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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.29 Schlösser in Parks

Gegen halb sieben wurde es wieder Zeit für Gemeinsames. Rafał klopft dann zur vereinbarten Zeit an meine Tür und wir machen uns Gedanken darüber, wie Silke sich wohl gekleidet haben wird, damit ich das modisch parieren kann. Für das Abendessen im ‚Bristol‘ hat sie sich bestimmt etwas Besonderes ausgedacht, und selbst Rafał trägt Sakko. Er hat vorhin schon David Garrett begrüßt, der hier auch gerade abgestiegen ist. Seit Rafał mich kennt, fühlt er sich der Klassikszene sehr verbunden.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Vor einem Grandhotel auf der Straße zu sitzen, seinen Aperitif zu nehmen und die zu beobachten, die das nicht tun, hat etwas sehr Aufbauendes. Man ist dem Schicksal dankbar, dass es einen begünstigt hat, und genießt das erst mal, bevor man sich wieder pflichtbewusst um die kümmert, denen es schlechter geht. Wenn gerade niemand Erwähnenswertes vorbeikommt, kann man zwischendurch auch Worte miteinander austauschen, und wenn man ganz allein dasitzt, kann man sich so seine Gedanken machen, vor sich hin brüten oder den Kellner rufen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Gegen 20 Uhr begaben wir uns in den Speisesaal. Andere taten das nicht. Wir waren fast so unter uns wie zu Hause, bloß mit einer Speisekarte in der Hand. Ich weiß gar nicht, was ich schlimmer finde: Gähnend leere Lokale oder randvoll gestopfte Gaststätten; darüber nachzudenken blieb reichlich Zeit. Aber – wir bekamen, was wir bestellt hatten, und die Umgebung war ja durchaus ansehnlich. Ein weiterer später Drink vor der Tür, auf dem Boulevard, dann aufs Zimmer zum Rentnerwochenende oder aufs Pflaster zum Durchfeiern. So bekam wieder jeder das, was ihm zustand.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Ich bin doch wirklich sehr, sehr bürgerlich: Ich lege mich gern ins gemachte Bett, und ich rufe immer so in den Wald, wie ich möchte, dass es herausschallt. Warum also habe ich Vorbehalte gegen Sonntagsausflüge? Na schön, ehe ich mir mein Bett selber mache, krieche ich auch schon mal unter die ungelüftete Decke, und bei manchem, was ich so rausschreie, könnte der Wald zurückfragen: Was denkst du dir eigentlich dabei?! Trotzdem. Meine Aversion gegen alles, was mit Sonntag zu tun hat und kein Braten ist, macht mir Kopfzerbrechen. Vielleicht will ich bloß nicht mit dem Kopf in meine spießige Genügsamkeit gestoßen werden wie der Hund in seine Scheiße, damit er stubenrein wird.

Bild oben: picture alliance/dieKLEINERT.de/Karsten Weyershausen | Foto unten: Angela Rohde/Shutterstock

Das wirklich Schlimme ist der Nachmittag: Zum Kaffä-Besuch bringt man ‚eine Kleinigkeit‘ mit, die beschenkte Person sagt: „Das wär doch nicht nötig gewesen.“ Man lobt den stinklangweiligen Kuchen, oder er ist doch nicht so schlecht, und wenn man noch ein Stück angeboten bekommt, ziert man sich erst: „Ich will Sie nicht berauben!“, und spreizt sich nach der zweiten Aufforderung doch ruhig zuzugreifen: „Na, dann bin ich mal so frei!“ Oder die schon wieder schwangere Mutter schiebt den Säuglingswagen durch die städtischen Anlagen. Vati trägt ihre Handtasche. – Alles Zerrbilder. So ist das gar nicht mehr. Ich muss meine Aversion bremsen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Also gut: Das Wetter war schön, Schlossbesichtigungen waren vorgesehen, und es war nun mal Sonntag. Das Dumme daran war, dass alle das wussten und weder zur Arbeit noch in die Schule gingen, sondern dieselben Ziele hatten wie wir.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Zunächst fuhr Rafał uns zum Wilanów-Palast. Der lag in seinem Park und wir erwischten, ziemlich davor, den letzten Parkplatz, für Behinderte, aber als den empfand ich mich ja, und dem wurde auch gleich an der Kasse, die vor dem Zutritt stand, Rechnung getragen: Erstens wurde es billiger, weil ich so schön alt bin, zweitens wurde es billiger, weil ich im Rollstuhl saß, und drittens wurde ein Seiteneingang extra für mich geöffnet und eine Schwelle wurde ausgelegt, über die Rafał mich nach drinnen beförderte. Ich war geschmeichelt und gab mir große Mühe, nicht lahm, sondern stolz zu sein, während ich die Räume auf mich wirken ließ. Seit jeher bin ich gewohnt, dass ich mich auf der Stelle umdrehen kann und alles, was vor mir und was hinter mir liegt, von meinem Standort aus betrachten kann. Den Rollstuhl muss man dafür, wie mehrfach beklagt, erst umständlich wenden, da heißt es: Abstriche machen und den Rundblick der Bequemlichkeit opfern.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Offen gesagt, alle musealen Schlösser sehen innen irgendwie ähnlich aus, Sessel, Schränke, Bilder, Kronleuchter, fast so gleich wie Plattenbauwohnungen, aber natürlich viel festlicher.

