Die Fahrt nach Hause entsprach nur noch der Entfernung eines nicht sehr weiten Tagesausflugs. Das war, fand ich, ein lustiges Understatement. Am Montag abgefahren, am Sonntag wieder angekommen. So gehört sich das. Ohne ‚Formalismus‘ geht gar nichts. Das behaupte ich jedenfalls, seit ich dieses Wort kenne.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

Silke hatte überlebt, trotz Rafałs Fahrweise, ich auch, aber nur knapp, denn am Montag ließ ich mich gleich bei meinem Hausarzt blicken, und der schickte mich sofort zum Entzug, am nächsten Tag schon. Silke besteht darauf, es ‚Entgiftung‘ zu nennen, weil ein Entzug lange, qualvolle Wochen dauert. Was den Termin angeht, war ich einsichtig. In einer Woche sollte mein Geburtstag stattfinden. Dazu hatte ich dieses Mal alle, die noch lebten, aus meinem früheren und meinem jetzigen Leben ins ‚Quellental‘ eingeladen, und es hatten auch fast alle zugesagt. Giuseppe war aus Italien angereist, Bo wollte mit Ingrid aus Schweden kommen, Berlin und Hamburg waren sowieso dabei.

Foto links: Matzematik/Wikimedia Commons | Foto rechts: pixabay/gemeinfrei

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Giuseppe saß an meinem Bett und grämte sich über meinen Bluthochdruck, allmählich ich mich auch. Auf meiner Feier wollte ich ungern als Wrack erscheinen. Das hielt ich für unvorteilhaft. Aber absagen? Peinlich hin, peinlich her, ich sagte ab. Nein, nicht mal das. Diese undankbare Aufgabe übernahm Silke. Ich war mir nicht sicher, ob es wegen des drohenden Harnverhaltens mit mir so weit gekommen war oder weil ich ein liederliches Stück Dreck bin. Wie immer musste ich in der Anstalt an Gruppensitzungen teilnehmen. Das finde ich jedes Mal ganz schrecklich. Aber da ich mich seit meiner Kindheit damit beschäftige, besser zu wirken, als ich bin, gelang das auch hier wieder mühelos. Trotzdem wäre es eher diese niederziehende Therapieform, die mich vom Alkohol abbringen könnte, als die Sorge um meine Gesundheit.

Foto: merklicht.de/Fotolia

Am nächsten Wochenende fuhr Rafał mich wieder nach Hause, und ich war entgiftet, wenn auch, wie Silke weiß, nicht entzogen.

Foto: Privatarchiv H. R.

Meine Freundin Anette hatte im März – über die Reiseroute unterrichtet – nachgehakt, ob das nicht ein bisschen viel wäre. Sicherheitshalber rechtfertigte ich mich sofort, um Zweifel zu zerstreuen, besonders meine eigenen:

Liebe Anette,

1.) In Warschau und Rügen sind wir zweieinhalb, in Zoppot dreieinhalb Tage. Das reicht ja wohl.

2.) Görlitz und Masuren sind impressionistisch zu sehen. Der Blick aus dem Autofenster genügt beinahe schon.

3.) Für die Marienburg ist ein voller Tag mit zwei Übernachtungen auch genug.

4.) Statt Heringsdorf ist es jetzt Swinemünde, weil der ‚Admiral‘ auf drei Nächten bestand; der Aufenthalt findet sowieso bloß statt, weil es von Danzig bis Rügen neun Stunden wären.

5.) Breslau und Krakau sind mit gut anderthalb Tagen sehr zufrieden. Die Autofahrt dauert jeweils nur zwei Stunden.

6.) Rafał sagte sofort, die Zeit auf seinem ‚Dorf‘ sei viel zu lang. Dabei hat er mir gestern, nach vier Tagen Krankheit, schon so viele Verwandte, die ich kennenlernen müsse, aufgezählt, dass wir, glaube ich, drei Wochen brauchen würden, wenn er Wort hielte. Nach Tschenstochau seien es nur 20 Minuten von Radomsko. Stell ich mir an Himmelfahrt ganz sehenswert vor. Travemünde hat nur deshalb zwei Übernachtungen, damit wir an einem Sonntag zu Hause ankommen, nachdem wir an einem Montag abgereist sind.

Noch Fragen?

