Sieger geht leer aus‘. Dang Thai Son. Drück mir die Daumen, dass es mit dem schönen Jugoslawen klappt und dass ich recht behalte. Ich verliere so ungern.

Pali, ich weiß, du hast selbst genug Probleme – mit deinen Themen musst du kommen.

Fotos: Privatarchiv H. R.

Ich komme mit meinen.

Hanno

Ein Stück Film kann ich auch noch beisteuern, damit wir wieder Wort, Bild und Ton beisammen haben. Unterm Gesamtkunstwerk läuft bei mir nichts …

Und hier noch ein Ausblick, wie es bei Pogorelich weitergehen wird:

Kystian Zimerman lebt dann mit seiner Familie in der Schweiz.

Titelillustration mit Bildern von Digital Genetics/Shutterstock, eAlisa/Shutterstock, EV-DA/Shutterstock, Javier Brosch/Shutterstock, BigAlBaloo/SHutterstock

34 Kommentare zu “#2.27 Genies, Genießer, Sieger, Mister

  1. Mit Polen kann man das nicht machen. Angesichts dessen, was dort in den letzten Jahren politisch so passiert, sollte man sich diesen Satz nochmal etwas bewusster machen.

      1. Das ist in Polen genau wie in den USA, wie überall. Das flippige Warschau ist fast so weltoffen wie New York oder London, auf dem Lande hängen die bodenständigen Menschen an Traditionen wie Beten und Lynchen.

      2. Und anscheinend hat kaum jemand großes Interesse miteinander zu reden um etwas daran zu ändern. Übereinander ist einfacher.

  2. Doch wieder interessant wie die Presse schreibt was ihnen passt. Das war auch ohne Fake News Label schon immer so.

    1. Die einen wollen bekehren, die anderen wollen richten.
      Die einen wollen unterhalten, die anderen wollen die Auflage steigern. Schwer, das über einen Kamm zu scheren.

      1. So generelle Aussagen funktionieren zwar (fragen Sie mal die AfD), aber als fundierte Analyse funktionieren sie selten.

  3. Ich übertreibe sicherlich ein wenig aber ich sage gerne Essen bedeutet mir alles. Zumindest so viel mehr als lediglich ein Mittel um am Leben zu bleiben.

    1. Ausgewähltes Essen, um mir eine Freude zu machen und ausgesuchte Kleidung, um meiner Umgebung eine Freude zu machen, das war mir neben Die-Welt-retten und In-den-Himmel-kommen auch immer besonders wichtig.

      1. Sich und anderen Freude bereiten. Ist das nicht schon die Essenz vom „Leben lernen“?

  4. Zuckerbäcker-Monstrum trifft es wohl ganz gut. Beeindruckend ist der Bau allein durch seine Größe. Understatement ist wieder etwas ganz anderes, bei staatlichen Gebäuden aber wahrscheinlich auch gar nicht gewünscht.

    1. Erinnert mich an die Karl-Marx-Allee in Berlin. Wobei diese Art der Architektur in einer liberalen Großstadt wie Berlin wahrscheinlich noch mehr aus dem Rahmen fällt.

  5. Präsidenten-Suite, Dom Pérignon, und Limousine mit Chauffeur. Ein wenig (bis stark) übertrieben aber auch wieder interessant, dass manche Künstler (oder manche Künstler auf dem Balkan) für ihre Arbeit geschätzt werden. Das Klischee des armen Künstlers sollte endlich mal eingestampft werden.

    1. Eine ordentliche Bezahlung für ihre Arbeit wäre vielleicht erstmal Anerkennung genug. Der Rest ist ja nur Pomp.

      1. Pomp ist vielen wichtig. Auch in der Politik…
        Und schon Oscar Wilde formulierte ja: „Man umgebe mich mit Luxus, auf alles Notwendige kann ich verzichten“

    2. Die meisten Künstler sind eher arm. Aber die, von denen wir lesen und hören, die sind eher reich, weil sie die Erfolgreichen sind. Ich fürchte, im Bereich der Kunst klafft die Schere noch weiter auseinander als in der Gesamtbevölkerung.

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