Fotos (9): Privatarchiv H. R.

Anschließend gingen wir durch den Park. Da war nichts dem Zufall überlassen, nur die freizeitlich Gekleideten störten als Fremdkörper ein wenig im waschechten Barockgarten, wie er für den königlichen Absolutismus steht. Alle Gartenelemente fügen sich zum Gesamtkunstwerk. Das Ziel ist Vollkommenheit. Dort wo die strenge Architektur abgegrenzt ist und die Natur sich selbst überlassen bleibt, liefen wir hinunter zum Wasser, sogar ich, weil der Rollstuhl auf dem Hinweg die Senke und auf dem Rückweg die Steigung nicht bewältigen konnte. Dann durch malerisches Gelände ohne zu großen Andrang zurück. Gegenüber dem Parkeingang direkt hinter unserem Wagen lag ein ansehnliches Gebäude, das ehemals vielleicht Fürstengäste beherbergt hatte und jetzt als Restaurant diente. Es machte einen gehobenen sonntäglichen Eindruck und war ausgebucht. Siehste, das kommt davon, wenn man nicht reserviert hat. Wir begnügten uns mit der Schänke auf der anderen Straßenseite. Da konnte man auch was trinken, und den Leuten, die vorbestellt hatten, dabei zugucken, wie sie da drüben durch die Tür verschwanden.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Auch der Platz neben unserem Wagen war für Behinderte ausgewiesen. Gerade als wir abfahren wollen, kam ein rüstiges Ehepaar und bestieg behände sein Auto. Rafał machte tadelnde Bemerkungen, aber ich fand, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Krücken schmeißen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Dann aber ab zum nächsten Schloss. Im Łazienki-Park liegt der Myślewicki-Palast. Schwierig auszusprechen für einen Deutschen, aber noch schwieriger, eine Lücke zu finden für einen Mercedes in akzeptabler Nähe. Viele Bäume, viele Gebäude, viele Menschen. Sonntagsausflug im Mai. Schlangen vor den Eingängen, Massen in den Gartenlokalen. Aber eine wunderbare Anlage, in der sich die Besucher verlaufen. Breite Wege, hohe Bäume, teils rokokoverspielt teils ausgewogen klassizistisch. Schon die Namen verraten die Stimmung: Łazienki-Palast, Theater auf der Insel, Belvedere, Weißes Haus, Alte Orangerie, Neue Orangerie, Alte Kordegarda, Neue Kordegarda, Myślewicki-Palast. Diana-Tempel, Ägyptischer Tempel, Große Offizine, Wasserturm, Chopin-Denkmal. Alles ist in fabelhaftem Zustand. Farbe auf Mauern hätte für die Instandsetzung nicht gereicht: Die Deutschen haben in diesem Park zerstört und gebrandschatzt wie in ganz Warschau, wie in ganz Polen. Hitler hatte angeordnet und Himmler hatte dann befohlen, Warschau vollständig zu vernichten. Während des Warschauer Aufstandes sollten alle Nichtdeutschen – Männer, Frauen, Kinder – erschossen werden. Schon gleich nach der Besetzung Polens hatte Himmler verfügt:

Für die nicht-deutsche Bevölkerung des Ostens darf es keine höhere Schule geben als die vierklassige Volksschule. Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein, und fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich. Außer dieser Schule darf es im Osten überhaupt keine Schule geben. […] Die Bevölkerung des Generalgouvernements setzt sich dann zwangsläufig nach einer konsequenten Durchführung dieser Maßnahmen im Laufe der nächsten 10 Jahre aus einer verbleibenden minderwertigen Bevölkerung […] zusammen. Diese Bevölkerung wird als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen und Deutschland jährlich Wanderarbeiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen […] stellen […].

Quelle: Reinhard Kühnl: ‚Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten‘, 3. Auflage, 1978/NS-Archiv