Foto: Daniel Ernst/Fotolia

Selbst wer nicht auf einer einfachen Antwort auf eine schwierige Frage besteht, will trotzdem oft mehr als nur die Problemlösung: Er und sie wollen Visionen. Helmut Schmidt fand Visionen behandlungsbedürftig. Angela Merkel hätte er also nicht zum Arzt schicken müssen. Eine gerechte Welt mit Wohlstand für alle, aber ohne Plastik und CO2. Wär’s das? Leben lernen heißt, Ertragen lernen, und Leben lernen heißt, Handeln lernen. Verantwortung tragen, trotzdem auch loslassen können. Vielleicht heißt Leben lernen auch, Sterben lernen, obwohl man das ja im Allgemeinen nicht üben kann. Weinen können, lachen können – selbst wenn es an den verkehrten Stellen ist? – ‚So what!‘ Wer genügend Lacher im Köcher hat, schießt bessere Pfeile – Liebespfeile, Hohnpfeile, es kommt auf das Ziel an. Treffen, vorbeischießen, übers Ziel hinausschießen. Überleben lässt sich leichter lernen, als kampflos zu leben, aber wir wissen ja: Langfristig gelingt weder das eine noch das andere.

Foto: Pierre Paul Rubens/gemeinfrei

Foto: pixabay/gemeinfrei

Während der Zeit, in der ich diesen Text im September 2019 Korrektur lese, lese ich auch im ‚Spiegel‘ über Esther Wojcickis Buch ‚Panda Mama‘. Die amerikanische Pädagogin mit dem polnischen Namen behauptet, Kinder müssten Scheitern lernen, um später Niederlagen zu ertragen. ‚Von der Sowjetunion lernen, heißt Siegen lernen‘, stand entlang der Transitstrecke durch die DDR auf großen Plakaten in den runtergekommenen Dörfern. Grotesk! Siegen macht Spaß, gehört aber nicht ins Unterrichtsprogramm des Leben-Lernens. Wer allerdings erst in hohem Alter an ‚Vorwärts immer, rückwärts nimmer‘ scheitert, der hat wohl nicht mehr die Kraft, seinen Irrtum vor sich und der Welt einzugestehen: Scheitern muss man möglichst jung.

Festhalten und loslassen. Meine Eltern haben mich immer beschützt, aber nie eingeengt. Mit 6 schon ging ich allein ins Kino, über mehrere Hauptstraßen. Eine Uhrzeit, zu der ich wieder zu Hause sein sollte, bekam ich nie abends mit auf den Weg, wenn ich vor die Tür ging. Manchmal ist Vertrauen eben doch besser als Kontrolle.

Fotos (2): Privatarchiv H. R./links: ich mit 6, rechts: ich mit 16 | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Lauritta und AlexRoz

30 Kommentare zu “#2.49 Alles nach Plan

    1. Ach du guter Gott, wenn eine Entgiftung nötig ist, dann hat Frau Buchmann recht. Passen Sie bitte gut auf sich auf Herr Rinke.

  1. Mit 6 allein ins Kino – Respekt. Vertrauen haben mir meine Eltern zwar auch immer entgegen gebracht, aber meine ersten Solo-Kinoerlebnisse waren doch erst 10 Jahre später.

    1. Vertrauen und Verantwortung ist doch immer das beste Lehrmittel. Kontrolle hat noch kaum jemandem geholfen, oder?

      1. Meine Mutter hat während der ersten vier Schuljahre meine Hausaufgaben kontrolliert. Manchmal musste ich sie dann neu schreiben. Bei schlechten Noten hatte ich keine Furcht davor, dumm zu bleiben, sondern davor, meine sehr aufmerksamen Eltern zu enttäuschen. Ohne diese beiden Komponenten wäre nichts aus mir geworden.

  2. Kinder müssen Scheitern lernen, um später Niederlagen ertragen zu können klingt sehr dramatisch. Aber klar, wer als Kind immer nur verhätschelt wird hat es später sicherlich auch schwer im Leben.

      1. Das ist keine blöde Ansicht. Leider sind so viele Erwachsene damit überfordert ihren Kindern bei diesem Lernprozess zu helfen.

      2. Kinder erziehen ist ohne Frage unterschätzt. Aber wer macht sich schon ernsthafte Gedanken über so etwas wenn er mit dem Partner im Bett liegt.

    1. Jemand sagte mal: Politik besteht nicht selten darin, einen simplen Tatbestand so zu komplizieren, dass alle nach einem neuen Vereinfacher rufen. Beim Leben ist das recht ähnlich.

      1. Die einfachste Lösung ist immer die beste. Nur Pech, wenn sie sich nachher als Schwindel erweist. Dann gibt es Beschämte oder Betrogene oder Tote.

  3. Mein Ex-Freund fuhr immer so, dass ich nie sicher sein konnte die Autofahrt zu überleben. Irgendwann gewähnt man sich tatsächlich auch daran.

    1. Spät, ja. Zu spät? Die Literatur ist voller verbitterter alter Frauen und Männer, die im Umgang mit Kindern zu leben lernen. Aber das ist vielleicht mehr Dramaturgie als Realität.

    2. Jeder so wie er (oder sie) kann. Manche lernen schnell, manche brauchen ein ganzes Leben. Rezepte helfen manchmal, eine Garantie sind sie nicht.

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