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Dieser Text ist für mich unvorstellbar. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg ist mehr als gerechtfertigt, alle Klagen der Schlesier und Sudeten sind es nicht. Meine Mutter hat manchmal erzählt, wie die Polen mitten in der Nacht von SS aus ihren Häusern getrieben und auf Lastwagen gezwungen wurden. Entsetzlich fand sie das, und dass sie trotzdem das Kind eines Deutschen zur Welt gebracht und ihn geheiratet hat, ist mir unerklärlich.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ich war ein bisschen bedrückt und sehr beeindruckt. Würden Deutsche, würden Menschen das wieder tun, wenn ihnen gesagt würde, dass es notwendig sei? Und würden sie hinterher, nach erzwungener Demokratisierung, wieder ganz friedliche Bürger werden, mit der Unfähigkeit zu trauern? Diese oft gestellten Fragen. Diese ständigen Beweise menschlicher Bosheit. Alles hier ist so heiter, die Sonne lacht, die Kinder tun es auch. Eine wohlige Trägheit schwingt gemächlich in den Nachmittag. Das Pendeln einer Schaukel, das Aufsprudeln eines Springbrunnens. Die Brücke über den Bach, die Säulen unter den Türmen, die Tulpen auf den Beeten. Das Graffito an den Fassaden; mühsam neu errichtet, schnell gedankenlos verschmutzt. Was Menschen leisten, was Menschen zerstören. Verstörend.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Für ganz Schwindelfreie kommen jetzt zwei Filmschnipsel aus Rafałs Smartphone.

Wir fuhren zurück zum ‚Bristol‘ und nahmen vor dem Haus einen Imbiss, ‚Snack‘ nennt man ihn heute, wenn man nicht vorgestrig erscheinen will. ‚Globalisierung‘ heißt es, wenn die Kälber und die Kartoffeln ‚aus der Region‘ kommen und die Weine aus Australien. Es ist immer schön, die Restaurants der Hotels, in denen man schläft, zu benutzen. Man unterschreibt die Rechnung und legt erst zum Abschied am letzten Tag seine Kreditkarte auf den Tresen. Zwischendurch fühlt man sich fast eingeladen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Everett Collection, Elena Kharichkina, LanKS, Africa Studio, James.Pintar, Morphart Creation, pupahava

23 Kommentare zu “#2.29 Schlösser in Parks

  1. Oh, man merkt tatsächlich stilistische und handwerkliche Unterschiede zwischen Rafals Handyaufnahmen und Ihren eigenen Videocollagen 😉

  2. Ja, Deutsche/Menschen im allgemeinen würden das wieder tun. Die neue Geschichte belegt, dass der Weg zum Schrecken näher ist als man denkt.

      1. Der Ehemann einer Bekannten wurde vor gut einem halben Jahr im Stadtpark erstochen. Das Schlimmste war tatsächlich, dass es eine reine Zufallstat war. Es gab wirklich überhaupt kein Motiv bzw. keinen Grund warum gerade er zum Opfer wurde. Ganz ganz schreckliche Geschichte!

      1. Leere Worte sind ärgerlich und frustrierend. Mir hat mal jemand gesagt „Wer alleine isst, stirbt alleine“.

  3. Die Prozedur um Sonntagsbraten und Kaffeekränzchen kenne ich zwar nicht, aber Sonntage gehen mir dennoch auf die Nerven. Einfach weil das Leben irgendwie stillzustehen scheint. Geschlossene Geschäfte, geänderte Öffnungszeiten in Cafés und Bars…

    1. Das ist mir alles egal. Das Problem bei Sonntagsausflügen ist einfach, dass JEDER den Sonntag für seine Ausflüge wählt. Ich würde also eher sagen statt Stillstand bekommt man gnadenlose Überfüllung.

      1. Mal lockt das Woodstock- oder Stadion-Erlebnis. Dann wieder die Abgeschiedenheit eines Klostergartens. Manche wollen beides: am liebsten gleichzeitig …

      2. Die eierlegende Wollmilchsau bitteschön. Oder ein gemeinschaftliches Konzerterlebnis ohne störende Menschenmassen. Oder einen abgeschiedenen Garten in schöner Gesellschaft…

  4. Toll wenn man sich überhaupt Gedanken machen kann wie jemand gekleidet sein wird. Es gibt ja nichts langweiligeres als schon im voraus zu wissen, wie alles (- jemand -) kommen wird.

    1. Wir lieben es, wenn wir uns treffen und unabgesprochen die gleichen Farben tragen. Das hat etwas von Gedankenübertragung, selbst wenn es vielleicht nur Zufall ist.

  5. Museale Schlösser sehen vor allem oft ziemlich ungemütlich aus. Ich habe mich schon öfters gefragt, ob darin wirklich so gewohnt wurde, wie heute ausgestellt. Wohlfühlen würde ich mich dort nicht.

      1. Vor allem: man kann ja, wenn es einem zu überladen ist, ein paar Renaissance-Schränke und Rokoko-Kommoden in den Sperrmüll geben.

  6. Wie unterschiedlich die Vorlieben doch sind. Hotelrestaurants versuche ich immer zu vermeiden. Allein um das Gefühl zu haben etwas mehr von der jeweiligen Stadt zu erleben.

    1. Hier schlafen, dort essen. So halte ich es auch am liebsten. In manchen (kleineren) Orten ist aber das Hotel-Restaurant das beste in der Umgebung. Dann bestehe ich nicht auf Höllenfraß woanders, wenn ich den kulinarischen Himmel im Haus habe.

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